Der Kampf für die proletarische Hegemonie in der Befreiungsbewegung und die Einheitsfronttaktik heute. Über die Anwendung der marxistischen Einheitsfronttaktik in den halb-kolonialen und imperialistischen Ländern in der gegenwärtigen Periode
Von Michael Pröbsting, Revolutionär-Kommunistische Internationale Tendenz, Mai 2016, www.thecommunists.net
Inhalt
Vorwort
Einleitung
I. Zusammenfassung des Wesens der Einheitsfronttaktik
II. Die Einheitsfronttaktik in der Geschichte der revolutionären ArbeiterInnenbewegung
Marx und Engels zur Einheitsfront
Anwendung der Einheitsfronttaktik durch Lenin und die Bolschewiki
Kodifizierung der Einheitsfronttaktik durch die Kommunistische Internationale
Trotzki und die Vierte Internationale zur Einheitsfronttaktik
III. Der Kampf um die proletarische Hegemonie unter heutigen Bedingungen: soziale und ökonomische Veränderungen
Die Verlagerung des Schwerpunkts des heutigen Weltproletariats in den Süden
Das Elend der landlosen Bauernschaft und der städtischen Armut
IV. Der Kampf um proletarische Hegemonie unter heutigen Bedingungen: Politische Veränderungen
Die Krise der bürgerlichen ArbeiterInnenparteien
Die marxistischen Klassiker zur Arbeiterbürokratie
Der Aufstieg neuer reformistischer Parteien und des kleinbürgerlichen Populismus
Marxistische Klassiker zum Kampf um proletarische Hegemonie in der Befreiungsbewegung
V. Die Einheitsfronttatktik und kleinbürgerlich-nationalistischen und populistischen Parteien in der halbkolonialen Welt
“ArbeiterInnenpartei” oder “ArbeiterInnen- und Bauernpartei”?
Entrismustaktiken in kleinbürgerlich-populistischen Parteien
MarxistInnen und kleinbürgerlich-populistische Parteien: Wahltaktik und Regierungslosungen
Die Wandlung einer kleinbürgerlich-populistischen Partei zu einer bürgerlichen Partei und die Wahltaktiken
VI. Traditionelle reformistische Parteien, neue ArbeiterInnenpartei und Wahltaktiken
Kampf für eine Neue ArbeiterInnenpartei in der gegenwärtigen Periode
Engels, Lenin und Trotzki zur Taktik der ArbeiterInnenpartei
Die traditionellen reformistischen Parteien und Wahltaktiken heute
VII. Revolutionäre Taktik und kleinbürgerlich-populistische Parteien in imperialistischen Ländern
Sollen MarxistInnen zu kritischer Wahlunterstützung für Podemos in Spanien aufrufen?
Die TrotzkistInnen und die Farmer-Labor Party (FLP) in den US A in den 1930er Jahren
Zum Vergleich: die Grünen in den 1980ern und 1990er Jahren
VIII. Die Einheitsfronttaktik und der Befreiungskampf der nationalen Minderheiten und MigrantInnen in den imperialistischen Ländern
Zunehmende Mobilisierung nationaler/ethnischer Minderheiten und MigrantInnen zu demokratischen Fragen
Die Erfahrung der österreichischen Sektion der RCIT
Britannien: Respect als kleinbürgerlich-populistische Partei mit einer starken Basis unter den nationalen/ethnischen Minderheiten und MigrantInnen
Ein nützlicher Vergleich: Trotzki zu Organisationen der schwarzen Minderheit in den USA
Exkurs: Lenin zur Rolle der Partei als Avantgarde aller unterdrückten Klassen
Vorwort der Redaktion: Im Folgenden veröffentlichen wir das von Michael Pröbsting verfasste Buch „Marxismus und Einheitsfronttaktik“. Das Buch erschien ursprünglich in englischer
Sprache im Mai 2016 als E-Book bzw. als Ausgabe 51 und 52 des englischsprachigen internationalen Journals der Revolutionär-Kommunistische Internationale Tendenz (RCIT).
Michael Pröbsting ist der Internationale Sekretär der RCIT. Alle Publikationen der RCIT können über unsere Kontaktadresse bezogen werden. Wir bedanken uns für die Übersetzung des Buches bei
Gerline K.
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Einleitung
Das vorliegende Buch stellt eine ausführlichere Erläuterung der Thesen zur Einheitsfronttaktik dar, die die Revolutionär-Kommunistische Internationale Tendenz (RCIT) kürzlich auf einem internationalen Führungstreffen verabschiedet hat.[1] Wir empfehlen das Studium dieser Thesen in Verbindung mit dem vorliegenden Dokument.
Die Absicht dieses Buches ist es sowohl die Hauptgedanken der marxistischen Einheitsfronttaktik zusammenzufassen wie auch die Weiterentwicklung dieser Taktik, die in den Thesen ersichtlich wird, zu erklären.
Wie im Vorwort zu den Thesen erwähnt, basieren diese auf einem Dokument, das von der Vorgängerorganisation der RCIT – der Liga für eine Revolutionär Kommunistische Internationale – vertreten wurden und die wir im Jänner 1994 angenommen haben. Der Klassenkampf und die politischen Kräfte der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten haben in den letzten zwei Jahrzehnten wichtige Veränderungen und Entwicklungen erlebt. Unsere Erfahrung hat auch gezeigt, dass die damals angenommenen Thesen, ungeachtet ihrer allgemeinen Richtigkeit und ihres prinzipienfesten Charakters, gewisse Schwächen beinhalteten, die korrigiert werden mussten, um die Einheitsfronttaktik auf wahrhaft kommunistische Weise anwenden zu können.
Folglich hat die RCIT die alten Thesen grundlegend überarbeitet, so dass die vorliegenden Thesen und das zugehörige erläuternde Dokument als etwas Neues betrachtet werden können.
In den folgenden Kapiteln werden die Hauptmerkmale der Einheitsfronttaktik kurz zusammengefasst und die Herangehensweise der marxistischen Klassiker zu diesem Thema erarbeitet.[2] Dann werden wichtige soziale Entwicklungen in der ArbeiterInnenklasse und den Volksmassen sowie in ihren politischen Strukturen der letzten Jahrzehnte herausgearbeitet. Danach folgt die Diskussion, wie die Einheitsfronttaktik im Lichte einer Reihe neuer Entwicklungen (Aufstieg kleinbürgerlicher populistischer Parteien, Niedergang der klassischen reformistischen Parteien, die Rolle der nationalen Minderheiten und der MigrantInnen in den imperialistischen Ländern etc.) angewendet werden soll.
Schließlich sei darauf hingewiesen, dass, wenn von der revolutionären Partei die Rede ist, sich das genauso auf die kleineren Organisationen – also Vorstufen zur Partei – bezieht und damit auf den Zustand, in dem sich RevolutionärInnen derzeit befinden.
[1] RCIT-Thesen zur Einheitsfronttaktik. Thesen zu den Prinzipien der Einheitsfronttaktik und ihrer Anwendung unter den heutigen Klassenkampfbedingungen, Dokument des Internationalen Exekutivkomitees der Revolutionär-Kommunistischen Internationalen Tendenz, 9 April 2016, in: Revolutionärer Kommunismus Nr. 18, https://www.thecommunists.net/home/deutsch/einheitsfronttaktik/
[2] Kurze Bemerkung zu den Zitaten aus den Werken von Marx, Engels, Lenin und Trotzki: Es wurden die uns vorliegenden gedruckten Werke benutzt. Eine Reihe ihrer Schriften (v.a. bei Lenin, aber auch den anderen) kann auch auf der Website des Marxist Internetarchivs gefunden werden www.marxists.org
Das Ziel der Einheitsfronttaktik besteht darin, den KommunistInnen die Vertiefung ihrer Beziehung zur und ihres Einflusses auf die ArbeiterInnenklasse und die Unterdrückten zu ermöglichen. Die Kommunistische Internationale fasste dieses Ziel auf ihrem Dritten Weltkongress 1921 in der Losung “Zu den Massen” zusammen. Um das zu erreichen, müssen KommunistInnen so eng wie möglich mit ArbeiterInnen zusammenarbeiten, die – zumindest derzeit – ihre Meinungen nicht teilen. Dadurch soll die größtmögliche Einheit mit allen Werktätigen und Unterdrückten in unserem gemeinsamen Kampf gegen die herrschende Klasse und den Imperialismus erwirkt werden.
Gleichzeitig müssen KommunistInnen diese gemeinsame Erfahrung des Kampfs Seite an Seite mit nicht-revolutionären ArbeiterInnen und Unterdrückten dazu nutzen, um das politische Bewusstsein letzerer zu heben, denn – wie es der Vater des russischen Marxismus, Georgi Plechanow, so treffend formulierte: “Der einzige Zweck und die unmittelbare und geheiligte Pflicht der SozialistInnen ist die Förderung des Klassenbewusstseins des Proletariats.” Unter Nutzung der eigenen Erfahrungen der ArbeiterInnen und den Unterdrückten müssen KommunistInnen ihnen dabei helfen, das Versagen und den Verrat ihrer traditionellen Führungen besser zu verstehen und sie von der Richtigkeit der Linie der revolutionären Partei zu überzeugen.
Die Prinzipien der Einheitsfronttaktik können in der militärischen Metapher “getrennt marschieren, vereint schlagen” zusammengefasst werden. Das heißt, dass RevolutionärInnen ihre Kräfte mit anderen nicht-revolutionären Organisationen vereinen, um praktische gemeinsame Aktionen für spezifische Ziele gegen einen jeweiligen Feind zu oganisieren. In diesem Handeln behalten KommunistInnen ihre volle politische und organisatorische Unabhängigkeit. Mit anderen Worten, die revolutionäre Organisation verbreitet ihre eigene Propaganda und Agitation, die sich in der jeweiligen Frage beträchtlich von den Ansichten der diversen Kräfte, mit denen sie sich in der Einheitsfront verbündet, unterscheiden kann. Solche Propaganda und Agitation mag unter bestimmten Umständen auch strenge Warnungen oder Kritik oder Anprangerung ebendieser Verbündeten bedeuten, etwa wenn letztere den Kampf für die gemeinsam vereinbarten Ziele verraten wollen. Kurz, KommunistInnen sollten die Einheitsfronttaktik dazu nutzen, Einheit in der Tat mit anderen Kräften gegen einen gemeinsamen Feind zu erlangen, wobei sie jedoch immer ihre eigene politische und organisatorische Unabhängigkeit bewahren. Aus diesem Grund sollten KommunistInnen keine gemeinsame Propaganda mit nicht-revolutionären Kräften, mit denen sie in der Einheitsfront verbündet sind, herausgeben. Die einzigen gemeinsamen Publikationen, zu denen KommunistInnen beitragen können, müssen konkret mit den Aktivitäten der Einheitsfront verknüpft sein (z.B. Bulletins von Streikkomitees, Flugblätter zur Ankündigung von Demonstrationen etc.) und auf die Agitation um die Forderungen und Ziele der Einheitsfront ausgerichtet sein.
Gleichzeitig muss es von vornherein Zustimmung zu unbegrenzter Propagandafreiheit für RevolutionärInnen (wie für alle anderen an der Einheitsfront teilnehmenden Kräfte) geben. Diese Freiheit muss, wie schon oben angeführt, das Recht auf allenfalls notwendige Kritik an reformistischen und populistischen Führungskadern, die an der gemeinsamen Aktion beteiligt sind, beinhalten.
Die Einheitsfront muss sich auf konkrete und genaue Forderungen stützen. RevolutionärInnen stellen sich gegen ausführliche politische Erklärungen durch das Einheitsfrontbündnis oder gemeinsame Propaganda für langfristige Ziele. Letztere dienen nur der Verdunkelung der wahren Absicht der Einheitsfront und können den irreführenden Eindruck hervorrufen, dass RevolutionärInnen und Nicht-RevolutionärInnen hinsichtlich eines gemeinsamen langfristig angelegten politischen Programms übereinstimmen.
