Fragen und Antworten zur Syrischen Revolution

Ein Interview mit Michael Pröbsting, Revolutionär-Kommunistischen Internationalen Tendenz (RCIT), 30.5.2017, www.thecommunists.net

 

 

 

Im Folgenden veröffentlichen wir ein Interview mit Michael Pröbsting, Internationaler Sekretär der Revolutionär-Kommunistischen Internationalen Tendenz (RCIT). Michael Pröbsting ist seit langem aktiv in der Solidaritätsarbeit für die Syrische Revolution sowie für den Freiheitskampf der unterdrückten Völker in Palästina, Ägypten, dem Irak und anderen Ländern.

 

 

 

Frage: Wo steht heute die Syrische Revolution?

 

Antwort: Die Syrische Revolution ist heute in einer außergewöhnlich schwierigen Lage. Die Gefahr ist sehr groß, dass die Großmächte Russland und USA und die Regionalmächte Iran und Türkei das Land aufteilen und Assad dabei helfen, die Syrische Revolution zu erwürgen.

 

Frage: Ist das eurer Meinung nach das Ziel des Astana-Abkommens?

 

Antwort: Ja. Dieses Abkommen ist ein schwerer Schlag gegen die Syrische Revolution. Mit diesem Abkommen wird das Land aufgeteilt (die sogenannten "Deeskalationszonen"). Damit wird ebenso die Besetzung des Landes durch ausländische Truppen gerechtfertigt. Und mit dem Astana-Abkommen wird auch der Kampf gegen sogenannte "Terroristen" gerechtfertigt. Doch diese "Terroristen" sind in Wirklichkeit wichtige Teile des Freiheitskampfes gegen die Assad-Diktatur sind (z.B. Hayyat Tahrir al-Sham und andere). Daher sagt die RCIT: Alle Kräfte des syrischen Freiheitskampfes müssen das Astana-Abkommen uneingeschränkt verurteilen. Wir fordern alle Fraktionen auf, die an den Verhandlungen in Astana teilnehmen, dies umgehend zu beenden und Astana zu verlassen.

 

Frage: Aber müssen die Revolutionäre nicht an solchen Verhandlungen teilnehmen wenn sie schwach sind?

 

Antwort: Wir wissen, dass die syrische Revolution heute in einer schwachen Position ist. Manchmal kann es notwendig sein, einen Rückzug zu machen. Manchmal kann man gezwungen sein, befreite Gebiete aufzugeben. Oder vielleicht sogar wieder in den Untergrund zu gehen. Aber es ist für wirkliche Revolutionäre vollkommen unzulässig, den Kampf gegen die Assad-Diktatur aufzugeben. Es ist für wirkliche Revolutionäre vollkommen unzulässig, den Großmächten bei der Besetzung Syriens zu helfen. Es ist für wirkliche Revolutionäre vollkommen unzulässig, Assad und den Großmächten dabei zu helfen, andere Freiheitskämpfer zu ermorden. All jene Führer, die so etwas tun, sind Verräter an der Syrischen Revolution.

 

Frage: Was sind eurer Meinung nach die Ursachen für die Rückschläge der Syrischen Revolution?

 

Antwort: Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Zu den wichtigsten Ursachen zählen:

 

1) Die Orientierung vieler Führer der verschiedenen Fraktionen auf die Hilfe von Groß- und Regionalmächten. Die Führer vieler Fraktionen haben sich von den USA, von der Türkei, von Saudi-Arabien oder Katar Geld und Waffen erhofft. Dafür waren sie bereit, deren Wünschen und Interessen entgegenzukommen. Diese Politik hat verhindert, dass sich die Syrische Revolution mit dem Freiheitskampf anderer Völker im Nahen Osten verbinden konnte! Diese Politik hat auch dazu geführt, dass der Widerstand in viele konkurrierende Fraktionen zersplittert ist.

