Solidarität mit Tschetschenien! (Aus unserem Archiv)

Nach dem Massaker der russischen Armee in Beslan (2004)

 

Nein zum Terrorismus! Solidarität mit dem tschetschenischen Freiheitskampf!

 

Von Michael Pröbsting

 

 

 

Vorwort der Redaktion: Im Folgenden veröffentlichen wir einen Artikel von Michael Pröbsting über den Freiheitskampf des tschetschenischen Volkes. Dieser wurde erstmals im Oktober 2004 von der Organisation "ArbeiterInnenstandpunkt" veröffentlicht. Dies war die österreichische Sektion der Liga für eine revolutionär-kommunistische Internationale (LRCI) – der Vorläuferorganisation der 2011 gegründeten Revolutionär-Kommunistische Internationale Tendenz (RCIT). Genosse Pröbsting war damals führendes Mitglied von ASt und LRCI und ist heute Internationaler Sekretär der RCIT.

 

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Nach dem Massaker in Beslan hält Rußland und Welt den Atem an. 400-600 Menschen dürften dem verheerenden Sturm der russischen Spezialeinheiten zum Opfer gefallen sein. Doch während viel über die Geiselnahme berichtet wird, geht der Hintergrund dieser Ereignisse weitgehend unter.

 

Die hirnlose Brutalität, mit der die russische Armee in Beslan vorging, hat Tradition. Bei den Geiselnahmen von Budjonowsk 1995 schossen die russischen Soldaten wahllos in die Menge. Bei der nächsten Aktion 1996 in Perwomaiskoje gingen die sogenannten Spezialeinheiten sogar mit den verheerenden GRAD-Raketen gegen die tschetschenischen Widerstandskämpfer und ihre Geisel vor und legten das gesamte Dorf in Schutt und Asche.

 

Und viele von uns erinnern sich wohl noch an den Oktober 2002, wo in einem Moskauer Theater 800 Menschen festgehalten wurden. Weitaus brutaler als die Geiselnehmer gingen die russischen Spezialeinheiten auf Geheiß von Präsident Putin vor. Mit verheerender Bilanz: 41 tote Geiselnehmer, 129 tote Geiseln, die großteils dem von den Polizeikräften verwendeten „Betäubungs“-Gas zum Opfer fielen. Ein Mitglied des Alpha-Elitekommandos meint dazu, dass dies kalkuliert gewesen und man sogar mit bis zu 200 Toten gerechnet habe. (1)

 

In den beiden letzten Wochen gab es nun eine Reihe von terroristischen Aktionen seitens der tschetschenischen FreiheitskämpferInnen. Zwei Flugzeuge wurden in die Luft gesprengt, vor einer U-Bahnstation sprengte sich eine Widerstandskämpferin in die Luft. Und in Grosny verkleideten sich Guerillas als Polizisten, errichteten eine Straßensperre und erschossen jeden anhaltenden russischen Besatzer bzw. deren tschetschenische Kollaborateure. Und jetzt, bei ihrer spektakulärsten Aktion vergangene Woche, nahmen sie rund 1.000 Schüler und Erwachsene in einer Schule in Nord-Ossetien als Geisel.

 

Hintergrund

 

Während sich die bürgerlichen Journalisten in Spekulationen über die „Grausamkeit der Terroristen“ ergehen, liegen die tieferen Hintergründe für jeden ersichtlich auf dem Tisch. Solche Aktionen wie die Geiselnahme von Kindern in Beslan sind pure Verzweiflungstaten jener, die kein anderes Mittel des Widerstandes sehen als den Terrorismus. Ihr Ursprung ist nicht ein teuflischer Plan von al-Qaida – welcher Terroranschlag wird mittlerweile NICHT Osama bin Laden zugeschrieben?! -, sondern geht auf den systematischen, umfassenden Völkermord des russischen Imperialismus gegen die Tschetschenen zurück.