Im Allgemeinen richten KommunistInnen als erste Priorität die Einheitsfronttaktik auf Massenorganisationen aus, die über eine Basis in der ArbeiterInnenklasse verfügen; sie wenden sich aber auch an Gruppen mit Wurzeln in anderen unterdrückten Schichten und Klassen (z.B. Bauernschaft, Stadtarmut, unterdrückte Nationen, MigrantInnen). Üblicherweise handelt es sich dabei um reformistische (sozialdemokratische oder stalinistische) oder kleinbürgerliche Kräfte (z.B. Castro-Chavististische Organisationen in Lateinamerika, diverse islamistisch-populistische Organisationen im Nahen Osten und Asien, kleinbürgerliche NationalistInnen unterdrückter Nationen usw.), die jeweils gerade objektiv mit reaktionären Kräfte zusammenstoßen oder sich im Konflikt mit ihnen befinden (d.h. der herrschenden Klasse, imperialistischen Mächten, rassistischen oder faschistischen Kräften). Natürlich ist die Rolle der kleinbürgerlichen populistischen Kräfte im Klassenkampf in den unterdrückten Klassen und Schichten in der halbkolonialen Welt viel bedeutender als in den imperialistischen Ländern (mehr dazu weiter unten).
Unter besonderen Umständen kann die Einheitsfront auch auf bürgerliche Kräfte in der halbkolonialen Welt ausgerichtet sein – z.B. wenn diese gegen eine imperialistische Invasion in ein halbkoloniales Land kämpfen.
In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass der Unterschied zwischen einer legitimen Einheitsfront und einer unzulässigen Volksfront nicht die offene Teilnahme bürgerlicher oder kleinbürgerlicher Kräfte an sich ist, sondern vielmehr die politische Unterordnung des Proletariats unter das Programm der Bourgeoisie. Mit anderen Worten, eine unzulässige Volksfront ist ein Block von bürgerlichen Kräften und ArbeiterInnenorganisationen, in dem letztere ein Programm akzeptieren, dass die Werktätigen auf die durch das Privateigentum gesetzten Grenzen beschränkt und den bürgerlichen Staat schützt.
Die Geschichte kennt viele Beispiele dafür, dass eine solche Volksfront eine tödliche Falle für die ArbeiterInnenklasse und die Unterdrückten ist. Sie dient der Verteidigung des kapitalistischen Gesellschaftssystems durch die offiziellen reformistischen oder populistischen Führungen und stärkt daher nur die Bourgeoisie, nicht die ArbeiterInnenklasse. Die politische Unterwerfung des Proletariats unter die Bourgeoisie schwächt erstere und erlaubt der herrschenden Klasse oder sogar faschistischen Kräften, den Widerstand der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten zu zerschlagen. Spanien 1936, Chile 1973, Griechenland 2015 sind nur einige wenige Beispiele für die verheerenden Konsequenzen der Volksfrontstrategie für das Proletariat.
Die Einheitsfronttaktik kann in zahlreichen Gebieten und für alle Themen, die mit dem Klassenkampf zusammenhängen, angewendet werden. Sie soll die Arbeit von RevolutionärInnen mit und in Gewerkschaften, anderen Massenorganisationen der ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten wie auch mit Parteien (einschließlich der “Entrismusarbeit” innerhalb der Parteien) anleiten. Sie ist eine wichtige Taktik im täglichen Kampf um ökonomische und demokratische Forderungen, gegen imperialistische oder nationale Unterdrückungen usw. Aus diesen verschiedenen Fragen ergeben sich die verschiedenen Varianten der Einheitsfront (ArbeiterInneneinheitsfront, demokratische oder antiimperialistische Einheitsfront). Und alle diese Varianten unterliegen grundsätzlich denselben Prinzipien der allgemeinen Taktik der Einheitsfront.
Die Einheitsfronttaktik kann unter besonderen Umständen auch auf Wahlen ausgedehnt werden. KommunistInnen nutzen Wahlperioden – die üblicherweise Perioden von erhöhtem politischen Interesse in der Bevölkerung sind –, um jene klassenbewussten ArbeiterInnen und Unterdrückten anzusprechen, die Illusionen in reformistische ArbeiterInnenparteien oder populistische Parteien haben. Im Gegensatz zu den Behauptungen von Sektierern sind diese Teile der ArbeiterInnenklasse meist viel größer als die Anzahl der Werktätigen und Unterdrückten, die ihre Illusionen bereits verworfen und ein höheres, linkers Bewusstsein entwickelt haben. Wenn RevolutionärInnen zu schwach sind, um eigene KandidatInnen aufzustellen, wenden sie die leninistische Taktik der kritischen Wahlunterstützung für reformistische ArbeiterInnenparteien an (üblicherweise die sozialdemokratischen oder stalinistischen Parteien). RevolutionärInnen können sogar eine kritische Wahlunterstützung für kleinbürgerliche populistische Parteien mit starker Basis unter kämpferischen Werktätigen und Unterdrückten aussprechen, wenn es keine sozialdemokratischen oder stalinistischen Parteien gibt, diese nur eine zahlenmäßig unbedeutende Erscheinung darstellen oder bereits völlig verbürgerlicht sind.
Natürlich gibt es der Anwendung der kritischen Wahlunterstützung wichtige Ausnahmen bzw. Einschränkungen. Wie in den Thesen festgehalten: “In Situationen, wo eine bürgerliche Arbeiterpartei (für gewöhnlich als Regierungspartei) sich als Einpeitscherin bzw. Exekutorin schwerer Angriffe auf die Arbeiterklasse erweist – Austeritätsprogramme, imperialistischer Krieg, rassistische Hetze, Angriff auf demokratische Rechte o.ä. – ist es notwendig, dass Revolutionäre nicht zur Wahl dieser Partei aufrufen um so der Avantgarde bei ihrem politischen Ablösungsprozess von dieser Partei zu helfen.” [1]
Die Einheitsfronttaktik wurde von Lenin und Trotzki auch dahingehend ausgeweitet, Losungen für eine erwünschte Regierung zu entwickeln. Wo große Teile der klassenbewussten ArbeiterInnen und stark unterdrückten Schichten Illusionen in die “Parteien der kleinbürgerlichen Demokratie” (Trotzki) – d.h. SozialdemokratInnen, Stalinisten, kleinbürgerliche PopulistInnen – haben, rufen KommunistInnen dazu auf, mit der Bourgeoisie zu brechen und für eine “ArbeiterInnen- und Bauernregierung” (in einem halbkolonialen Land) oder eine ArbeiterInnenregierung (in den meisten imperialistischen Ländern) zu kämpfen. Weiters sind diese Losungen mit Forderungen verknüpft, dass solche Regierungen entschiedene Schritte zur Enteignung und Entwaffnung der Bourgeoisie, zur Verstaatlichung der Schlüsselbereiche der Wirtschaft unter ArbeiterInnenkontrolle, zur Enteignung der Großgrundbesitzer und die Verteilung des Landes an besitzlose Bauern usw. unternehmen sollen. Eine solche Regierung ist eine wahrhafte ArbeiterInnenregierung, verbündet mit der besitzlosen Bauernschaft und den städtischen Armut, sofern sie sich auf ArbeiterInnen- und Volksräte und –milizen stützt und ein Programm umsetzt, dass den Weg zur Errichtung der Diktatur des Proletariats eröffnet. Ansonsten ist sie nur eine reformistische und letztlich bürgerliche “ArbeiterInnen- und Bauernregierung”, die unausweichlich ein objektives Hindernis für den Klassenkampf darstellen und schlussendlich das kapitalistische System verteidigen wird.
Schließlich wenden RevolutionärInnen die Einheitsfronttaktik unter bestimmten Umständen auch auf den Bereich des Parteiaufbaus an. Natürlich ist das Hauptziel der KommunistInnen die Errichtung einer Weltpartei der Sozialistischen Revolution mit nationalen Sektionen in jedem Land. Im Lichte der zahlenmäßigen Schwäche der RevolutionärInnen und angesichts der Tatsache, dass in vielen Ländern nicht einmal bürgerliche ArbeiterInnenparteien existieren (und wo sie bestehen, diese oft völlig verbürgerlicht sind), müssen RevolutionärInnen die Einheitsfronttaktik so anwenden, dass sie die Gewerkschaften und andere Massenorganisationen der ArbeiterInnenklasse aufrufen, eine Neue ArbeiterInnenpartei aufzubauen. Solche Parteien würden anfangs nicht nur revolutionäre ArbeiterInnen und Unterdrückte umfassen, sondern auch viele Nicht-RevolutionärInnen. Tatsächlich wären die RevolutionärInnen in der Gründungsphase der Partei sehr wahrscheinlich nur eine kleine Minderheit. Doch diese würden offen für ihr Programm eintreten, d.h. für ein revolutionäres und nicht für ein reformistisches Programm. Wenn sie darin scheitern, eine Mehrheit der Mitglieder für ihre Sichtweise zu gewinnen, würden sie nicht notwendigerweise die Neue ArbeiterInnenpartei verlassen, sondern den Kampf für ein revolutionäres Programm innerhalb fortsetzen.
Diese Prinzipien der Einheitsfronttaktik wurden im Klassenkampf entwickelt und erprobt und waren von Beginn an Teil des Arsenals des Marxismus, als Marx und Engels sie kurz vor der Revolution von 1848 erstmals skizzierten. Auf Grundlage ihrer Erfahrung und später jener der Bolschewiki schrieb die Kommunistische Internationale diese Lehren in den frühen 1920ern fest. Nach der Degeneration der stalinistischen Bürokratie entwickelten Trotzki und die Kräfte der späteren Vierten Internationale diese Taktik mit den Lehren des intensiven Klassenkampfs aus den 1920ern und 1930ern noch weiter.
Marx und Engels zur Einheitsfront
Friedrich Engels legte zuerst in seinen Grundsätzen des Kommunismus und später gemeinsam mit Marx im Kommunistischen Manifest die fundamentalen Ideen der Einheitsfronttaktik dar. In diesen Dokumenten erklärten sie die Notwendigkeit, gemeinsame Aktionen mit reformistischen ArbeiterInnenorganisationen, mit radikalen kleinbürgerlichen Gruppen und sogar mit der Bourgeoisie, sofern sie nicht die herrschende Klasse ist, zu unternehmen.
“Sie kämpfen für die Erreichung der unmittelbar vorliegenden Zwecke und Interessen der Arbeiterklasse, aber sie vertreten in der gegenwärtigen Bewegung zugleich die Zukunft der Bewegung. In Frankreich schließen sich die Kommunisten an die sozialistisch-demokratische Partei an gegen die konservative und radikale Bourgeoisie, ohne darum das Recht aufzugeben, sich kritisch zu den aus der revolutionären Überlieferung herrührenden Phrasen und Illusionen zu verhalten.
In der Schweiz unterstützen sie die Radikalen, ohne zu verkennen, dass diese Partei aus widersprechenden Elementen besteht, teils aus demokratischen Sozialisten im französischen Sinn, teils aus radikalen Bourgeois.
Unter den Polen unterstützen die Kommunisten die Partei, welche eine agrarische Revolution zur Bedingung der nationalen Befreiung macht, dieselbe Partei, welche die Krakauer Insurrektion von 1846 ins Leben rief.
In Deutschland kämpft die Kommunistische Partei, sobald die Bourgeoisie revolutionär auftritt, gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute Monarchie, das feudale Grundeigentum und die Kleinbürgerei.
Sie unterlässt aber keinen Augenblick, bei den Arbeitern ein möglichst klares Bewusstsein über den feindlichen Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat herauszuarbeiten, damit die deutschen Arbeiter sogleich die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, welche die Bourgeoisie mit ihrer Herrschaft herbeiführen muss, als ebenso viele Waffen gegen die Bourgeoisie kehren können, damit, nach dem Sturz der reaktionären Klassen in Deutschland, sofort der Kampf gegen die Bourgeoisie selbst beginnt. (…)
Mit einem Wort, die Kommunisten unterstützen überall jede revolutionäre Bewegung gegen die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Zustände.
In allen diesen Bewegungen heben sie die Eigentumsfrage, welche mehr oder minder entwickelte Form sie auch angenommen haben möge, als die Grundfrage der Bewegung hervor.