 

2) Das Fehlen eines Programmes der konsequenten Demokratie und der sozialen Revolution. Die Syrische Revolution kann nur siegen, wenn sie Herzen und Hirne der breiten Massen gewinnt. Dazu muss sie glaubwürdig für eine radikale Demokratisierung eintreten. Das beinhaltet nicht nur die Beseitigung Assads, sondern die Zerschlagung des gesamten Staatsapparats. Das beinhaltet auch, dass der Staat nicht mit einer religiösen Strömung verbunden ist und sich nicht in religiösen Angelegenheiten einmischt. Alle Religionsgruppen müssen das Recht haben, ihren Glauben auszuüben. Ebenso müssen alle Völker das Recht auf nationale Selbstbestimmung haben. Weiters wollen wir die völlige Gleichberechtigung der Frauen. Schließlich darf sich nicht eine kleine Minderheit von Geschäftsleuten auf Kosten des Volkes bereichern. Alle großen Betriebe und Ländereien müssen enteignet werden, damit sie den Interessen des gesamten arbeitenden Volkes dienen und von diesem kontrolliert werden.

 

3) Eine Politik des Sektierertums. Viele Kräfte verfolgen eine Politik, die die sunnitischen Araber auf Kosten anderer ethnischer und religiöser Gruppen bevorzugt. Natürlich stimmt es, dass unter Assad die sunnitischen Araber – die 60% der Gesamtbevölkerung ausmachen – benachteiligt wurden. Aber eine sektiererische Politik treibt viele Kurden in die Arme der USA und viele Alawiten, Schiiten, Christen usw. in die Arme Assads. Nur durch eine klar nicht-sektiererische, demokratische Politik kann die Unterstützung des gesamten arbeitenden Volkes für die Revolution gewonnen werden.

 

4) Der unfertige Charakter der lokalen Koordinationsräte und der Milizen. Zwar gibt es noch immer viele lokale Koordinationsräte. Aber sie können oft nicht uneingeschränkt die Macht ausüben, sondern müssen sie mit verschiedenen Milizen teilen. Außerdem werden sie nicht auf demokratischen Versammlungen aller Arbeiter, Bauern und Milizionäre gewählt und sind nicht jederzeit abwählbar. Darüberhinaus stehen die bewaffneten Milizen nicht unter Kontrolle des arbeitenden Volkes, sondern werden von einigen Führern und deren Sponsoren kontrolliert.

 

Frage: Kann die UNO dem syrischen Volk helfen?

 

Antwort: Nein. Die UNO ist eine ohnmächtige Quatschbude. Sie wird beherrscht von fünf imperialistischen Großmächten: USA, Russland, China, Britannien und Frankreich. Das sind alles Großmächte, die eine lange Geschichte der Unterdrückung der Völker haben – sei es in ihren Kolonien oder im eigenen Land. Jeder Beschluss der UNO ist entweder eine bedeutungslose rhetorische Geste (wie die zahlreichen Verurteilungen von Israel beweisen) oder dient nur den Interessen der Großmächte (wie z.B. der Krieg und die Sanktionen gegen den Irak). Das syrische Volk kann sich nichts Gutes von der UNO erwarten. Wir lehnen daher auch die Beteiligung an den UNO-Friedensverhandlungen in Genf ab.

 

Frage: Ist der türkische Präsident Erdoğan ein Freund der Syrischen Revolution?

 

Antwort: Nein. Erdoğan ist zuallererst ein Freund seiner eigenen Macht. In zweiter Linie ist er ein Freund Putins und Trumps – die beide anti-muslimische Rassisten und autoritäre Herrscher sind. Wenn es seinem Bestreben nach mehr regionaler Macht nützt, unterstützt Erdoğan die eine oder andere Fraktion der syrischen Rebellenmilizen. Aber Erdoğan ist jederzeit bereit, sie zu verkaufen oder sogar zu bekämpfen, wenn es seinen Interessen dient. Durch die Unterzeichnung des Astana-Abkommen hat sich Erdoğan bereit erklärt, bei der gewaltsamen Unterdrückung der Syrischen Revolution zu helfen. Er ist gewillt – gemeinsam mit Russland und dem Iran – gegen jene syrischen Freiheitskämpfer vorzugehen, die den Kampf gegen die Assad-Diktatur weiterführen wollen (wie z.B. Hayyat Tahrir al-Sham und viele andere Fraktionen).

 

Frage: Was ist die Haltung der RCIT zur Lage der Kurden im Norden Syriens?