 

In Tschetschenien leben – oder besser gesagt lebten – Mitte der 1990er Jahre ca. eine Million Menschen. Während des ersten Tschetschenien-Krieg 1994-96 ermordete die russische Armee ungefähr 100.000 Tschetschenen – das sind 10% der Gesamtbevölkerung! Unzählige trugen Verletzungen und Verstümmelungen davon. 200.000 wurden aus ihren Heimatorten vertrieben und weitere 200.000 ins Ausland. Kurz und gut, rund die Hälfte aller Tschetschenen wurde im ersten Krieg entweder ermordet oder vertrieben. Im zweiten Krieg, den Rußland Ende 1999 begann und der bis heute andauert, hat das Regime in Moskau die Medien viel besser im Griff, weswegen die Informationen über das staatsterroristische Morden weitaus geringer sind. Aber angesichts offizieller russischer Angaben von über 10.000 getöteten „Terroristen“ kann man davon ausgehen, das bislang zumindest mehrere zehntausend – wahrscheinlich jedoch viel mehr! – Zivilisten und Rebellen getötet wurden. Und ohne Zweifel wurde wieder einmal ein großer Teil der Bevölkerung vertrieben. Die Hauptstadt Grosny gleicht einer Geisterstadt – kaum ein Haus, daß nicht zerstört oder beschädigt ist. Viele Dörfer wurden von der Armee und insbesondere den „Kontraktni“ – den Söldnern – dem Erdboden gleichgemacht.

 

Erst wenn man sich diesen Hintergrund – die Zerstörung der gesamten tschetschenischen Gesellschaft – vor Augen hält, kann man solche Verzweiflungsaktionen wie jene in Beslan verstehen. Die Tschetschenen haben nichts mehr zu verlieren und angesichts der Auslöschung ihrer Lebensgrundlagen durch die Schergen des bürgerlichen Putin-Regimes sehen sie keinen anderen Weg als zu den Mitteln des Terrorismus zu greifen. Deswegen sitzen die politischen Verantwortlichen für die Tragödie in Moskau nicht in den Bergen Tschetscheniens oder gar Afghanistans, sondern im Kreml.

 

Gerechte Ziele – falsche Methode

 

Im ganzen Medienrummel gingen die Forderungen der tschetschenischen Kämpfer vollkommen unter. Dabei waren sie so einfach wie gerecht: „Freilassung der gefangenen Tschetschenen“ und „Rückzug der russischen Armee aus Tschetschenien“. Welcher Demokrat und welche Sozialistin könnte diese gerechten Forderungen nicht unterstützen?!

 

Natürlich streben wir eine Gesellschaft an, in der alle Grenzen – und Klassen - aufgehoben werden. Aber wir sind keine politisch Blinden wie die Antinationalen und erkennen daher an, dass sich in unserer Gesellschaft bestimmte Bevölkerungsgruppen als „Volk“ definieren und bestimmte nationale Merkmale tragen. Und ebenso wenig verschließen wir die Augen vor der nationalen Unterdrückung, die ein wesenseigenes Merkmal unserer Epoche des Imperialismus ist. Wir unterstützen daher das Recht auf nationale Selbstbestimmung.

 

Erst wenn man zuerst einmal die grundlegenden, zutiefst demokratischen Forderungen des tschetschenischen Volkes nach sofortigen Abzug der russischen Besatzungsmacht und dem Recht auf nationale Selbstbestimmung – inklusive dem Recht auf einen eigenen, unabhängigen Staat – anerkennt und unterstützt, erst dann kann man sich kritisch mit den Methoden des Widerstandes auseinandersetzen.

 

Und hier ist in der Tat sehr viel Kritik nötig. Wir, der ArbeiterInnenstandpunkt, sind Marxisten. Daher wissen wir aus geschichtlicher Erfahrung, daß eine unterdrückte Klasse und ein unterdrücktes Volk seine Herrscher in der Regel nur mit Gewalt abschütteln können. In Situationen wie in Palästina, dem Irak oder in Tschetschenien halten wir bewaffnete Widerstandsaktionen durchaus für ein legitimes und geeignetes Mittel, um den Befreiungskampf voran zu treiben. Man kann getrost davon ausgehen, daß der Großteil der tschetschenischen Bevölkerung den Widerstand nicht als Einzeltaten weniger Spinner oder Fanatiker sieht, sondern als Versuche, ihre Freiheit zu erlangen.

 

Gerade deswegen jedoch lehnen wir solche Aktionen wie die Geiselnahme in Beslan entschieden ab. Sie sind Wasser auf den Mühlen des reaktionären Putin-Regimes und all der bürgerlichen Hetzer gegen „den Terrorismus“. Gibt es einen besseren Public-Relations-Coup für die anti-moslemischen Einpeitscher, als moslemische Terroristen zu zeigen, die kleine Kinder als Geisel nehmen?!