Die Kommunisten arbeiten endlich überall an der Verbindung und Verständigung der demokratischen Parteien aller Länder.
Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, dass ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung.” [1]
Diese taktischen Leitlinien wurden von Marx und Engels und ihren UnterstützerInnen auch in die Tat umgesetzt. In Köln und anderen deutschen Städten kollaborierten die Mitglieder des von Marx und Engels geführten Kommunistischen Bundes mit radikalen DemokratInnen und trieben so ihr kommunistisches Programm voran.[2]
In der Ausarbeitung der Lehren aus den revolutionären Kämpfen und ihren Niederlagen in der Revolution von 1848-49 in Europa warnten Marx und Engels KommunistInnen davor, ihre Losungen mit jenen der kleinbürgerlichen DemokratInnen verschwimmen zu lassen, denn der Verrat durch Letztere ist unausweichlich. In ihrer berühmten “Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850” betonten die Gründer der kommunistischen Bewegung die Notwendigkeit organisatorischer und politischer Unabhängigkeit in der Zusammenabeit mit solch kleinbürgerlichen Kräften.
“Während also die demokratische Partei, die Partei der Kleinbürgerschaft, sich in Deutschland immer mehr organisierte, verlor die Arbeiterpartei ihren einzigen festen Halt, blieb höchstens in einzelnen Lokalitäten zu lokalen Zwecken organisiert und geriet dadurch in der allgemeinen Bewegung vollständig unter die Herrschaft und Leitung der kleinbürgerlichen Demokraten. Diesem Zustande muss ein Ende gemacht, die Selbständigkeit der Arbeiter muss hergestellt werden. (…) Die kleinbürgerlich-demokratische Partei in Deutschland ist sehr mächtig, sie umfasst nicht nur die große Mehrheit der bürgerlichen Einwohner der Städte, die kleinen industriellen Kaufleute und die Gewerksmeister; sie zählt in ihrem Gefolge die Bauern und das Landproletariat, solange dies noch nicht in dem selbständigen Proletariat der Städte eine Stütze gefunden hat. Das Verhältnis der revolutionären Arbeiterpartei zur kleinbürgerlichen Demokratie ist dies: Sie geht mit ihr zusammen gegen die Fraktion, deren Sturz sie bezweckt; sie tritt ihnen gegenüber in allem, wodurch sie sich für sich selbst festsetzen wollen. (…) Im gegenwärtigen Augenblicke, wo die demokratischen Kleinbürger überall unterdrückt sind, predigen sie dem Proletariat im allgemeinen Einigung und Versöhnung, sie bieten ihm die Hand und streben nach der Herstellung einer großen Oppositionspartei, die alle Schattierung in der demokratischen Partei umfasst, das heißt, sie streben danach, die Arbeiter in eine Parteiorganisation zu verwickeln, in der die allgemein sozial-demokratischen Phrasen vorherrschend sind, hinter welchen ihre besonderen Interessen sich verstecken, und in der die bestimmten Forderungen des Proletariats um des lieben Friedens willen nicht vorgebracht werden dürfen. Eine solche Vereinigung würde allein zu ihrem Vorteile und ganz zum Nachteile des Proletariats ausfallen. Das Proletariat würde seine ganze selbständige, mühsam erkaufte Stellung verlieren und wieder zum Anhängsel der offiziellen bürgerlichen Demokratie herabsinken. Diese Vereinigung muss also auf das entschiedenste zurückgewiesen werden. Statt sich abermals dazu herabzulassen, den bürgerlichen Demokraten als beifallklatschender Chor zu dienen, müssen die Arbeiter, vor allem der Bund, dahin wirken, neben den offiziellen Demokraten eine selbständige geheime und öffentliche Organisation der Arbeiterpartei herzustellen und jede Gemeinde zum Mittelpunkt und Kern von Arbeitervereinen zu machen, in denen die Stellung und Interessen des Proletariats unabhängig von bürgerlichen Einflüssen diskutiert werden.(…) Für den Fall eines Kampfes gegen einen gemeinsamen Gegner braucht es keiner besonderen Vereinigung. Sobald ein solcher Gegner direkt zu bekämpfen ist, fallen die Interessen beider Parteien für den Moment zusammen, und wie bisher wird sich auch in Zukunft diese nur für den Augenblick berechnete Verbindung von selbst herstellen. ” [3]
Marx und Engels sollten später die Einheitsfronttaktik auch auf viele andere Situationen anwenden, einschließlich der Gründung der Ersten Internationale 1864. David Rjazanov, ein russischer Marxist und der beste Marx/Engels-Experte seiner Zeit bis zu seiner Verhaftung und Exekution durch Stalin 1938, beschreibt in seinem Buch zur Geschichte des politischen Lebens von Marx und Engels, wie vorsichtig sie gegen die Politik der französischen ProudhonistInnen, der englischen Gewerkschaften, der anarchistischen UnterstützerInnen Bakunins und andere kämpfen mussten. Gleichzeitig trachteten sie nach der Vermeidung voreiliger Spaltungen und der Gewinnung der Basismitglieder ihrer GegnerInnen.
Anwendung der Einheitsfronttaktik durch Lenin und die Bolschewiki
Die Bolschewiki wandten später dieselbe Taktik im Kampf gegen den Zarismus an. Sie schlossen zahlreiche praktische Abkommen (zu Demonstrationen, Streiks, bewaffnetem Widerstand, praktischen Aspekten der Untergrundarbeit usw.) mit anderen Organisationen der ArbeiterInnen und der Bauernschaft – wie den Menschewiki, dem Jüdischen Bund, den Sozialrevolutionäre, den Trudoviki, den sozialrevolutionären MaximalistInnen, verschiedenen NationalistInnen etc. – sowie der StudentInnen und sogar der bürgerlichen Liberalen im Kampf gegen die zaristische Autokratie. Diese Taktik umfasste nicht nur praktische Zusammenarbeit, sondern immer wieder auch die Schaffung einer formell gemeinsamen Partei mit den Menschewiki. Unter dem Druck der ArbeiterInnenavantgarde waren die Bolschewiki sogar bereit, mit den Menschewiki zwischen 1905 und 1912 formell zu fusionieren, wobei sie aber einen schwierigen Fraktionskampf gegen sie führten und in Wahrheit die meiste Zei als unabhängige Kraft agierten. Die Bolschewiki schlossen auch wiederholt praktische Abkommen mit kleinbürgerlichen demokratischen Kräften der Bauerschaft (den Trudoviki und den Sozialrevolutionäre) und zu Beginn der Russischen Revolution 1905 versuchte Lenin sogar mit dem russisch-orthodoxen Priester Georgi Gapon zusammenzuabeiten. Die Bolschewiki gingen bei den Wahlen zur Duma von 1907 und 1912 auch taktische Vereinbarungen mit den Trudoviki und den Sozialrevolutionäre ein. [4]
Während des revolutionären Prozesses zwischen Februar und Oktober 1917 wandten die Bolschewiki die Einheitsfronttaktik an und forderten von den großen reformistischen Parteien, die damals die ArbeiterInnen und Bauernschaft repräsentierten – den Menschewiki und den Sozialrevolutionäre –, mit der Bourgeoisie zu brechen und die Macht in die eigenen Hände zu nehmen. Nachdem die Bolschewiki im Oktober erfolgreich die Macht übernommen hatten, bildeten sie eine Koalition mit dem linken Flügel der Sozialrevolutionäre. Während all der Zeit, in der sie die Einheitsfronttaktik verfolgten, behielten die Bolschewiki trotz dieser gemeinsamen praktischen Aktionen ihre unabhängige Propaganda bei und kritisierten die anderen an der Einheitsfront teilnehmenden Organisationen scharf.
In seinem Buch Der ‘linke Radikalimsus’, die Kinderkrankheit im Kommunismus von 1920 erklärte Lenin, dass die russischen RevolutionärInnen die Einheitsfront viele Male und unter verschiedenen Bedingungen anwenden mussten:
“Es ist doch unmöglich, dass die deutschen Linken nicht wissen, dass die ganze Geschichte des Bolschewismus, sowohl vor als auch nach der Oktoberrevolution, voll ist von Fällen des Lavierens, des Paktierens, der Kompromisse mit anderen, darunter auch mit bürgerlichen Parteien! (…) Die russischen revolutionären Sozialdemokraten haben vor dem Sturz des Zarismus wiederholt die Dienste der bürgerlichen Liberalen in Anspruch genommen, d. h., sie haben eine Menge praktischer Kompromisse mit ihnen geschlossen. In den Jahren 1901 und 1902, noch vor der Entstehung des Bolschewismus, schloss die alte Redaktion der „Iskra" (zu der Plechanow, Axelrod, Sassulitsch, Martow, Potressow und ich gehörten) ein formelles politisches Bündnis (allerdings nicht auf lange) mit Struve, dem politischen Führer des bürgerlichen Liberalismus, verstand es aber gleichzeitig, ununterbrochen den rücksichtslosesten ideologischen und politischen Kampf gegen den bürgerlichen Liberalismus und gegen die geringsten Äußerungen seines Einflusses innerhalb der Arbeiterbewegung zu führen. Dieser Politik sind die Bolschewiki stets treu geblieben. Seit 1905 haben sie systematisch das Bündnis der Arbeiterklasse mit der Bauernschaft gegen die liberale Bourgeoisie und den Zarismus verfochten, ohne zugleich jemals die Unterstützung der Bourgeoisie gegen den Zarismus (z. B. im zweiten Stadium der Wahlen oder bei Stichwahlen) abzulehnen und ohne den unversöhnlichsten ideologischen und politischen Kampf gegen die bürgerlich-revolutionäre Bauernpartei, die „Sozialrevolutionäre", einzustellen, die sie als kleinbürgerliche, sich fälschlich zu den Sozialisten zählende Demokraten entlarvten. Im Jahre 1907 schlossen die Bolschewiki bei den Wahlen zur Duma auf kurze Zeit formell einen politischen Block mit den „Sozialrevolutionären". Mit den Menschewiki waren wir in den Jahren 1903—1912 wiederholt mehrere Jahre hindurch formell in einer einheitlichen sozialdemokratischen Partei, ohne jemals den ideologischen und politischen Kampf gegen diese Opportunisten und Schrittmacher des bürgerlichen Einflusses auf das Proletariat einzustellen. Während des Krieges gingen wir ein gewisses Kompromiss mit den „Kautskyanern", den linken Menschewiki (Martow) und einem Teil der „Sozialrevolutionäre" (Tschernow, Natanson) ein, tagten zusammen mit ihnen in Zimmerwald und Kienthal und erließen gemeinsame Manifeste, haben aber niemals den ideologischen und politischen Kampf gegen die „Kautskyaner", gegen die Martow und Tschernow eingestellt oder abgeschwächt (Natanson starb 1919 als uns durchaus nahestehender, mit uns fast solidarischer volkstümlerischer „revolutionärer Kommunist"). Im Augenblick des Oktoberumsturzes schlossen wir einen zwar nicht formellen, aber sehr wichtigen (und sehr erfolgreichen) politischen Block mit der kleinbürgerlichen Bauernschaft, indem wir das Agrarprogramm der Sozialrevolutionäre voll und ganz, ohne jede Änderung, übernahmen, d. h., wir gingen unzweifelhaft ein Kompromiss ein, um den Bauern zu beweisen, dass wir sie nicht majorisieren, sondern uns mit ihnen verständigen wollen. Gleichzeitig schlugen wir den „linken Sozialrevolutionären" einen (bald darauf von uns verwirklichten) formellen politischen Block einschließlich der Teilnahme an der Regierung vor. Nach Abschluss des Brester Friedens sprengten die linken Sozialrevolutionäre diesen Block und gingen später, im Juli 1918, zum bewaffneten Aufstand gegen uns und in der Folgezeit zum bewaffneten Kampf gegen uns über.” [5]
Bekanntlich gingen die Bolschewiki aus diesen verschiedenen Anwendungen der Einheitsfront gestärkt hervor. Die zeitweiligen Allianzen und Manöver minderten ihren ideologischen und politischen Kampf in keinster Weise. Nur die Kombination beider Elemente – organisatorische und politische Unabhängigkeit einerseits und gemeinsame Aktion andererseits – machte es möglich, dass die Bolschewiki als Partei wachsen und stärker werden konnten.
