Marxismus und die Einheitsfronttaktik heute

Der Kampf für die proletarische Hegemonie in der Befreiungsbewegung und die Einheitsfronttaktik heute. Über die Anwendung der marxistischen Einheitsfronttaktik in den halb-kolonialen und imperialistischen Ländern in der gegenwärtigen Periode

Von Michael Pröbsting, Revolutionär-Kommunistische Internationale Tendenz, Mai 2016, www.thecommunists.net

 

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Inhalt

 

Vorwort


Einleitung


I. Zusammenfassung des Wesens der Einheitsfronttaktik


II. Die Einheitsfronttaktik in der Geschichte der revolutionären ArbeiterInnenbewegung

Marx und Engels zur Einheitsfront
Anwendung der Einheitsfronttaktik durch Lenin und die Bolschewiki
Kodifizierung der Einheitsfronttaktik durch die Kommunistische Internationale
Trotzki und die Vierte Internationale zur Einheitsfronttaktik

 

III. Der Kampf um die proletarische Hegemonie unter heutigen Bedingungen: soziale und ökonomische Veränderungen
Die Verlagerung des Schwerpunkts des heutigen Weltproletariats in den Süden
Das Elend der landlosen Bauernschaft und der städtischen Armut


IV. Der Kampf um proletarische Hegemonie unter heutigen Bedingungen: Politische Veränderungen
Die Krise der bürgerlichen ArbeiterInnenparteien
Die marxistischen Klassiker zur Arbeiterbürokratie
Der Aufstieg neuer reformistischer Parteien und des kleinbürgerlichen Populismus
Marxistische Klassiker zum Kampf um proletarische Hegemonie in der Befreiungsbewegung

 

V. Die Einheitsfronttatktik und kleinbürgerlich-nationalistischen und populistischen Parteien in der halbkolonialen Welt
“ArbeiterInnenpartei” oder “ArbeiterInnen- und Bauernpartei”?
Entrismustaktiken in kleinbürgerlich-populistischen Parteien
MarxistInnen und kleinbürgerlich-populistische Parteien: Wahltaktik und Regierungslosungen
Die Wandlung einer kleinbürgerlich-populistischen Partei zu einer bürgerlichen Partei und die Wahltaktiken


VI. Traditionelle reformistische Parteien, neue ArbeiterInnenpartei und Wahltaktiken
Kampf für eine Neue ArbeiterInnenpartei in der gegenwärtigen Periode
Engels, Lenin und Trotzki zur Taktik der ArbeiterInnenpartei
Die traditionellen reformistischen Parteien und Wahltaktiken heute


VII. Revolutionäre Taktik und kleinbürgerlich-populistische Parteien in imperialistischen Ländern
Sollen MarxistInnen zu kritischer Wahlunterstützung für Podemos in Spanien aufrufen?
Die TrotzkistInnen und die Farmer-Labor Party (FLP) in den US A in den 1930er Jahren
Zum Vergleich: die Grünen in den 1980ern und 1990er Jahren


VIII. Die Einheitsfronttaktik und der Befreiungskampf der nationalen Minderheiten und MigrantInnen in den imperialistischen Ländern
Zunehmende Mobilisierung nationaler/ethnischer Minderheiten und MigrantInnen zu demokratischen Fragen
Die Erfahrung der österreichischen Sektion der RCIT
Britannien: Respect als kleinbürgerlich-populistische Partei mit einer starken Basis unter den nationalen/ethnischen Minderheiten und MigrantInnen
Ein nützlicher Vergleich: Trotzki zu Organisationen der schwarzen Minderheit in den USA
Exkurs: Lenin zur Rolle der Partei als Avantgarde aller unterdrückten Klassen

 

Marxismus und die Einheitsfronttaktik heute (Vorwort und Einleitung)

Vorwort der Redaktion: Im Folgenden veröffentlichen wir das von Michael Pröbsting verfasste Buch „Marxismus und Einheitsfronttaktik“. Das Buch erschien ursprünglich in englischer Sprache im Mai 2016 als E-Book bzw. als Ausgabe 51 und 52 des englischsprachigen internationalen Journals der Revolutionär-Kommunistische Internationale Tendenz (RCIT).
Michael Pröbsting ist der Internationale Sekretär der RCIT. Alle Publikationen der RCIT können über unsere Kontaktadresse bezogen werden. Wir bedanken uns für die Übersetzung des Buches bei Gerline K.