 

Antwort: Wir anerkennen, dass das kurdische Volk bislang diskriminiert und unterdrückt wurde. Wir unterstützen daher sein nationales Recht auf Selbstbestimmung. Wenn die Kurden im Rahmen einer Autonomieregelung in einem freien Syrien leben wollen, sollen sie diese Möglichkeit bekommen. Wenn sie lieber in einem eigenen kurdischen Staat leben wollen, muss man das ebenso respektieren.

 

Frage: Wie schätzt die RCIT die Tätigkeit der PYD/YPG ein?

 

Antwort: Die PYD/YPG ist – ebenso wie die PKK in der Türkei – eine kleinbürgerlich-nationalistische Organisation. Sie ist einerseits ein Ausdrucks des berechtigten Wunsches des kurdischen Volkes nach Selbstbestimmung. Andererseits aber handelt die PYD/YPG immer mehr als Fußtruppe des US-amerikanischen Imperialismus und hilft bei der Eroberung arabischer Gebiete in Norden Syriens. Deswegen können die Aktionen der PYD/YPG heute nicht mehr unterstützt werden.

 

Frage: Wie schätzt ihr die verschiedenen Fraktion des syrischen Freiheitskampfes ein?

 

Antwort: Wir stehen mit ganzen Herzen auf der Seite der zehntausenden Kämpfer und respektieren zutiefst ihren Beitrag zum Freiheitskampf. Wir stehen aber sehr kritisch den Führern von FSA, Hayyat Tahrir al-Sham, Ahrar al-Sham, Jaysh al-Islam usw. gegenüber. Diese orientieren sich zu sehr auf die Unterstützung durch Groß- und Regionalmächte. Sie beteiligen sich teilweise an den verräterischen Verhandlungen in Astana. Sie betreiben teilweise eine religiös-sektiererische Politik. Sie provozieren zum Teil schädliche Kämpfe zwischen den Fraktionen untereinander. Anstatt die Waffen in den Dienst des Volkes zu stellen, nützen sie ihr Monopol auf Waffen dazu aus, um zu kleinen Sultanen in einem lokalen Gebiet zu werden und dabei Geschäfte zu machen.

 

Frage: Unterstützt ihr die säkularen Kräfte mehr als die religiösen Strömungen im syrischen Freiheitskampf?

 

Antwort: Unsere Haltung gegenüber dem Freiheitskämpfern orientiert sich an der praktischen Rolle, die sie gegenüber dem eigenen Volk, dem Regime von Assad und den Großmächten spielen. Wir leiten daraus ab, welche Kräfte wir unterstützenwert finden und welche eben nicht. Die Frage ob säkular oder religiös ist dafür nicht entscheidend. Vergessen wir nicht, daß der Schlächter des syrischen Volkes, Assad selbst als säkular gilt. Das syrische Volk hat unter seiner Diktatur aber bitter gelitten und versucht ihn mit aller Kraft zu besiegen. Im Namen der Säkularität wird oft gerechtfertigt, Diener der imperialistischen USA oder Rußland zu sein. Und die schlimmsten Verbrechen werden oft von Großmächten und Diktatoren verübt, die sich als säkular bezeichnen. Deswegen ist eine säkulare Bewegung nicht automatisch fortschrittlicher als eine religiöse. Wir finden eine Trennung von Staat und Religion richtig, aber im heutigen Freiheitskampf sind andere Fragen vordringlicher.

 

Frage: Wie sagt ihr zu den "Kommunistischen" Parteien die heute in Syrien existieren? Ihr bezeichnet euch ja auch als Kommunisten.

 

Antwort: Die großen "Kommunistischen" Parteien sind Teil der Regierung von Assad. Sie haben nichts mit wirklichem Kommunismus zu tun. Sie sind Verräter und Feinde der Revolution. Es gibt auch eine Reihe von sogenannten Muslimen, die Assad, General Sisi in Ägypten, Putin oder Trump dabei helfen, die muslimischen Völker zu unterdrücken. Genauso ist das bei den Kommunisten. Es gibt Pseudo-Kommunisten und wirkliche Kommunisten. Die RCIT haben nichts mit diesen verräterischen Pseudo-Kommunisten zu tun. Im Unterschied zu diesen sind wir revolutionäre Kommunisten – wir sind Kommunisten, die für die Revolution kämpfen!