 

Die zutiefst reaktionären Auswirkungen des Geiseldramas zeigten sich gestern bei den von Gewerkschaften mitorganisierten Massendemonstrationen in Moskau mit angeblich 130.000 Teilnehmern, die unter anderem unter den Losungen stand: "Russland gegen den Terror", "Verdammt die Unmenschen", "Mit Terroristen nur mit Kugeln verhandeln". Diese Demonstration ist trotz Gewerkschafts- und Arbeiterbeteiligung reaktionär, da sie sich chauvinistisch auf die Seite der nationalen Unterdrücker stellt. Dieses Ergebnis zeigt, das es keineswegs eine nebensächliche Frage ist, welche Methoden im nationalen Befreiungskampf gewählt werden!

 

Reaktionärer islamistischer Terrorismus

 

Höchstwahrscheinlich steckt nicht al-Qaida, sondern die radikale, islamistische Strömung des tschetschenischen Widerstandes um Shamil Bassejew hinter der Aktion in Beslan. Dieser legendäre tschetschenische Widerstandsführer spielte bereits während des ersten Tschetschenien-Krieges eine herausragende Rolle. Im Unterschied zum gewählten Präsidenten Tschetschenien Mashkadow strebt er nicht einen Kompromiß mit dem Putin-Regime an, sondern organisiert einen unnachgiebigen Guerillakampf gegen die Besatzung.

 

Doch auch der konsequenteste Widerstandskampf muß letztlich in eine reaktionäre Richtung abgleiten, wenn er sich nicht auf einen organisierten Massenkampf der ArbeiterInnen und Bauern stützt. Bassajews Weg ist der des ländlichen Guerillakampfes und seine soziale Basis sind die Clans im Süden Tschetschenien (v.a. um Vedeno). Die Verzweiflung und Perspektivlosigkeit des Widerstandes haben die kleinbürgerlichen Kräfte um Bassajew den Weg des Islamismus und des Kampfes für die Errichtung eines unabhängigen Tschetscheniens basierend auf dem reaktionären Sharia-Recht beschreiten lassen. Diese Mischung von entschlossenen Widerstand und verzweifelter reaktionärer Utopie macht die Bassajew-Strömung zum Attraktionspol aller Verzweifelten und Gedemütigten, all jener Tschetschenen, die nichts mehr zu verlieren haben, deren Familien von der russischen Soldateska vergewaltigt, entführt oder ermordet wurde, kurz: all jener, für die es nur noch die Welt der Apokalypse gibt und die daher entschlossen sind, diese Apokalypse zurückzuschleudern in das Herrschaftsgebiet seiner Verantwortlichen. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß es in fast jeder tschetschenischen Familie solche Verzweifelte gibt.

 

Deswegen verurteilen wir solche terroristischen Aktionen wie jene in Beslan. Aber wir sagen auch unmißverständlich, daß die politisch Verantwortlichen für diese Tragödien im Kreml und nicht in Tschetschenien sitzen!

 

Der Kaukasus zeigt das Elend und die Vernichtung, das die Wiedereinführung des Kapitalismus in der ehemaligen Sowjetunion angerichtet hat. Eine kleine Clique von Finanzhaien und Raubrittern hat sich die Reichtümer der Gesellschaft unter den Nagel gerissen und die Bevölkerung ausgeplündert. Solange diese kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse existieren, gibt es keine Perspektive für die Völker des Kaukasus, ja, aller Völker der ehemaligen Sowjetunion!

 

Doch der reaktionäre Islamismus hat dem tschetschenischen Volk keine Perspektive zu bieten. Nur ein Zusammenschluß der Völker des Kaukasus, basierend auf dem Prinzip der Freiwilligkeit, und auf der Grundlage der Überwindung des kapitalistischen Chaos kann einen Ausweg aus der Apokalypse bieten. Für eine freiwillige, sozialistische Föderation der Kaukasus-Völker!

 

Man kann davon ausgehen, daß das reaktionäre Putin-Regime das Geiseldrama von Beslan als Vorwand für einen neuen Vernichtungsfeldzug in Tschetschenien nimmt. Gerade deswegen ist unsere Solidarität als Marxisten, als Internationalisten, als Demokraten mit dem Freiheitskampf des tschetschenischen Volkes wichtiger denn je.

 

  • Sofortiger Abzug der russischen Truppen aus Tschetschenien!
  • Solidarität mit den Komitees von Soldatenmüttern, die desertierende russische Soldaten unterstützen!
  • Organisiert Solidaritätsaktionen mit dem tschetschenischen Freiheitskampf!
  • Freiheit für Tschetschenien!
  • Für eine freiwillige, sozialistische Föderation der Kaukasus-Völker!