 

 

* * * * * 

 

Einleitung

 

 

Das vorliegende Buch stellt eine ausführlichere Erläuterung der Thesen zur Einheitsfronttaktik dar, die die Revolutionär-Kommunistische Internationale Tendenz (RCIT) kürzlich auf einem internationalen Führungstreffen verabschiedet hat.[1] Wir empfehlen das Studium dieser Thesen in Verbindung mit dem vorliegenden Dokument.

 

Die Absicht dieses Buches ist es sowohl die Hauptgedanken der marxistischen Einheitsfronttaktik zusammenzufassen wie auch die Weiterentwicklung dieser Taktik, die in den Thesen ersichtlich wird, zu erklären.

 

Wie im Vorwort zu den Thesen erwähnt, basieren diese auf einem Dokument, das von der Vorgängerorganisation der RCIT – der Liga für eine Revolutionär Kommunistische Internationale – vertreten wurden und die wir im Jänner 1994 angenommen haben. Der Klassenkampf und die politischen Kräfte der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten haben in den letzten zwei Jahrzehnten wichtige Veränderungen und Entwicklungen erlebt. Unsere Erfahrung hat auch gezeigt, dass die damals angenommenen Thesen, ungeachtet ihrer allgemeinen Richtigkeit und ihres prinzipienfesten Charakters, gewisse Schwächen beinhalteten, die korrigiert werden mussten, um die Einheitsfronttaktik auf wahrhaft kommunistische Weise anwenden zu können.

 

Folglich hat die RCIT die alten Thesen grundlegend überarbeitet, so dass die vorliegenden Thesen und das zugehörige erläuternde Dokument als etwas Neues betrachtet werden können.

 

In den folgenden Kapiteln werden die Hauptmerkmale der Einheitsfronttaktik kurz zusammengefasst und die Herangehensweise der marxistischen Klassiker zu diesem Thema erarbeitet.[2] Dann werden wichtige soziale Entwicklungen in der ArbeiterInnenklasse und den Volksmassen sowie in ihren politischen Strukturen der letzten Jahrzehnte herausgearbeitet. Danach folgt die Diskussion, wie die Einheitsfronttaktik im Lichte einer Reihe neuer Entwicklungen (Aufstieg kleinbürgerlicher populistischer Parteien, Niedergang der klassischen reformistischen Parteien, die Rolle der nationalen Minderheiten und der MigrantInnen in den imperialistischen Ländern etc.) angewendet werden soll.

 

Schließlich sei darauf hingewiesen, dass, wenn von der revolutionären Partei die Rede ist, sich das genauso auf die kleineren Organisationen – also Vorstufen zur Partei – bezieht und damit auf den Zustand, in dem sich RevolutionärInnen derzeit befinden.

 

 



[1] RCIT-Thesen zur Einheitsfronttaktik. Thesen zu den Prinzipien der Einheitsfronttaktik und ihrer Anwendung unter den heutigen Klassenkampfbedingungen, Dokument des Internationalen Exekutivkomitees der Revolutionär-Kommunistischen Internationalen Tendenz, 9 April 2016, in: Revolutionärer Kommunismus Nr. 18, https://www.thecommunists.net/home/deutsch/einheitsfronttaktik/

[2] Kurze Bemerkung zu den Zitaten aus den Werken von Marx, Engels, Lenin und Trotzki: Es wurden die uns vorliegenden gedruckten Werke benutzt. Eine Reihe ihrer Schriften (v.a. bei Lenin, aber auch den anderen) kann auch auf der Website des Marxist Internetarchivs gefunden werden www.marxists.org

 

Marxismus und die Einheitsfronttaktik heute: I. Zusammenfassung des Wesens der Einheitsfronttaktik

 

Das Ziel der Einheitsfronttaktik besteht darin, den KommunistInnen die Vertiefung ihrer Beziehung zur und ihres Einflusses auf die ArbeiterInnenklasse und die Unterdrückten zu ermöglichen. Die Kommunistische Internationale fasste dieses Ziel auf ihrem Dritten Weltkongress 1921 in der Losung “Zu den Massen” zusammen. Um das zu erreichen, müssen KommunistInnen so eng wie möglich mit ArbeiterInnen zusammenarbeiten, die – zumindest derzeit – ihre Meinungen nicht teilen. Dadurch soll die größtmögliche Einheit mit allen Werktätigen und Unterdrückten in unserem gemeinsamen Kampf gegen die herrschende Klasse und den Imperialismus erwirkt werden.