Kodifizierung der Einheitsfronttaktik durch die Kommunistische Internationale
Die Kommunistische Internationale (Komintern), gegründet auf Initiative der Bolschewiki im März 1919, versuchte die Lehren der Vergangenheit zu verallgemeinern, die für die russischen RevolutionärInnen eine wesentliche Rolle gespielt hatten. Das war keine leichte Aufgabe und Lenin und Trotzki standen großen Hindernissen dabei gegenüber, die Komintern für ihre Sichtweise zu gewinnen. Einerseits mussten sie mit den Restbeständen der opportunistischen Vergangenheit der Sozialdemokratie fertigwerden, andererseits gab es diverse Schattierungen von ultralinker Abenteuerpolitik, denen die Erfahrung vieler früherer kommunistischer Parteien fehlte.
Schließlich konnten Lenin und Trotzki die Komintern für die Prinzipien der Einheitsfronttaktik gewinnen und der Dritte (1921) und der Vierte (1922) Kongress verschriftlichten diese. Der folgende ausgedehnte Abschnitt fasst die Lehren, denen sich die Komintern auf ihrem Vierten Kongress anschloss, zusammen:
"Aus all dem ergibt sich die Notwendigkeit der Taktik der Einheitsfront. Die Losung des 3. Kongresses "zu den Massen" hat jetzt mehr denn je Gültigkeit. Erst jetzt beginnt der Kampf um die Bildung der proletarischen Einheitsfront in einer größeren Zahl von Ländern. (…) Die Komintern fordert, daß alle kommunistischen Parteien und Gruppen die Taktik der Einheitsfront auf das Strengste durchführen, weil sie allein in der gegenwärtigen Periode den Kommunisten den sicheren Weg zur Eroberung der Mehrheit der Werktätigen weist. Die Reformisten brauchen jetzt die Spaltung. Die Kommunisten sind an der Zusammenfassung aller Kräfte der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus interessiert. Die Taktik der Einheitsfront bedeutet das Vorangehen der kommunistischen Avantgarde in den täglichen Kämpfen der breiten Arbeitermassen um ihre notwendigsten Lebensinteressen. In diesem Kampfe sind die Kommunisten sogar bereit, mit den verräterischen Führern der Sozialdemokraten und der Amsterdamer zu unterhandeln. Die Versuche der 2. Internationale, die Einheitsfront als organisatorische Verschmelzung aller "Arbeiterparteien" hinzustellen, sind selbstverständlich auf das Entschiedenste zurückzuweisen. (…)
Die Existenz selbständiger kommunistischer Parteien und deren vollständige Aktionsfreiheit gegen die Bourgeoisie und gegen die konterrevolutionäre Sozialdemokratie ist die wichtigste historische Errungenschaft des Proletariats auf die die Kommunisten unter keinen Umständen verzichten werden. Die kommunistischen Parteien allein verfechten die Interessen des gesamten Proletariats. Die Taktik der Einheitsfront bedeutet auch keinesfalls sogenannte "Wahlkombinationen" der Spitzen, die diese oder jene parlamentarischen Zwecke verfolgen. Die Taktik der Einheitsfront ist das Angebot des gemeinsamen Kampfes der Kommunisten mit allen Arbeitern, die anderen Parteien oder Gruppen angehören, und mit allen parteilosen Arbeitern zwecks Verteidigung der elementarsten Lebensinteressen der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie. Jeder Kampf um die kleinste Tagesforderung bildet eine Quelle revolutionärer Schulung, denn die Erfahrungen des Kampfes werden die Werktätigen von der Unvermeidlichkeit der Revolution und der Bedeutung des Kommunismus überzeugen. Eine besonders wichtige Aufgabe bei der Durchführung der Einheitsfront ist die Erreichung nicht nur agitatorischer, sondern auch organisatorischer Resultate. Keine einzige Gelegenheit darf verpaßt werden, um in der Arbeitermasse selbst organisatorische Stützpunkte (Betriebsräte, Kontrollkommissionen aus Arbeitern aller Parteien und Parteilosen, Aktionskomitees usw. zu schaffen. Das Wichtigste in der Taktik der Einheitsfront ist und bleibt die agitatorische und organisatorische Zusammenfassung der Arbeitermassen. Der wirkliche Erfolg der Einheitsfronttaktik erwächst von "unten", aus den Tiefen der Arbeitermasse selbst. Die Kommunisten können dabei aber nicht darauf verzichten, unter gewissen Umständen auch mit den Spitzen der gegnerischen Arbeiterparteien zu unterhandeln. Über den Gang dieser Unterhandlungen müssen die Massen jedoch dauernd und vollkommen unterrichtet sein. Die Selbständigkeit der Agitation der Kommunistischen Partei darf auch während der Verhandlungen mit den Spitzen keinesfalls eingeschränkt werden." [6]
Die Sektionen der Komintern sollten diesen Grundsätzen auch in kolonialen und halbkolonialen Ländern folgen und sie den jeweils konkreten Umständen anpassen. Dieselbe Resolution hielt dazu fest:
“In den kolonialen und halbkolonialen Ländern hat die Komintern zweierlei Aufgaben: 1. einen Kern von kommunistischen Parteien zu schaffen, die die Gesamtinteressen des Proletariats vertreten, und 2. mit allen Kräften die nationalrevolutionäre Bewegung zu unterstützen, die sich gegen den Imperialismus richtet, zur Avantgarde dieser Bewegung zu werden und innerhalb der nationalen Bewegung die soziale Bewegung hervorzuheben und zu steigern.” [7]
Auf die antiimperialistische Einheitsfront geht die Komintern detaillierter in einer eigenen Resolution, die auf demselben Kongress diskutiert und verabschiedet wurde, ein. Diese Resolution erklärte die Wichtigkeit für RevolutionärInnen, sich dem Kampf um demokratische Aufgaben, um nationale Unabhängigkeit, gegen imperialistische Herrschft usw. anzuschließen.
“Die Hauptaufgabe, die allen nationalrevolutionären Bewegungen gemeinsam ist, besteht in der Verwirklichung der nationalen Einheit und in der Erreichung der staatlichen Unabhängigkeit. Die reale und folgerichtige Lösung der Aufgabe hängt davon ab, inwieweit diese oder jene nationale Bewegung imstande sein wird, jede Verbindung mit den reaktionären feudalen Elementen abzubrechen und so breite werktätige Massen für sich zu gewinnen und in ihrem Programm den sozialen Forderungen dieser Massen Ausdruck zu verleihen. Indem die Kommunistische Internationale dem Umstande vollauf Rechnung trägt, dass Träger des Willens der Nation zu staatlicher Selbständigkeit unter verschiedenen geschichtlichen Verhältnissen die verschiedenartigsten Elemente sein können, unterstützt sie jede national-revolutionäre Bewegung gegen den Imperialismus. Gleichzeitig aber lässt sie nicht außer acht, dass nur eine konsequente revolutionäre Linie, die darauf abzielt, die breitesten Massen in den aktiven Kampf hineinzuziehen, und der unbedingte Bruch mit allen Anhängern einer Aussöhnung mit dem Imperialismus, im Interesse der eigenen Klassenherrschaft, die bedrückten Massen zum Siege zu führen vermag.” [8]
Gleichzeitig betonte die Resolution die Notwendigkeit für KommunistInnen, ihre organisatorische und programmatische Unabhängigkeit angesichts des schwankenden Charakters bürgerlicher und kleinbürgerlicher Führungen des antiimperialistischen Kampfs beizubehalten.
“Die Zweckmäßigkeit dieser Losung ergibt sich aus der Perspektive eines dauernden und langwierigen Kampfes mit dem Weltimperialismus, der die Mobilisierung aller revolutionären Elemente erfordert. Diese Mobilisierung ist um so notwendiger, als die einheimischen herrschenden Klassen geneigt sind, mit dem ausländischen Kapital Kompromisse zu schließen, die sich gegen die Lebensinteressen der Volksmassen richten. Und wie die Losung der proletarischen Einheitsfront im Westen zur Entlarvung des sozialdemokratischen Verrates an den Interessen des Proletariats beigetragen hat und weiter noch beiträgt, so wird die Losung der anti-imperialistischen Einheitsfront zur Entlarvung des Schwankens der einzelnen Gruppen des bürgerlichen Nationalismus beitragen. Diese Losung wird auch die Entwicklung des revolutionären Willens und die Klärung des Klassenbewusstseins der werktätigen Massen fördern und sie in die vordersten Reihen der Kämpfer nicht nur gegen den Imperialismus, sondern auch gegen die Überbleibsel des Feudalismus stellen.” [9]
Die KommunistInnen setzten diese Grundsätze in vielfacher Weise um. Eine der ersten Anwendungen war eine Initiative deutscher Metallarbeiter in der Ortsgruppe Stuttgart des Gewerkschaftsbunds ADGB im Dezember 1920. Hier genoss die Kommunistische Partei KPD bedeutenden Einfluss und sie brachte die Ortsgruppe dazu, eine Resolution anzunehmen, die die Führung ihrer Gewerkschaft und aller Gewerkschaften dazu aufrief, einen gemeinsamen Kampf um unmittelbare Forderungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen aufzunehmen (Senkung der Lebensmittelpreise, Steigerung der Arbeitslosenunterstützungen, Senkung der von Werktätigen bezahlten Steuern und Erhöhung der Steuern auf große Privatvermögen, Einrichtung von ArbeiterInnenkontrolle über Bestand und Verteilung von Rohstoffen und Nahrungsmitteln, Entwaffnung der reaktionären Gruppen und Bewaffnung der ArbeiterInnen).
Während die Gewerkschaftsführung zuerst diese Kampagne ignorierte, erhielt sie von vielen anderen Gewerkschaftsortsgruppen bald Unterstützung. Als Ergebnis entwarf die Führung der KPD, hauptsächlich Paul Levi und Karl Radek, einen Offenen Brief, der eine Erweiterung der Stuttgarter Initiative war. Dieser Brief richtete sich sowohl an die reformistischen ArbeiterInnenparteien (SPD, USPD, auch die kleine ultralinke KAPD) wie auch an alle Gewerkschaften. Die Arbeiterbürokratie schloss sich gemeinsamen Aktionen mit den KommunistInnen nicht an, doch die Kampagne stärkte den Einfluss der KommunistInnen in der ArbeiterInnenklasse und vor allem in den Gewerkschaften. [10]
Die Komintern erweiterte die Einheitsfronttaktik auch auf das Feld der Regierungslosungen und entwickelte entsprechende Losungen für eine “Arbeiterregierung” und eine “Arbeiter- und Bauernregierung”. Die Komintern hielt dazu fest: "Die Parteien der 2. Internationale versuchen, in diesen Ländern die Lage dadurch zu "retten", daß sie eine Koalition der Bürgerlichen und der Sozialdemokraten propagieren und verwirklichen. (…) Einer offenen oder maskierten bürgerlich-sozialdemokratischen Koalition stellen die Kommunisten die Einheitsfront aller Arbeiter und eine Koalition aller Arbeiterparteien auf ökonomischem und politischem Gebiete zum Kampfe gegen die bürgerliche Macht und zu ihrem schließlichen Sturz gegenüber. Im vereinten Kampfe aller Arbeiter gegen die Bourgeoisie soll der ganze Staatsapparat in die Hände der Arbeiterregierung gelangen, und dadurch sollen die Machtpositionen der Arbeiterklasse gestärkt werden." [11]
Lenin erklärte ganz ähnlich die Notwendigkeit für KommunistInnen, die Einheitsfronttaktik in Wahlkampagnen anzuwenden. Mit dem Beispiel Britanniens, wo die Kommunistische Partei klein war und die reformistische Labour Party die ArbeiterInnenbewegung dominierte, befürwortete Lenin die kritische Wahlunterstützung der KommunistInnen für die ReformistInnen.