 

 

 

Fußnoten:

 

(1): Tagesschau. http://www.tagesschau.de/aktuell/meldungen/0,1185,OID1235584_TYP6_THE1224570_NAV1224570_REF_BAB,00.html

 

 

 

Hände weg von Tschetschenien! (1999)

 

von Michael Pröbsting

 

 

 

Vorwort der Redaktion: Im Folgenden veröffentlichen wir einen Artikel von Michael Pröbsting über den Freiheitskampf des tschetschenischen Volkes. Dieser wurde erstmals im Oktober 1999 in der Zeitung "ArbeiterInnenstandpunkt" (Nr. 102) – dem Organ der gleichnamigen Organisation – veröffentlicht. Dies war die österreichische Sektion der Liga für eine revolutionär-kommunistische Internationale (LRCI) – der Vorläuferorganisation der 2011 gegründeten Revolutionär-Kommunistische Internationale Tendenz (RCIT). Genosse Pröbsting war damals führendes Mitglied von ASt und LRCI und ist heute Internationaler Sekretär der RCIT.

 

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Das wochenlange Bombardement von und der Einmarsch der russischen Truppen in Tschetschenien haben eine massive Flüchtlingswelle ausgelöst. Innerhalb von wenigen Tagen wurden mehr als 125.000 Menschen - das ist ca. 1/8 der gesamten Bevölkerung - zur Flucht gezwungen.

 

Die herrschende Elite in Moskau behauptet, sie wäre gezwungen, gegen islamische Terroristen vorzugehen. Was für eine Lüge! Sie führt einen Krieg gegen das gesamte tschetschenische Volk! Rußlands Machthaberen versuchen in Wirklichkeit, mit der Entfachung des großrussischen Chauvinismus und dem Kriegsbeginn von der massiven innenpolitischen Krise abzulenken. Das Jelzin-Regime ist in den Augen der Bevölkerung zutiefst verhaßt, die neureichen KapitalistInnen und ihr neoliberales Wirtschaftssystem sind völlig diskreditiert und die politische Elite ist in ausufernde Fraktionskämpfe verstrickt. In dieser Situation soll ein Krieg das Regime vor dem Untergang retten. Darüberhinaus will Moskau durch die neuerliche Unterwerfung Tschetscheniens seinen Zugriff auf die Erdölvorkommen und -pipelines im Kaukasus absichern.

 

Der großrussische Chauvinismus hat im Kaukasus eine lange und blutige Tradition. Während des II. Weltkrieges deportierte Stalin die Tschetschenen. Erst in einem heroischen nationalen Befreiungskrieg 1994-96 - bei dem 80.000 Tschetschenen und 11.000 russische Soldaten ihr Leben verloren - konnte das Land seine Unabhängigkeit durchsetzen.

 

Doch die massiven Schäden - für die Rußland keinen Rubel Entschädigung zahlte - und die allgemeine Rückständigkeit des kleinen Landes haben Tschetschenien zu einem der ärmsten Staaten der Region gemacht. Aber auch die rücksichtslose Plünderung des Landes durch das tschetschenische Maschkadow-Regime und verschiedene korrupte, islamistische Feldkommandanten haben Tschetschenien noch mehr in den Ruin getrieben. Diese KapitalistInnen und Kriegsherren versuchen, sich auf Kosten der ArbeiterInnen und Bauern zu bereichern.

 

Als proletarische Internationalisten lehnen wir jede nationale Unterdrückung ab. Schon Marx stellte fest: “Ein Volk, daß ein anderes unterdrückt, kann nicht selbst frei sein.” Wir verteidigen daher den Unabhängigkeitskampf Tschetscheniens gegen die russische Armee. Aber wirklich frei können die tschetschenischen ArbeiterInnen sowie Bäuerinnen und Bauern nur dann sein, wenn nicht die Maschkadows und Bassajews an der Spitze des Landes stehen, sondern sie selbst die Macht ergreifen!

 

 

 

Solidarität mit Tschetschenien! (1996)

Schluß mit der russischen Besatzung!

 

 

von Michael Pröbsting

 

 

 

Vorwort der Redaktion: Im Folgenden veröffentlichen wir einen Artikel von Michael Pröbsting über den Freiheitskampf des tschetschenischen Volkes. Dieser wurde erstmals im September 1996 in der Zeitung "ArbeiterInnenstandpunkt" (Nr. 78) – dem Organ der gleichnamigen Organisation – veröffentlicht. Dies war die österreichische Sektion der Liga für eine revolutionär-kommunistische Internationale (LRCI) – der Vorläuferorganisation der 2011 gegründeten Revolutionär-Kommunistische Internationale Tendenz (RCIT). Genosse Pröbsting war damals führendes Mitglied von ASt und LRCI und ist heute Internationaler Sekretär der RCIT.