 

Frage: Was sollte eurer Meinung nach das Ziel des syrischen Freiheitskampfes sein?

 

Antwort: Die RCIT ist der Meinung, dass Syrien nur dann wirklich frei wird, wenn der ganze Staatsapparat von Assad beseitigt wird, wenn die kleine Elite von reichen Geschäftsleuten und Generälen enteignet und ihr Reichtum in den Dienst des gesamten arbeitenden Volkes gestellt wird, wenn alle ausländischen Mächte aus Syrien vertrieben werden. Das ist nur möglich, wenn die Milizen in wirkliche Volksmilizen umgewandelt werden. Das ist nur möglich, wenn aus den lokalen Koordinationsräten wirkliche Arbeiter- und Bauernräte werden und diese die alleinige Macht ausüben. Der Freiheitskampf muss das Ziel haben, dass Assad gestürzt und eine Regierung der Arbeiter und Unterdrückten die Macht ergreift. Das zentrale Problem heute besteht darin, dass in Syrien keine Partei existiert, die wirklich für ein solches Programm eintritt. Die RCIT ruft alle wirklichen Revolutionäre auf, eine solche Partei als Teil einer revolutionären internationalen Organisation aufzubauen.

 

Frage: Ist eurer Meinung nach die Syrische Revolution bereits besiegt?

 

Antwort: Nein. Die Revolution lebt und kämpft. Sie lebt in den befreiten Gebieten in Idlib, Homs, Damaskus, Daraa usw. Sie lebt in den Herzen der Unterdrückten, die heute unter den Herrschaft Assads leiden oder zu Flüchtlingen wurden. Aber leider stehen wir kurz davor, dass sich Russland, USA, Türkei und Iran auf eine Aufteilung und Besetzung Syriens einigen und Assad an der Macht bleibt. Die Gefahr ist sehr groß, dass sie bei diesem Plan von den Führern einiger Milizen unterstützt werden. Diese Milizen könnten dann gemeinsam mit der türkischen Armee die Waffen gegen die Revolutionäre richten, die die Astana-Verschwörung ablehnen und den Kampf gegen Assad weiterführen wollen.

 

Frage: Was werdet ihr in einer solchen Situation tun?

 

Antwort: Die RCIT wird in einer solchen Situation alle Kräfte unterstützen, die die Syrische Revolution gegen die Diktatur von Assad weiterführen wollen und die daher gegen das Astana-Abkommen kämpfen. Wir werden jene unterstützen, die die sogenannten "Deeskalationszonen" und die Besatzung durch ausländische Truppen ablehnen.

 

Frage: Wie kann eurer Meinung nach der Syrischen Revolution international geholfen werden?

 

Antwort: Wir treten für den Aufbau einer internationalen Bewegung in Solidarität mit der Syrischen Revolution ein. Eine solche Bewegung soll gleichzeitig auch die Freiheitskämpfe alle unterdrückten Völker unterstützen: in Palästina gegen Israel, in Ägypten gegen General Sisi, im Irak gegen die Regierung von al-Abadi, in Jemen gegen die Invasion von Saudi-Arabien usw. Eine solche Bewegung muss von den Arbeitern und Unterdrückten getragen werden – nicht von den Regierungen und Staaten, in denen nur die Reichen und Mächtigen das Sagen haben. In diesem Sinne ist es wichtig, Solidaritätsdemonstrationen und andere Aktionen zu organisieren. Ebenso ist es wichtig praktische Solidarität zu zeigen durch das Sammeln von Spenden, Boykottaktionen von Hafenarbeitern gegen Waffenlieferungen an Assad, und vieles mehr. Darüberhinaus lehnen wir es ab, daß Aktivisten, die nach Syrien gehen um dort den Freiheitskampf zu unterstützen, in Europa bestraft und verfolgt werden. Im Gegenteil, es wäre gerade jetzt wichtig, eine internationale Solidaritätsbrigade von Aktivisten zu organisieren, die die syrische Revolution unterstützen.