“Die Kommunistische Partei schlägt den Henderson und Snowden ein ‚Kompromiss’, ein Wahlabkommen vor: Wir kämpfen gemeinsam gegen das Bündnis Lloyd Georges und der Konservativen, verteilen die Parlamentssitze entsprechend der Zahl der von den Arbeitern für die Arbeiterpartei bzw. die Kommunisten abgegebenen Stimmen (nicht bei den Wahlen, sondern in einer besonderen Abstimmung), behalten uns aber die vollste Freiheit der Agitation, Propaganda und politischen Tätigkeit vor. Ohne die letzte Bedingung darf man sich natürlich nicht auf einen Block einlassen, denn das wäre Verrat: Die vollste Freiheit der Entlarvung der Henderson und Snowden müssen die englischen Kommunisten ebenso unbedingt verfechten und durchsetzen, wie die russischen Bolschewiki sie (fünfzehn Jahre lang, von 1903 bis 1917) gegenüber den russischen Henderson und Snowden, d. h. gegenüber den Menschewiki, verfochten und durchgesetzt haben.
Gehen die Henderson und Snowden den Block unter diesen Bedingungen ein, so werden wir gewonnen haben, denn für uns ist keineswegs die Zahl der Parlamentssitze wichtig, wir reißen uns nicht darum, wir werden in diesem Punkt nachgiebig sein (…) Wir werden gewonnen haben, denn wir werden unsere Agitation zu einem Zeitpunkt in die Massen tragen, da Lloyd George selbst sie „aufgeputscht" hat, und werden nicht nur der Arbeiterpartei helfen, schneller ihre Regierung zu bilden, sondern auch den Massen, schneller unsere ganze kommunistische Propaganda zu begreifen, die wir gegen die Henderson ohne jede Einschränkung und ohne etwas zu verschweigen treiben werden.
Lehnen die Henderson und Snowden den Block mit uns unter diesen Bedingungen ab, so werden wir noch mehr gewonnen haben. Denn wir werden den Massen sofort gezeigt haben (…), dass den Henderson ihre nahen Beziehungen zu den Kapitalisten lieber sind als der Zusammenschluss aller Arbeiter. (…) Wir werden sofort gewonnen haben, denn wir werden vor den Massen demonstriert haben, dass die Henderson und Snowden einen Sieg über Lloyd George fürchten, dass sie die alleinige Machtübernahme fürchten, dass sie bestrebt sind, heimlich die Unterstützung Lloyd Georges zu erlangen, der offen den Konservativen die Hand gegen die Arbeiterpartei reicht. Es muss bemerkt werden, dass bei uns in Rußland nach der Revolution vom 27. II. 1917 (alten Stils) die Propaganda der Bolschewiki gegen die Menschewiki und Sozialrevolutionäre (d. h. gegen die russischen Henderson und Snowden) gerade durch einen ebensolchen Umstand gewann. Wir erklärten den Menschewiki und Sozialrevolutionären: Nehmt die ganze Macht ohne die Bourgeoisie, denn ihr habt die Mehrheit in den Sowjets (auf dem I. Gesamtrussischen Sowjetkongreß im Juni 1917 hatten die Bolschewiki nur 13 Prozent der Stimmen). Aber die russischen Henderson und Snowden fürchteten sich, die Macht ohne die Bourgeoisie zu ergreifen, und als die Bourgeoisie die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung verschleppte, da sie sehr wohl wusste, dass die Wahlen den Sozialrevolutionären und Menschewiki die Mehrheit bringen würden (beide bildeten einen ganz engen politischen Block, denn sie vertraten praktisch ein und dieselbe kleinbürgerliche Demokratie), da waren die Sozialrevolutionäre und Menschewiki nicht imstande, gegen diese Verschleppung energisch und konsequent zu kämpfen.
Lehnen die Henderson und Snowden einen Block mit den Kommunisten ab, so werden die Kommunisten sofort gewonnen haben, was die Erobe rung der Sympathien der Massen und die Diskreditierung der Henderson und Snowden betrifft, und sollten wir dadurch einige Parlamentssitze verlieren, so ist das für uns ganz unwichtig. Wir würden unsere Kandidaten nur in einer ganz geringen Zahl absolut sicherer Wahlkreise aufstellen, d. h. dort, wo die Aufstellung unserer Kandidaten nicht dem Liberalen zum Sieg über den Labouristen (das Mitglied der Arbeiterpartei) verhelfen würde. Wir würden Wahlagitation treiben, Flugblätter zugunsten des Kommunismus verbreiten und in allen Wahlkreisen, in denen wir keinen eigenen Kandidaten aufstellen, empfehlen, für den Labouristen und gegen den Bourgeois zu stimmen. (…)
Den englischen Kommunisten fällt es jetzt sehr oft schwer, an die Masse auch nur heranzukommen, sich bei ihr auch nur Gehör zu verschaffen. Wenn ich als Kommunist auftrete und erkläre, dass ich dazu auffordere, für Henderson und gegen Lloyd George zu stimmen, so wird man mich gewiss anhören. Und ich werde nicht nur in populärer Weise erklären können, warum die Sowjets besser sind als das Parlament und die Diktatur des Proletariats besser ist als die Diktatur Churchills (…), sondern ich werde auch erklären können, dass ich Henderson durch meine Stimmabgabe ebenso stützen möchte, wie der Strick den Gehängten stützt; dass in dem Maße, wie sich die Henderson einer eigenen Regierung nähern, ebenso die Richtigkeit meines Standpunkts bewiesen wird, ebenso die Massen auf meine Seite gebracht werden und ebenso der politische Tod der Henderson und Snowden beschleunigt wird, wie das bei ihren Gesinnungsgenossen in Russland und in Deutschland der Fall war.” [12]
Später, auf dem Zweiten Kongress der Komintern 1920, befürwortete Lenin auch den Entrismus der britischen Kommunistischen Partei in die Labour Party, um die Basis besser beeinflussen zu können.
Wie Lenin erklärte, hatten all diese Taktiken nichts gemeinsam mit Weichheit oder Reformismus, sondern waren Resultat des starken Dranges der KommunistInnen, sich enger mit den nicht-revolutionären Massen zu verbinden und der dringenden Nowendigkeit, die reformistischen Führungen vor ihren UnterstützerInnen zu diskreditieren; das geschah, indem ihnen in der Praxis demonstriert wurde, dass diese Führungen nicht willens und nicht fähig dazu sind, beständig für die Interessen der ArbeiterInnenklasse zu kämpfen.
Die KommunistInnen wandten auch die antiimperialistische Einheitsfronttaktik auf die kolonialen und halbkolonialen Länder an. In China unterstützten sie den Kampf von Sun Yat-sen gegen die reaktionären Kriegsherren, die als Agenten der ausländischen imperialistischen Mächte agierten. Im Herbst 1922 traten die KommunistInnen auf Vorschlag von Henk Sneevliet (ein Niederländer, der sich später für einige Zeit der Vierten Internationale anschloss) sogar der Partei von Sun Yat-sen bei – der Kuomintang. Diese Taktik bot den KommunistInnen, die ursprünglich nur eine kleine Gruppe Intellektueller ohne Wurzeln in der ArbeiterInnenklasse waren, die Möglichkeit, ihre Isolation zu überwinden und zu einer Massenpartei zu werden. Leider verwandelten die Stalinisten später diese erfolgreiche Taktik in eine opportunistische Kapitulation vor Chiang Kai-shek, dem neuen Führer der Kuomintang nach Sun Yat-sens Tod – statt sich mutig von dieser kleinbürgerlichen populistischen Partei abzuspalten, als sie zu einem Hindernis für den Klassenkampf wurde. Das führte 1927 zum fürchterlichen Massaker an zehntausenden KommunistInnen durch die Hand von Chiang Kai-sheks Armee.
Davor noch hatte Sneevliet eine bedeutende Rolle im Aufbau einer revolutionären Organisation in Indonesien (damals niederländische Kolonie) gespielt – der Indischen Sociaal-Democratische Vereeniging (ISDV). Diese Organisation beteiligte sich an antiimperialistischen Aktivitäten und schloss sich später einer islamistischen Massenorganisation an, die gegen die Kolonialverwaltung kämpfte – der Sarekat Islam (Islamische Union). Als die konservative Führung der islamistischen Organisation schließlich 1921 die RevolutionärInnen ausschloss, hatten die KommunistInnen bereits viele ArbeiterInnen und Bauern gewonnen. Sie sollten die erste asiatische Sektion der Komintern gründen – Perserikatan Komunis di Hindia (PKH, Kommunistische Vereinigung Indiens).[13]
Ebenso unterstützte die Sowjetunion den vom bürgerlichen Nationalisten Kemal Pasha geführten Kampf der Türkei gegen den britischen Imperialismus und seine griechischen Verbündeten.
Trotzki und die Vierte Internationale zur Einheitsfronttaktik
Leo Trotzki, der den Kampf der ArbeiterInnenklasse unter revolutionärer Fahne fortsetzte, nachdem die stalinistische Bürokratie 1924 die Macht übernommen hatte, hielt die marxistische Methode der Einheitsfronttaktik, wie sie von Lenin und der Komintern entwickelt worden war, aufrecht. Tatsächlich war er – neben Lenin – der Hauptbefürworter der Einheitsfronttaktik, als sie auf dem Dritten Kongress der Komintern verabschiedet wurde.
Trotzki verteidigte die grundlegenden Prinzipien der Einheitsfronttaktik gegen die stalinistischen opportunistischen Manöver bezüglich der britischen Gewerkschaftsbürokratie Mitte der 1920er: “Die Taktik der Einheitsfront behält ihre ganze Kraft als die wichtigste Methode des Kampfes um die Massen. Ein Grundprinzip dieser Taktik lautet: "Mit den Massen – immer; mit den schwankenden Führern – manchnam, aber nur solange sie an der Spitze der Massens stehen. Es ist notwendig, aus den schwankenden Führern Nutzen zu ziehen wenn die Massen sie nach vorne stossen, ohne deswegen auch nur für einen Moment auf die Kritik an diesen Führern zu verzichten. Und es ist notwendig mit ihnen zur richtigen Zeit zu brechen wenn aus ihren Schwankungen feindliche Aktionen und Verrat werden. Es ist notwendig, den Bruch zu nützen um die verräterischen Führer zu entlarven und ihre Position jener der Massen gegenüberzustellen. Genau darin besteht das revoltionäre Wesen der Einheitsfrontpolitik. Ohne dies droht der Kampf um die Massen zu einem opportunistischen Katzbuckeln zu verkommen … ” [14]
Später verzerrten die Stalinisten die Einheitsfronttaktik und ersetzten sie durch ihre Theorie des “Sozialfaschismus”, dergemäß die Sozialdemokratie bloß der “Zwilling” des Faschismus Hitlers wäre. Folglich wiesen die Stalinisten jedwede Einheitsfront mit den SozialdemokratInnen zurück, ein Standpunkt, der den reformistischen Führungen dazu verhalf, ihren Verrat zu rechtfertigen und verschiedene rechtslastige bonapartistische Regierungen zu unterstützen, ohne gegen den Aufstieg der NSDAP vor 1933 vorzugehen.