 

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Seit fast zwei Jahren versucht die großrussische Kreml-Mafia unter Präsident Jelzin, die Republik Tschetschenien in die Knie zu zwingen. Ohne Erfolg. Die Rückeroberung der Hauptstadt Grosny durch die tschetschenischen Freiheitskämpfer am 6.August verdeutlichte den ungebrochenen Willen dieses kaukasischen Volkes auf nationale Selbstbestimmung.

 

Trotz aller internen Machtkämpfe im Kreml ist keine Fraktion der russischen Bürokratie und der neureichen Bourgeoisie gewillt, dem tschetschenischen Volk ernsthaft das Recht auf einen eigenen Staat zuzugestehen. Zu sehr fürchten die Machthaber, daß sich der Virus der Unabhängigkeit auf andere Völker in der mit dem Kainsmal der nationalen Unterdrückung gezeichneten Russischen Föderation ausbreiten könnte. Zu sehr will der Kreml die Kontrolle über dieses Land behalten, daß zentrale Bedeutung für dessen Erdölexporte besitzt.

 

Aus diesen Gründen brach Jelzin Ende 1994 einen mörderischen Unterwerfungskrieg vom Zaun, der bis dato mehr als 30.000 Tote forderte. Aus diesen Gründen sind die großrussischen Armee-Gorillas - auf die die unheilige Dreifaltigkeit überdurchschnittliches Selbstbewußtsein, mittelmäßiger Charakter, unterdurchschnittliche Intelligenz zutrifft - bereit, Grosny in Schutt und Asche zu legen und alleine in den letzten Tagen 45.000 Menschen zur Flucht zu treiben. Die schwerbewaffneten Kampfhubschrauber, die in niedriger Höhe fliegend Flüchtlingskolonnen beschießen, sind zum Symbol für die Politik des nackten Terror der Kreml-Generäle geworden.

 

Wie ist es also möglich, daß sich ein so kleines - weniger als eine Million zählendes - Volk wie die Tschetschenen gegen die Großmacht Rußland behaupten kann? Die Erklärung muß im Prozeß der Wiedereinführung des Kapitalismus gesucht werden. Die gesamte marktwirtschaftliche Reformpolitik Jelzins seit 1992 hat zwar einer raffgierigen Kapitalistenklasse unermeßlichen Reichtum gebracht, mit dem diese selbst in Paris und London beeindrucken können. Für die ArbeiterInnenklasse und die Wirtschaft insgesamt bedeutete sie jedoch eine einzige Katastrophe. Millionen wurden in Armut gestürzt, das Bruttoinlandsprodukt fiel in den letzten Jahren um nahezu die Hälfte. Dies blieb nicht ohne Folgen für die Armee. Immer wieder wird von Hungertoten in den russischen Kasernen berichtet. Die einfachen Soldaten verkaufen ihre Waffen, um ein Stück Brot zu bekommen. Die Offiziere organisieren eine schwunghaften und profitablen Handel mit Beständen ihrer Einheiten. Der Alkoholismus erreicht in den Kasernen dieses nicht gerade für seine Abstinenz bekannten Landes besondere Exzesse. Brutalität und Schinderei gegenüber den Rekruten ist bei den Offizieren hoch angeschrieben. Es bedarf keiner großen Phantasie um zu verstehen, daß diese Armee zutiefst demoralisiert ist und seine Soldaten kaum gewillt sind, für dieses Vaterland der Armut und der Korruption zu sterben. Im Gegensatz dazu wissen die Tschetschenen, wofür sie kämpfen. Sie haben eine jahrhundertelange Tradition des Kampfes für ihre Unabhängigkeit.