Trotzki verteidigte die Anwendung der Einheitsfronttaktik auch in antiimperialistischen und demokratischen Kämpfen. Zum Beispiel rief er zu kritscher, aber bedingungsloser Unterstützung von Chiang Kai-sheks Kampf gegen die japanische Invasion Ende der 1920er und 1930er auf (trotz der Tatsache, dass letztere zehntausende KommunistInnen 1927 ermordet hatten!): “Ganz richtig: gegen den Imperialismus muss man selbst dem Henker Tschiang Kai-schek helfen.” [15]
Trotzki wies die Kritik der Ultralinken zurück, die sich weigerten, sich dem antiimperialistischen Kampf unter bürgerlicher Führung anzuschließen, weil das eine Form von Volksfront bedeuten würde. Er rief 1937 RevolutionärInnen dazu auf, am militärischen Kampf gegen Japan unter der Führung von Chiang Kai-shek teilzunehmen und ihn zu unterstützen, solange sie nicht stark genug waren, ihn zu ersetzen. Er verglich die notwendige Taktik für RevolutionärInnen mit jener eines ArbeiterInnenstreiks unter der Führung verräterischer reformistischer BürokratInnen. Es wäre die Pflicht aller klassenbewussten Werktätigen, sich einem solchen Streik anzuschließen, ohne den Bürokraten politische Unterstützung zu gewähren. Trotzkis Haltung wird in einem Dokument, das er 1937 zum chinesischen Krieg gegen Japan schrieb, aus dem hier ausführlich zitiert wird, deutlich:
"Aber Tschiang Kai-schek? Wir haben es keineswegs nötig, uns die geringste Illusion über Tschiang Kai-schek, seine Partei und die gesamte herrschende Klasse Chinas zu machen, ebenso wenig wie sich Marx und Engels über die herrschenden Klassen Irlands und Polens Illusionen machten. Tschiang Kai-schek ist der Henker der chinesischen Arbeiter und Bauern. Daran braucht man uns gar nicht zu erinnern. Aber heute ist er trotz bösem Willen genötigt, um der Reste der chinesischen Unabhängigkeit willen gegen den japanischen Imperialismus Krieg zu führen. Morgen kann er wieder verraten. Das ist möglich. Das ist wahrscheinlich. Das ist sogar unvermeidlich. Aber heute führt er Krieg. An diesem Kriege nicht teilnehmen können nur Feiglinge, Schurken oder komplette Dummköpfe.
Um die Frage ganz klar zu machen, nehmen wir den Fall eines Streiks. Wir unterstützen nicht alle Streiks. Geht es zum Beispiel darum, durch den Streik aus einer Fabrik schwarze, chinesische oder japanische Arbeiter zu entfernen, so sind wir gegen den Streik. Wenn aber der Streik bezweckt, die Lage der Arbeiter um sei es auch noch so wenig zu verbessern, so sind wir die ersten, die daran teilnehmen, welches auch die Leitung sei. In der großen Mehrheit der Streiks sind die Führer Reformisten, berufsmäßige Verräter, Agenten des Kapitals. Sie widersetzen sich jedem Streik. Aber von Zeit zu Zeit werden sie durch den Druck der Massen oder durch die gesamte objektive Lage auf den Weg des Kampfes gedrängt. Stellen wir uns einmal einen Arbeiter vor, der sich sagte: «Ich will an dem Streik nicht teilnehmen, weil die Führer Agenten des Kapitals sind.» Diesen Doktrinär oder ultralinken Dummkopf gälte es mit seinem wahren Namen zu brandmarken: Streikbrecher. Der Fall des chinesisch-japanischen Krieges ist von diesem Gesichtspunkt ganz analog. Ist Japan ein imperialistisches Land und China das Opfer des Imperialismus, so sind wir auf Seiten Chinas. Der japanische Patriotismus ist die abscheuliche Maske internationaler Räuberei. Der chinesische Patriotismus ist rechtmäßig und fortschrittlich. Beide auf dieselbe Stufe stellen und von «Sozialpatriotismus» reden, kann nur der, der von Lenin nichts gelesen, von der Haltung der Bolschewiki im imperialistischen Krieg nichts verstanden hat, und der die Lehren des Marxismus nur kompromittieren und prostituieren kann. (…) Aber Japan und China befinden sich nicht auf derselben historischen Stufe. Der Sieg Japans würde die Versklavung Chinas, den Stillstand seiner ökonomischen und sozialen Entwicklung und eine furchtbare Verstärkung des japanischen Imperialismus bedeuten. Chinas Sieg dagegen würde die soziale Revolution in Japan und die freie, d.h. von äußerer Unterdrückung ungehinderte Entwicklung des Klassenkampfes in China bedeuten.
Aber kann Tschiang Kai-schek den Sieg sichern? Ich glaube es nicht. Aber er ist es, der den Krieg begann und der ihn heute leitet. Um ihn ersetzen zu können, gilt es entscheidenden Einfluss auf das Proletariat und die Armee zu gewinnen: und um das zu erreichen, muss man nicht in der Luft schweben bleiben, sondern sich auf die Basis dieses Krieges stellen. Es gilt Einfluss und Prestige im militärischen Kampf gegen den Einfall des äußeren Feindes und im politischen Kampf gegen die Schwächen, Mängel und den Verrat im Innern zu gewinnen. Auf einer gewissen Etappe, die wir nicht vorweg bestimmen können, kann und muss sich diese politische Opposition in bewaffneten Kampf verwandeln, denn der Bürgerkrieg wie der Krieg überhaupt ist nichts anderes als die Fortsetzung der Politik. Aber man muss auch wissen, wann und wie die politische Opposition zum bewaffneten Aufstand werden soll.
Während der chinesischen Revolution von 1925/27 haben wir die Komintern gegeißelt Doch warum? Das heißt es gut zu verstehen. Die Eiffelianer behaupten, wir hätten unsere Haltung in der chinesischen Frage geändert. Diese Geistesarmen haben eben von unserer Haltung 1925/27 nichts begriffen. Wir haben niemals die Pflicht der kommunistischen Partei geleugnet, am Krieg der Bürger und Kleinbürger des Südens gegen die Generäle des Nordens, Agenten des ausländischen Imperialismus, teilzunehmen. Wir haben nie die Notwendigkeit eines militärischen Blocks der kommunistischen Partei mit der Kuomintang bestritten. Im Gegenteil, wir sind die ersten gewesen, die ihn predigten. Aber wir verlangten, dass die kommunistische Partei, ihre volle organisatorische und politische Unabhängigkeit bewahre, d.h. dass im Bürgerkrieg gegen die inneren Agenten des Imperialismus wie im nationalen Kriege gegen den ausländischen Imperialismus die Arbeitervorhut, ohne die vorderste Linie des militärischen Kampfes zu verlassen, politisch den Sturz der Bourgeoisie vorbereitet. Wir verteidigen dieselbe Politik im heutigen Bürgerkrieg. Wir haben an unserer Haltung nicht ein i-Tüpfelchen geändert. Aber die Oehleristen und Eiffelianer haben nicht ein einziges i-Tüpfelchen unserer Politik begriffen, weder der von 1925/27 noch der von heute.
In meiner Erklärung an die bürgerliche Presse zu Beginn des letzten Konflikts zwischen Tokio und Nanking habe ich vor allem die Pflicht der revolutionären Arbeiter betont, aktiv am Kriege gegen den imperialistischen Unterdrücker teilzunehmen. Warum habe ich das getan? Weil es erstens vom marxistischen Standpunkt aus richtig und zweitens vom Standpunkt der Rettung unserer Freunde in China aus notwendig ist. Morgen wird die GPU, die mit der Kuomintang im Bunde steht (wie in Spanien mit Negrin), unsere Freunde als «Defätisten» und Agenten Japans hinstellen. Die besten von ihnen, Tschen Du-hsiu an der Spitze, können national und international kompromittiert und erschossen werden. Es galt mit aller notwendigen Energie zu betonen, dass die Vierte Internationale gegen Japan auf Seiten Chinas steht. Gleichzeitig fügte ich hinzu: ohne Verzicht auf das eigene Programm, noch auf die eigene Selbständigkeit.
Die Dummköpfe à la Eiffel versuchen sich über diesen «Vorbehalt» lustig zu machen: «Die Trotzkisten», sagen sie, «wollen Tschiang Kai-schek in der Tat und dem Proletariat mit Worten dienen». Aktiv und bewusst am Kriege teilnehmen, heißt nicht «Tschiang Kai-schek dienen», sondern der Unabhängigkeit eines Koloniallandes, Tschiang Kai-schek zum Trotz. Und das gegen die Kuomintang gerichtete «Wort» ist das Werkzeug zur Erziehung der Massen für Tschiang Kai-scheks Sturz. Bei Teilnahme am militärischen Kampf unter dem Oberbefehl Tschiang Kai-scheks – denn leider ist er es, der im Unabhängigkeitskrieg die Macht hat – politisch dessen Sturz vorbereiten, das ist die einzige revolutionäre Politik. Die Eiffelianer stellen dieser «nationalen und sozialpatriotischen» Politik die Politik des Klassenkampfes gegenüber. Sein ganzes Leben lang hat Lenin diese abstrakte und sterile Gegenüberstellung bekämpft. Das Interesse des Weltproletariats legt diesem die Pflicht auf, den unterdrückten Völkern in ihrem nationalen und patriotischen Kampf gegen den Imperialismus beizustehen. Wer dies bis heute, fast ein Vierteljahrhundert nach dem Weltkrieg, zwanzig Jahre nach der Oktoberrevolution, nicht begriffen hat, den soll die revolutionäre Vorhut als ihren schlimmsten inneren Feind unbarmherzig von sich weisen. Das eben trifft auf Eiffel und seinesgleichen zu." [16]
Im Übergangsprogramm, dem im Jahr 1938 geschriebenen Gründungsdokument der Vierten Internationale, versuchte Trotzki neuerlich, die Erfahrung der Bolschewiki zu verallgemeinern und zu zeigen, wie wichtig es für KommunistInnen ist, Forderungen an die reformistischen und kleinbürgerlichen Massenparteien der ArbeiterInnen und der Unterdrückten zu richten, um deren Basis zu erreichen.
“Diese Formel: ‘Arbeiter- und Bauernregierung’ ist erstmals im Jahre 1917 in der Agitation der Bolschewiken aufgetaucht und ist nach dem Oktoberumsturz endgültig bestätigt worden. In diesem letzteren Falle stellte sie nichts anderes dar als eine populäre Bezeichnung der bereits errichteten Diktatur des Proletariats. Die Bedeutung dieser Bezeichnung bestand vor allem darin, dass sie den Gedanken des Bündnisses zwischen Proletariat und Bauernschaft, das der Sowjetmacht zugrunde liegt, in den Vordergrund stellte.
Als die Komintern der Epigonen versuchte, die von der Geschichte längst begrabene Formel einer ‘demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft’ wieder aufleben zu lassen, gab sie der Formel der ‘Arbeiter- und Bauernregierung’ einen völlig anderen, rein ‘demokratischen’, d.h. bourgeoisen Inhalt, indem sie sie der Dikatutur des Proletariats entgegenstellte. Die Bolschewiki-Leninisten haben die Losung der ‘Arbeiter- und Bauernregierung’ in ihrer bürgerlich-demokratischen Auslegung entschieden verworfen. Sie haben versichert, und tun das auch weiterhin, dass sofern die Partei des Proletariats sich weigert, den Rahmen der bürgerlichen Demokratie zu verlassen, ihr Bündnis mit der Bauernschaft sich ganz einfach in eine Unterstützung des Kapitals verwandelt, wie das bei den Menschewiki und Sozialrevolutionären von 1917 und bei der chinesischen kommunistischen Partei 1925-1927 der Fall war und wie das jetzt bei den ‘Volksfronten’ in Spanien, Frankreich und anderen Ländern geschieht.
April-September 1917 forderten die Bolschewiki, dass die Sozialrevolutionäre und Menschewiki ihr Bündnis mit der liberalen Bourgeoisie lösen und die Macht in die eigene Hand nehmen sollten. Unter dieser Bedingung versprachen die Bolschewiki den Menschewiki und Sozialrevolutionären als den kleinbürgerlichen Repräsentanten der Arbeiter und Bauern ihre revolutionäre Hilfe gegen die Bourgeoisie, lehnten dabei jedoch kategorisch ab, einer Regierung von Menschewiki und Sozialrevolutionären beizutreten oder politische Verantwortung für sie zu übernehmen. Hätten die Menschewiki und Sozialrevolutionäre in der Tat mit den Kadetten und dem ausländischen Imperialismus gebrochen, so hätte die von ihnen geschaffene ‘Arbeiter- und Bauernregierung’ die Errichtung einer Diktatur des Proletariats nur beschleunigen und erleichtern können. Aber eben deshalb wehrten sich die Spitzen der kleinbürgerlichen Demokratie mit allen Kräften gegen die Errichtung ihrer eigenen Macht. Die Erfahrung Russlands hat gezeigt, und die Erfahrungen Spaniens und Frankreichs bestätigen es, dass die Parteien der kleinbürgerlichen Demokratie (Sozialrevolutionäre, Sozialdemokraten, Stalinisten und Anarchisten) selbst unter sehr günstigen Bedingungen nicht in der Lage sind, eine Arbeiter- und Bauernregierung zu errichten, d.h. eine von der Bourgeoisie unabhängige Regierung.
Dennoch hatte die Forderung der Bolschewiki an die Menschewiki und Sozialrevolutionäre ‘Brecht mit der Bourgeoisie, nehmt die Macht in eure Hände!’ für die Massen eine ungeheure erzieherische Bedeutung. Die hartnäckige Weigerung der Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die Macht zu ergreifen, die in den Julitagen auf so dramatische Weise deutlich wurde, vernichtete sie endgültig in den Augen des Volkes und bereitete den Sieg der Bolschewiki vor.
Die zentrale Aufgabe der Vierten Internationale besteht darin, das Proletariat von seiner alten Führung zu befreien, deren Konservativismus in völligem Gegensatz zu den katastrophalen Umständen des kapitalistischen Verfalls steht und für den historischen Fortschritt das stärkste Hindernis ist. Der Hauptvorwurf der Vierten Internationale gegen die traditionellen Organisationen des Proletariats ist, dass sie sich nicht von der Bourgeoisie lösen wollen, die politisch eine halbe Leiche ist. Unter diesen Bedingungen ist die systematisch an die alte Führung gerichtetet Forderung ‘Brecht mit der Bourgeoisie, ergreift die Macht!’ ein äußerst wichtiges Mittel, den verräterischen Charakter der Parteien und Organisationen der Zweiten, Dritten und der Amsterdamer Internationale bloßzustellen.
Die Losung der ‘Arbeiter- und Bauernregierung’ ist für uns nur in dem Sinne annehmbar, den sie 1917 bei den Bolschewiki hatte, d.h. als antibürgerliche, antikapitalistische Losung, aber auf keinen Fall in dem ‘demokratischen’ Sinne, den ihr später die Epigonenen gegeben haben, indem sie aus ihr statt einer Brücke zur sozialistischen Revolution die Hauptbarriere auf ihrem Wege machten.
Von all den Parteien und Organisationen, die mit Arbeitern und Bauern operieren und in ihrem Namen sprechen, fordern wir, dass sie politisch mit der Bourgeoisie brechen und den Weg des Kampfes um die Macht für die Arbeiter und Bauern einschlagen. Auf diesem Wege versprechen wir ihnen volle Unterstützung gegen die kapitalistische Rekation. Gleichzeitig entfalten wir eine unermüdliche Agitation um die Übergangsforderungen, welche unserer Ansicht nach das Programm der ‘Arbeiter- und Bauernregierung’ darstellen sollen.
Ist es möglich, mit den traditionellen Arbeiterorganisationen eine solche Regierung zu schaffen? Wie schon gesagt, zeigt die bisherige Erfahrung, dass das zumindest wenig wahrscheinlich ist. Man kann jedoch nicht im voraus kategorisch als theoretische Möglichkeit leugnen, dass die kleinbürgerlichen Parteien, inklusive der Stalinisten, durch ein ganz außergewöhnliches Zusammentreffen von Umständen (Krieg, Niederlagen, Finanzkrach, revolutionäre Massenerhebung usw.) beeinflusst, bei ihrem Bruch mit der Bourgeoisie weitergehen können, als sie eigentlich selbst gewollt haben. Jedenfalls ist das eine nicht zu bezweifeln: selbst wenn sich diese wenig wahrscheinliche Variante irgendwo und irgendwann ereignete und wenn sogar eine ‘Arbeiter- und Bauernregierung’ im oben angezeigten Sinne zustande käme, so würde sie nur eine kurze Episode auf dem Weg zur wirklichen Diktatur des Proletariats sein.
Es steht jedoch nicht dafür, sich mit Spekulationen zu beschäftigen. Die Agitation unter der Losung der Arbeiter- und Bauernregierung behält unter allen Umständen ihre enorme erzieherische Bedeutung. Und das nicht zufällig: Diese verallgemeinernde Losung bleibt vollkommen auf der Linie der politischen Entwicklung unserer Epoche (Bankrott und Zerfall der alten bürgerlichen Parteien, Zusammenbruch der Demokratie, Wachstum des Faschismus, wachsende Tendenz der Werktätigen zu einer aktiveren und offensiveren Politik). Deshalb soll eine jede unserer Übergangsforderungen zu ein und demselben politischen Schluss führen: Die Arbeiter sollen mit allen traditionellen Parteien der Bourgeoisie brechen, um gemeinsam mit den Bauern ihre eigene Macht errichten zu können.” [17]
Wir sehen also die Wichtigkeit, die Trotzki dem Thema der Einheitsfronttaktik als Werkzeug zur Stärkung und Vereinigung des Klassenkampfs der ArbeiterInnen und Unterdrückten wie auch zur Stärkung des Einflusses der revolutionären Partei in der ArbeiterInnenklasse und den Volksmassen und zu Unterminierung der Hegemonie der “Parteien der kleinbürgerlichen Demokratie” verlieh. Außerdem betrachtete Trotzki die Einheitsfronttaktik als bedeutendes Werkzeug für RevolutionärInnen nicht nur bezüglich der bürgerlichen (menschewistischen) ArbeiterInnenparteien, sondern auch bezüglich kleinbürgerlicher populistischer (sozialrevolutionärer) Kräfte, die über eine Massenbasis in den nicht-proletarischen unterdrückten Klassen und Schichten verfügen.
[1] Karl Marx und Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei (1848), in: MEW Bd. 4, S. 492f; siehe auch Friedrich Engels: Grundsätze des Kommunismus, in: MEW Bd. 4, S. 361ff
[2] Siehe dazu u.a. Friedrich Engels: Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten (1885), in MEW Bd. 21, S. 206; David Rjazanov: Marx und Engels nicht nur für Anfänger (1922), Kapitel 5, Berlin 1973; siehe auch die exzellente Studie von August H. Nimtz: Marx and Engels: Their contribution to the democratic breakthrough, Albany, New York 2000, (Kapitel 3 und 4); Otto Rühle: Karl Marx. Leben und Werk, Avalun-Verlag, Hellerau 1928, S. 182-188; August Nimtz: Marx and Engels – The Unsung Heroes of the Democratic Breakthrough, in: Science & Society, Bd. 63, No. 2 (Summer, 1999), S. 203-231
[3] Karl Marx und Friedrich Engels: Ansprache der Zentralbehörde an den Bund, März 1850, in: MEW Bd. 7, S. 245ff
[4] Siehe dazu die relevanten Resolutionen der Parteikonferenz vom Juli 1907 und January 1912 bzw. in: Robert H. McNeal and Richard Gregor: Resolutions and Decisions of the Communist Party of the Soviet Union, Bd. 2, The Early Soviet Period: 1917-1929, University of Toronto Press, Toronto 1974, S.116-117 und 150-153.
Siehe auch z.B. zwei ausgezeichnete Bände des marxistischen Historikers August Nimtz: Lenin's Electoral Strategy from Marx and Engels through the Revolution of 1905. The Ballot, the Streets—or Both as well as Lenin's Electoral Strategy from 1907 to the October Revolution of 1917. Beide veröffentlichen von Palgrave Macmillan US 2014.
Siehe auch Aleksej E. Badajev: Die Bolschewiki in der Reichsduma. Errinnerungen, Dietz Verlag Berlin 1957.
[5] W.I. Lenin: Der ‘radikale Kommunismus’, die Kinderkrankheit im Kommunismus, in: Lenin Werke (LW), Bd. 31, S. 56f.
[6] Thesen über die Taktik der Komintern, Resolution des IV.Weltkongreß der Kommunistischen Internationale, 1922; in: Die Kommunistische Internationale, Manifeste, Thesen und Resolutionen, Band II, Köln 1984, S.13-15.
[7] Thesen über die Taktik der Komintern, S.13.
[8] Leitsätze zur Orientfrage, Resolution des IV.Weltkongreß der Kommunistischen Internationale, 1922; in: Die Kommunistische Internationale, Manifeste, Thesen und Resolutionen, Band II, Köln 1984, S.44.
Bezüglich des marxistischen Verständnis der antiimperialistischen Einheitsfronttaktik verweisen wir auf Kapitel 12 und 13 unseres Buchs: Michael Pröbsting: The Great Robbery of the South Continuity and Changes in the Super-Exploitation of the Semi-Colonial World by Monopoly Capital. Consequences for the Marxist Theory of Imperialism. Vienna 2013, herausgegeben von der Revolutionary Communist International Tendency (Das Buch kann kostenfrei heruntergeladen werden bei www.great-robbery-of-the-south.net.)
Es gibt eine gekürzte deutsche Fassung: Der große Raub im Süden, Wien 2014
[9] Leitsätze zur Orientfrage, S.48
[10] Siehe dazu Dirk Hemje-Oltmanns: Arbeiterbewegung und Einheitsfront. Zur Diskussion der Einheitsfronttakitk in der KPD 1920/21, Verlag für das Studium der Arbeiterbewegung GmbH, Westberlin 1973; Arnold Reisberg: An den Quellen der Einheitsfrontpolitik, Dietz Verlag, Berlin 1971, Bd. 1 und 2, John Riddell: The Comintern in 1922. The Periphery Pushes Back, in: Historical Materialism 22.3–4 (2014), S. 52-103; Larry Peterson: German Communism, Workers' Protest, and Labor Unions. The Politics of the United Front in Rhineland - Westphalia 1920-1924, Springer Science+Business Media, B.V. 1993
[11] Communist International: Theses on Comintern Tactics (1922), S. 425-426
[12] W.I. Lenin: Der ‘linke Radikalismus’, eine Kinderkrankheit des Kommunismus, in: LW Bd. 31, S. 73ff
[13] Zu Quellen zu diesen interessanten Entwicklungen in Indonesien und China siehe unten im Kapitel V, wo diese Erfahrungen noch einmal diskutiert werden.
[14] Leon Trotsky: Resolution on the General Strike in Britain submitted to the Centrals Committee and Centrals Control Commission joint plenum, Juli 1926; in: Trotsky’s Writings on Britain, Vol. 2, New Park Publications, London 1974, S. 191 (unsere Übersetzung)
[15] Leon Trotsky: Leo Trotzki: Die Verteidigung der Sowjetrepublik und die Opposition. Die Ultralinken und der Marxismus. Welchen Weg geht der Leninbund? (1929); in: Writings 1929, S. 262
[16] Leo Trotzki: Über den chinesisch-japanischen Krieg (1937), in: Schriften 2.2, S. 865-867; (Hervorhebung im Original)
[17] Leo Trotzki: Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der IV. Internationale. Das Übergangsprogramm; Frankfurt/Main 1974, S. 31ff
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In den bisherigen beiden Kapiteln wurden die Grundsätze der Einheitsfronttaktik herausgearbeitet und gezeigt, wie die marxistischen Klassiker ihr Verständnis entwickelten. Vor der Diskussion spezifischer Fragen der Anwendung der Einheitsfronttaktik heute wollen wir einige wichtige Veränderungen, die sich seit der Zeit Lenins und Trotzkis ereignet haben, herausarbeiten. Wir beginnen mit einer Zusammenfassung der ökonomischen und sozialen Entwicklungen.
In unserem Buch The Great Robbery of the South haben wir wichtige Veränderungen der Zusammensetzun des Weltproletariats analysiert. [1] Hier fassen wir nocheinmal werden die wichtigsten Schlussfolgerungen zusammen und legen weitere akutelle Daten dar.