 

Der endlose Fraktionskampf und die Zerrissenheit innerhalb des Kremls wiederspiegelt nur die Zerrissenheit des absterbenden russischen ArbeiterInnenstaates. Doch der Machtkampf zwischen Lebed einerseits und der alten Kriegspartei - momentan repräsentiert durch Innenminister Kulikov - hat tiefere Ursachen als die bloße Zugehörigkeit zu verschiedenen Cliquen. So sehr sie auch in der Unterstützung der kapitalistischen Restauration übereinstimmen, vertreten sie unterschiedliche Konzepte bezüglich der russischen Außenpolitik und Armeereform. Kulikov steht für Rußland als - wenn auch etwas zurechtgestutzten - Weltmacht, dessen militärisch-industrieller Komplex massive Waffenexporte tätigt. Damit zusammenhängend soll die Armee als große Wehrpflichtigenarmee erhalten bleiben - und damit natürlich auch die Posten und Privilegen einer riesigen Kaste von Generälen und Offizieren. Lebed und der von ihm durchgepushte neue Verteidigungsminister dagegen erkennen realistisch, daß Rußland als ein geschwächter Staat sich vorläufig von seiner Rolle als Weltmacht verabschieden muß und stattdessen auf die Aufrechterhaltung oder besser gesagt Einführung der bürgerlichen Ordnung im Inneren konzentrieren müsse. Mit welchen Methoden er dies zu tun gedenkt, kann man daran ermessen, daß er sich als Bewunderer des chilenischen Diktators Pinochet bezeichnet und sich als Bonaparte der kapitalistischen Restauration nach Jelzin anbietet. Dafür wiederum ist eine zerfallende und korrupte Armee wie die heutige völlig untauglich. Lebed strebt daher die Umwandlung in ein kleineres Berufsheer, daß dafür umso schlagkräftiger und besser ausgerüstet wäre. Ein solches Berufsheer würde Lebed ohne mit der Wimper zu zucken gegen Tschetschenien einsetzen.

 

Aber für eine solche Reform braucht Lebed eine Übergangsperiode, in der die Armee frei von solch demütigenden und aufreibenden Einsätzen wie in Tschetschenien ist. Deswegen spielt Lebed gegenwärtig die Friedenstaube, die den Krieg beenden will.

 

Falls sich Lebed im Kreml durchsetzt - wo allerdings weit mehr Gegner als der Innenminister sitzen - und innerhalb der tschetschenischen Führung die Fraktion um Generalstabschef Mashkadov Oberhand gewinnt, ist eine zeitweilige Lösung des "Tschetschenien-Problems" nicht ausgeschlossen. Dies würde weitreichende Autonomierechte für Tschetschenien innerhalb des russischen Staates bedeuten sowie die Sicherung der russischen Kontrolle über die durch das Land führende Erdölpipeline. Eine solche Entwicklung ist momentan angesichts der damit verbundenen Demütigung des Kremls, der geringen Hausmacht Lebeds sowie der durch bittere Erfahrung geschwundende Bereitschaft der Tschetschenen für einen faulen Kompromiß nicht sehr wahrscheinlich.

 

Eine wirkliche Lösung des Krieges ist nur durch die bedingungslose Anerkennung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung möglich. Gerade das erfordert aber auch eine proletarisch-internationalistische Politik - eine Politik der über die nationalen Grenzen hinausgehende Solidarität der Unterdrückten. Hier zeigt sich der reaktionäre Charakter der tschetschenischen Führung, die beispielweise 1991 die Abchasen gegen die Georgier unterstützte und die in den einfachen russischen ArbeiterInnen potentielle Anschlagsziele statt potentielle Bündnispartner für einen gemeinsamen Kampf gegen die Kreml-Herrscher sehen.

 

Gleichzeitig müssen die tieferen Wurzeln der wirtschaftlichen und militärischen 'Apokalypse Now' in Rußland angepackt werden. Das bedeutet einen entschlossenen Kampf gegen die kapitalistische Restauration mit all ihren verheerenden Auswirkungen und für die revolutionäre Errichtung einer wirklichen Arbeitermacht anstatt der stalinistischen Karikatur, wie sie in den vergangenen Jahrzehnten herrschte.

 

Für uns als revolutionäre Kommunisten in Westeuropa heißt proletarischer Internationalismus bedingungslose Solidarität - trotz aller Kritik an den Mashkadovs und Bassajevs - mit dem tschetschenischen Freiheitskampf. Die westliche und gerade auch die russische ArbeiterInnenbewegung muß jetzt diesen Kampf mit allen materiellen und politischen Mitteln unterstützen! Der heuchlerischen Empörung westlicher Journalisten müssen die mannigfachen Taten der praktischen und politischen Solidarität der Clintons, Khols und Schüssels mit dem Verantwortlichen für das Tschetschenien-Massaker Jelzin entgegengehalten werden. Finanzkredite, Geschäfte, weltpolitische Großmachtdeals sprechen eine deutlichere Sprache als ein paar Krokodilstränen für Tschetschenien.