Die Verlagerung des Schwerpunkts des heutigen Weltproletariats in den Süden
Die RCIT hat immer betont, dass sich der Fokus der globalen kapitalistischen Produktion und daher auch des internationalen Proletariats im letzten halben Jahrhundert von den alten imperialistischen Metropolen (d.h. Nordamerika, Westeuropa und Japan) in den Süden (d.h. die halbkoloniale Welt plus die neuen imperialistischen Mächte, v.a. China) verschoben hat. Die Grundlage für diese Verlagerung war ein Prozess massiver Industrialisierung in den Ländern des Südens. Verursacht wurde der einerseits durch den allgemeinen ökonomischen Aufschwung in der langen Boomphase der 1950er und 1960er (begleitet von einem Aufschwung der landwirtschaftlichen Produktivität, beschleunigter Verstädterung usw.) sowie durch die massive Verlagerung des Kapitalexports aus den imperialistischen Monopolen in den Süden, um ihre Profite durch eine Intensivierung der Überausbeutung zu erhöhen.[2] Eine Zeitlang trug die Industrialisierung der stalinistischen degenerierten ArbeiterInnenstaaten Osteuropas, Ostasiens und Kubas auch zu dieser Entwicklung bei.
Das massive weltweite Wachstum der Arbeitskräfte der letzten Jahrzehnte fand hautpsächlich in der halbkolonialen Welt statt. 2014 standen 51,5% der weltweiten Arbeitskräfte mit einem Volumen von drei Milliarden Menschen in Lohnarbeit (siehe Abbildung 1). [3] Wie in dieser Grafik zeigt, wuchs der Anteil an LohnarbeiterInnen seit 1991 auf allen Kontinenten. [4]
Abbildung 1: Lohnarbeiter ( in % der Gesamtbeschäftigung), weltweit und regional, 1991-2014 [5]
Diese Proletarisierung hat auch die Frauen erfasst. Heute sind 46% aller arbeitenden Frauen LohnarbeiterInnen. [6]
Tabelle 1 zeigt das Wachstum der ArbeiterInnenklasse in den Regionen der Welt – als Anteil an allen Berustätigen – seit der Zeit knapp vor der Jahrtausendwende.
Tabelle 1: Anteil der LohnarbeiterInnen an der Gesamtbeschäftigung, 1999 und 2013 [7]
Region 1999 2013
Afrika 24.6% 26.2%
Asien 30.7% 40.2%
Lateinamerika und Karibik 59.0% 62.8%
Naher Osten 71.9% 80.3%
Osteuropa und Zentralasien 74.9% 78.3%
Entwickelte Ökonomien 84.1% 86.4%
Der Industrialisierungsprozess führte notwendigerweise zu einer Verlagerung des Proletariats aus den imperialistischen Metropolen in die ärmeren Länder und v.a. nach Asien (wo heute 60% der IndustriearbeiterInnen der Welt leben). Hundert Jahre zuvor – zu Zeiten Lenins und Trozkis – war das Proletariat in der kolonialen und halbkolonialen Welt recht klein. Eine kapitalistische Industrialisierung außerhalb Europas, Nordamerikas und Japans hatte nur zu einem relativ geringen Grad stattgefunden.
Seither hat sich das Wachstum der ArbeiterInnenklasse im Süden beschleunigt. Als Ergebnis lebt die große Mehrheit der weltweiten ArbeiterInnenklasse heute außerhalb der alten imperialistischen Metropolen. Das zeigt sich klar auf folgenden Tabellen und Abbildungen. Tabelle 2 zeigt den Anstieg der LohnarbeiterInnen in sogenannten “Entwicklungsländern” von 65,9% (1995) auf 72,4% (2008/09). Wenn man die halbkolonialen EU-Staaten ausschließt, liegt die Zahl für 2008/09 noch höher. Mit anderen Worten, drei Viertel der heutigen LohnarbeiterInnen leben und arbeiten in den halbkolonialen und aufstrebenden kapitalistischen Ländern.
Tabelle 2: Verteilung der LohnarbeiterInnen in den verschiedenen Regionen, 1995 und 2008/09 (in %) [8]
1995 2008/09
Welt 100% 100%
Niedriglohnländer 65.9% 72.4%
Hochlohnländer 34.1% 27.6%
Hochlohnländer (ohne halbkoloniale EU-Länder) - 25%
Niedriglohnländer (einschließlich halbkolonialer EU-Länder) - 75%
Diese Verlagerung zeigt sich auch, wenn die Kernbereiche der ArbeiterInnenklasse – die IndustriearbeiterInnen – untersucht werden. In Tabelle 3 ist ersichtlich, dass 2013 85,3% - mehr als 617 Millionen – aller Beschäftigten in der Industrie (die überwältigende Mehrheit davon ArbeiterInnen) außerhalb der alten imperialistischen Metropolen lebten, wo “nur” 14,7% - oder 106,8 Millionen – aller in der Industrie Beschäftigten lebten. Gleichzeitig lebten fast zwei Drittel (62,5%) aller IndustriearbeiterInnen in Asien (ausgenommen Russland und die ehemaligen Sowjetrepubliken).
Tabelle 3: Verteilung der Industriearbeitskräfte in verschiedenen Regionen, 2013 [9]
Arbeitskräfte Verteilung der
in der Industrie (in Millionen) industriellen Arbeitskräfte
Welt 724.4 100%
Entwickelte Ökonomien 106.8 14.7%
Osteuropa & ex-UdSSR 44.8 6.2%
Ostasien 250.1 34.5%
Südostasien 59.0 8.1%
Südasien 144.3 19.9%
Lateinamerika 58.3 8.0%
Naher Osten 18.7 2.6%
Nordafrika 13.0 1.8%
Sub-Sahara Afrika 29.3 4.0%
Abbildungen 2 und 3 bestätigen diese enorme Verlagerung und zeigen den Anstieg des Anteils der im Süden lebenden FertigungsindustriearbeiterInnen von etwa 50% (1980) auf etwa 73% (2008). Im Jahr 1950 lebten hingegen nur 34% des weltweiten Industrieproletariats im Süden.[10] Wir verweisen an dieser Stelle darauf, daß die Beschäftigungszahlen in Fertigung und Industrie jedoch nicht gleichbedeutend sind, denn Fertigung beinhaltet alle Industriesektoren außer dem Bergbau- und Bauwesen. In dem weiter gefaßten Begriff des Industriesektors werden letztere jedoch auch berücksichtigt.
Abbildung 2: Anteil der Entwicklungsländer an der Beschäftigung im Fertigungssektor, 1980–2008 [11]
Abbildung 3: Industriearbeitskräfte weltweit in entwickelten und Entwicklungsländern, 1950–2010 [12]
Die RCIT hat wiederholt darauf hingewiesen, dass die tatsächliche Verlagerung des Proletariats in die halbkolonialen und aufstrebenden imperialistischen Länder sogar noch höher zu veranschlagen ist, als die offiziellen Zahlen zeigen. Warum? Weil, wie oben angemerkt, die bürgerliche Kategorie “LohnarbeiterInnen” nicht nur ArbeiterInnen beinhaltet. Allgemein gesprochen kann man sagen, dass in den reichen kapitalistischen Ländern eine beträchtliche Minderheit der Lohnabhängigen nicht Teil der ArbeiterInnenklasse ist, sondern Teil der lohnabhängigen Mittelschicht (Aufsichtspersonal, Polizei, ManagerInnen der unteren Ebenen usw.).[13] In einer vor einiger Zeit veröffentlichten ausführlichen Analyse der Klassenstruktur schätzten wir, dass in den imperialistischen Ländern die überwiegende Anzahl der Lohnabhängigen – bis zu 90% der gesamten arbeitenden Bevölkerung – in etwa zu 2/3 ArbeiterInnenklasse und zu 1/3 als zur Mittelschicht gehörig eingeteilt werden kann.[14] In den ärmeren Ländern ist die entlohnte Mittelschicht jeoch viel kleiner.
Außerdem muss die Arbeiteraristokratie , die oberste Schicht der ArbeiterInnenklasse (z.B. bestimmte Bereiche hochbezahlter FacharbeiterInnen usw.), eingerechnet werden. Das ist der Teil des Proletariats, der von der Bourgeoisie mit diversen Privilegien buchstäblich bestochen wird. In den imperialistischen Ländern bildet diese Schicht einen viel höhern Anteil der ArbeiterInnenklasse als im halbkolonialen Proletariat. Die finanziellen Quellen zur Bezahlung der Arbeiteraristokratie in den imperialistischen Ländern, womit ihre ArbeiterInnenklassensolidarität untergraben werden soll, stammen genau aus den Extraprofiten, die die Monopolkapitalisten aus der Überausbeutung der halbkolonialen Länder sowie auch der MigrantInnen in den imperialistischen Ländern erhalten. Ganz offen nutzt das Monopolkapital diese Extraprofite, um die Unterstützung von Teilen der ArbeiterInnenklasse in den imperialistischen Ländern zu erhalten, denn am Heimatstandort brauchen die Kapitalisten die Stabilität am dringendsten. Damit kann die “eingekaufte” Arbeiteraristokratie in der halbkolonialen Welt viel kleiner sein.
Die Arbeiteraristokratie – mit ihrem Zwilling, der Arbeiterbürokratie – spielt eine dominante Rolle in den Gewerkschaften und reformistischen Parteien der imperialistischen Länder.
Gleichzeitig haben, wie andernorts gezeigt[15], die unteren Schichten der ArbeiterInnenklasse – v.a. MigrantInnen – ihren Anteil innerhalb der imperialistischen Länder bedeutend erhöht. In den USA beispielsweise stieg der Anteil der MigrantInnen in der Gesamtbevölkerung von 5,2% (1960) auf 12,3% (2000) bzw. über 14% (2010). In Westeuropa wuchs der Anteil der MigrantInnen von etwa 4,6% (1960) auf fast 10% (2010).[16] Gemäß der jüngsten Daten der Vereinten Nationen leben offiziell 172,6 Millionen MigrantInnen in den alten imperialistischen Ländern (“Hochlohnländern”) und bilden 13% der Gesamtbevölkerung.[17] Wie wiederholt betont unterschätzen offizielle Statistiken die Zahl der MigrantInnen unausweichlich, weil sie jene ohne legalen Status wie auch jene der zweiten oder dritten Generation nicht berücksichtigen.
Im Vergleich dazu veträgt der Anteil von MigrantInnen in “Niedriglohnländern” (und solchen mit mittleren Einkommen), d.h. in halbkolonialen Ländern und im aufstrebenden kapitalistischen China, nur 1%.[18]
MigrantInnen bilden einen entscheidenden Teil des Proletariats in den urbanen Zentren der imperialistischen Metropolen. Zu Beginn der 2000er-Jahre bestand die Hälfte der in New York wohnhaften ArbeiterInnen aus Schwarzen, Latinos oder anderen nationalen Minderheiten. In und um London wurden im Jahr 2000 29% bzw. 22% der EinwohnerInnen als ethnische Minderheit klassifiziert.[19] In unserer Studie zu Rassismus und MigrantInnen wurde gezeigt, dass in Wien (Hauptstadt Österreichs) MigrantInnen 44% der Bevölkerung ausmachen. Zwei Drittel davon kommen aus dem früheren Jugoslawien, der Türkei oder den osteuropäischen EU-Staaten.[20]
Eine weitere bedeutende Tatsache besteht darin, dass die ArbeiterInnen ohne oder mit geringer Qualifikation die riesige Mehrheit der LohnarbeiterInnen und Unterdrückten bilden, während hochqualifizierte Beschäftigte nur eine Minderheit darstellen (sogar in den alten imperialistischen Ländern). Auch wenn die Zahlen in den Tabellen 4 und 5 sich nicht nur auf die ArbeiterInnenklasse sondern auf Beschäftigte allgemein beziehen und auch wenn das Qualifikationsniveau nicht direkt etwas über die Entlohnung und Zugehörigkeit zur Unter- oder Mittelschicht bzw. Oberschicht der ArbeiterInnenklasse aussagt, so liefern die Zahlen nichtssdestotrotz einen klaren Hinweis auf die relativen Anteile der verschiedenen Schichten im Proletariat – weltweit und regional.
Tabelle 4: Anzahl und Anteil von Beschäftigten nach Qualifikation, weltweit und regional, 2013 (in Tausend) [21]