 

Dem Unabhängigkeitskampf des tschetschenischen Volkes gilt unsere ganze proletarisch-internationalistische Solidarität. Mit dem revolutionären Denker der Renaissance Machiavelli rufen wir ihnen zu: "Ihr habt das Recht auf Eurer Seite: denn der Krieg ist gerecht für den, der dazu gezwungen ist, und die Waffen sind heilig, wenn sie die einzige Hoffnung sind."

 

Hände weg von Tschetschenien! (1995)

 

von Michael Pröbsting

 

 

 

Vorwort der Redaktion: Im Folgenden veröffentlichen wir einen Artikel von Michael Pröbsting über den Freiheitskampf des tschetschenischen Volkes. Dieser wurde erstmals im Februar 1995 in der Zeitung "ArbeiterInnenstandpunkt" (Nr. 66) – dem Organ der gleichnamigen Organisation – veröffentlicht. Dies war die österreichische Sektion der Liga für eine revolutionär-kommunistische Internationale (LRCI) – der Vorläuferorganisation der 2011 gegründeten Revolutionär-Kommunistische Internationale Tendenz (RCIT). Genosse Pröbsting war damals führendes Mitglied von ASt und LRCI und ist heute Internationaler Sekretär der RCIT.

 

 

 

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In einem Eroberungskrieg von beispielloser Brutalität gelang es Jelzins Armee, Teile der kaukasischen Republik Tschetschenien zu unterwerfen. Durch ununterbrochenen Bombenterror, vergleichbar jenem in Dresden 1945, konnten sie nach wochenlangen Sturmangriffen und hoher eigener Verluste die Hauptstadt Grozny besetzen. Doch der Krieg geht weiter. Die tschetschenische Armee wird vom Süden des Landes aus und v.a. mittels einer Partisanentaktik den Kampf gegen die großrussischen Besatzer weiterführen.

 

Unsere volle Solidarität gilt dem tschetschenischen Volk und seinem Befreiungskampf. Wir fordern den sofortigen Abzug der russischen Besatzungstruppen. Moskau behauptet, daß der tschetschenische Präsident Dudajew ein Gangster sei. Daran ist was wahres dran. Dudajew übernahm die Macht in der Kaukasus-Republik im Herbst 1991, nachdem er Jelzins Gegencoup im August unterstützte. Er ließ sich kurz darauf zum Präsidenten wählen, ist jedoch alles andere als ein Demokrat. Bald begann er, systematisch jegliche Opposition zu unterdrücken. Doch Jelzin unterscheidet von Dudajew bloß, daß er kein kleiner, sondern ein großer Möchtegern-Diktator ist. Jelzin betreibt eine Politik für eine Klasse von neureichen KapitalistInnen, die ihr Geld fast ausschließlich durch kriminelle Geschäfte, Korruption und Spekulation machen. Sein Verteidigungsminister Grachow hat sich nachweislich Millionen Dollar, die für die Armee bestimmt waren, auf sein privates Bankkonto überweisen lassen. Der bürgerlichen Jelzin-Clique geht es nicht um Kriminalität, sondern um die Unterwerfung einer aufmüpfigen nationalen Minderheit und die Ablenkung von der eigenen Krise. Darüber hinaus besitzt Tschetschenien aufgrund seiner Lage (Erdölpipelines fließen durch das Land) einen hohen geostrategischen Wert.

 

Dudajew besitzt natürlich keine Strategie, wie die nationale Unterdrückung im Kaukasus längerfristig und stabil beendet werden kann. Sein nationalistisches und pro-kapitalistisches Konzept ist eine Sackgasse, wie die Entwicklung im gesamten Osten zeigt. Notwendig ist eine revolutionäre Politik, die das nationale Selbstbestimmungsrecht, die Solidarität mit den russischen ArbeiterInnen und Soldaten und eine freiwillige sozialistische Föderation der Kaukasus-Republiken und letztlich aller ehemaligen UdSSR-Staaten auf ihre Fahnen heftet.

 

 

 

Freiheit für Tschetschenien! (1995)

 

von Michael Pröbsting

 

 

 

Vorwort der Redaktion: Im Folgenden veröffentlichen wir einen Artikel von Michael Pröbsting über den Freiheitskampf des tschetschenischen Volkes. Dieser wurde erstmals im Jänner 1995 in der Zeitung "ArbeiterInnenstandpunkt" (Nr. 65) – dem Organ der gleichnamigen Organisation – veröffentlicht. Dies war die österreichische Sektion der Liga für eine revolutionär-kommunistische Internationale (LRCI) – der Vorläuferorganisation der 2011 gegründeten Revolutionär-Kommunistische Internationale Tendenz (RCIT). Genosse Pröbsting war damals führendes Mitglied von ASt und LRCI und ist heute Internationaler Sekretär der RCIT.

 

 

 

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Noch vor einem Jahr priesen uns die bürgerlichen Medien Jelzin als den Vertreter des neuen demokratischen Kapitalismus an. Jetzt läßt er seine Maske endgültig fallen: Er ist ein großrussischer Chauvinist, der die Macht seiner Klasse auf den Bajonetten der Armee errichten möchte.

 

In den vergangenen Wochen ging täglich ein Bombenhagel auf Grosny und andere tschetschenische Städte nieder. Hunderte Zivilisten wurden hingeschlachtet. Der Grund? Tschetschenien, ein Land mit knapp über einer Million Einwohnern möchte von Moskaus Zentralmacht unabhängig werden. Doch das kann die bürgerliche Jelzin-Regierung nicht zulassen. Wenn Tschetschenien die Selbständigkeit gewährt werden würde - dann könnten die dutzenden anderen nationalen Minderheiten im Kaukasus und ganz Rußland auch diesen Weg beschreiten wollen. Das wollen die neuen russischen Unternehmer und ihre Handlangeren in Regierung und Armee um jeden Preis verhindern.

 

Der Krieg zeigt auch, daß sich Rußland nach wie vor, trotz zweier Putsche 1991 und 1993, in einer fundamentalen wirtschaftlichen und politischen Krise befindet. Der begeistertste Unterstützer der Regierung ist der rechtsradikale Schirinovski, fast alle anderen Parteien lehnen den Feldzug ab. Hunderte Mütter demonstrieren für die Heimkehr ihrer eingezogenen Söhne und viele Demokraten und Linke organisieren Protestkundgebungen gegen den chauvinistischen Krieg. Die Republik Tatarstan ließ bereits verlauten, daß ihre Soldaten keinen Fuß auf tschetschenisches Land setzen würden. Der Vorsitzende der Konföderation der Kaukasusvölker droht mit einem Partisanenkrieg in der gesamten Region gegen die russischen Besatzer. Drei hohe Generäle traten bisher aus Protest zurück, viele Soldaten weigerten sich, sich in ein neues Afghanistan verheizen zu lassen. Die Opposition trifft Vorkehrungen gegen einen neuerlichen Militärputsch. Eines ist klar: Der Weg zum russischen Kapitalismus ist gepflastert mit permanenter Krise und Krieg.

 

Die westeuropäischen und US-Imperialisten haben im Grunde volles Verständnis für Jelzins Bemühungen, ‘Ruhe und Ordnung’ wiederherzustellen. Clinton ließ umgehend verlauten, daß es sich bei diesem Krieg um eine „innere Angelegenheit“ Rußlands handle. Doch die Gefahr eines Flächenbrandes im Kaukasus und eines Bürgerkrieges in Rußland selbst stellt die imperialistischen Staatschefs vor ein Dilemma: einerseits gibt es keine Alternative zu Jelzin, um Rußland der kapitalistischen Profitlogik zu unterwerfen. Andererseits ist es gerade dieser neue Möchtegern-Bonaparte, der die Spirale von Regierungsumbesetzungen und Krisen vorantreibt.

 

Zaghaft erinnert der Westen Jelzin daran, daß er noch vor zwei Monaten bei der KSZE-Konferenz ein Dokument unterzeichnete, indem er sich zum Schutz von Zivilisten und deren Eigentum bei Polizei- und Armee-Einsätzen im Inland verpflichtete. Gibt es einen deutlicheren Beweis, wie wertlos und heuchlerisch dieses bürgerliche Diplomatenspektakel ist, das uns linke SP’lerInnen und KPÖ so oft als Lösungen anpriesen?!

 

Für uns als proletarische Internationalisten ist es selbstverständlich, das elementarste demokratische Recht eines Volkes - das auf nationale Selbstbestimmung - zu verteidigen. Das tschetschenische Volk wehrt sich verzweifelt gegen die drohende russische Besatzung. Hunderte einfache Frauen stellten sich den Panzern in den Weg und gewannen ganze Regimenter für die Ablehnung der Angriffsbefehle aus Moskau. Für den Sieg der heldenhaften Verteidiger von Grosny! Für den sofortigen Abzug der russischen Truppen aus Tschetschenien!