 

Gleichzeitig müssen KommunistInnen diese gemeinsame Erfahrung des Kampfs Seite an Seite mit nicht-revolutionären ArbeiterInnen und Unterdrückten dazu nutzen, um das politische Bewusstsein letzerer zu heben, denn – wie es der Vater des russischen Marxismus, Georgi Plechanow, so treffend formulierte: Der einzige Zweck und die unmittelbare und geheiligte Pflicht der SozialistInnen ist die Förderung des Klassenbewusstseins des Proletariats.” Unter Nutzung der eigenen Erfahrungen der ArbeiterInnen und den Unterdrückten müssen KommunistInnen ihnen dabei helfen, das Versagen und den Verrat ihrer traditionellen Führungen besser zu verstehen und sie von der Richtigkeit der Linie der revolutionären Partei zu überzeugen.

 

Die Prinzipien der Einheitsfronttaktik können in der militärischen Metapher “getrennt marschieren, vereint schlagen” zusammengefasst werden. Das heißt, dass RevolutionärInnen ihre Kräfte mit anderen nicht-revolutionären Organisationen vereinen, um praktische gemeinsame Aktionen für spezifische Ziele gegen einen jeweiligen Feind zu oganisieren. In diesem Handeln behalten KommunistInnen ihre volle politische und organisatorische Unabhängigkeit. Mit anderen Worten, die revolutionäre Organisation verbreitet ihre eigene Propaganda und Agitation, die sich in der jeweiligen Frage beträchtlich von den Ansichten der diversen Kräfte, mit denen sie sich in der Einheitsfront verbündet, unterscheiden kann. Solche Propaganda und Agitation mag unter bestimmten Umständen auch strenge Warnungen oder Kritik oder Anprangerung ebendieser Verbündeten bedeuten, etwa wenn letztere den Kampf für die gemeinsam vereinbarten Ziele verraten wollen. Kurz, KommunistInnen sollten die Einheitsfronttaktik dazu nutzen, Einheit in der Tat mit anderen Kräften gegen einen gemeinsamen Feind zu erlangen, wobei sie jedoch immer ihre eigene politische und organisatorische Unabhängigkeit bewahren. Aus diesem Grund sollten KommunistInnen keine gemeinsame Propaganda mit nicht-revolutionären Kräften, mit denen sie in der Einheitsfront verbündet sind, herausgeben. Die einzigen gemeinsamen Publikationen, zu denen KommunistInnen beitragen können, müssen konkret mit den Aktivitäten der Einheitsfront verknüpft sein (z.B. Bulletins von Streikkomitees, Flugblätter zur Ankündigung von Demonstrationen etc.) und auf die Agitation um die Forderungen und Ziele der Einheitsfront ausgerichtet sein.

 

Gleichzeitig muss es von vornherein Zustimmung zu unbegrenzter Propagandafreiheit für RevolutionärInnen (wie für alle anderen an der Einheitsfront teilnehmenden Kräfte) geben. Diese Freiheit muss, wie schon oben angeführt, das Recht auf allenfalls notwendige Kritik an reformistischen und populistischen Führungskadern, die an der gemeinsamen Aktion beteiligt sind, beinhalten.

 

Die Einheitsfront muss sich auf konkrete und genaue Forderungen stützen. RevolutionärInnen stellen sich gegen ausführliche politische Erklärungen durch das Einheitsfrontbündnis oder gemeinsame Propaganda für langfristige Ziele. Letztere dienen nur der Verdunkelung der wahren Absicht der Einheitsfront und können den irreführenden Eindruck hervorrufen, dass RevolutionärInnen und Nicht-RevolutionärInnen hinsichtlich eines gemeinsamen langfristig angelegten politischen Programms übereinstimmen.

 

Im Allgemeinen richten KommunistInnen als erste Priorität die Einheitsfronttaktik auf Massenorganisationen aus, die über eine Basis in der ArbeiterInnenklasse verfügen; sie wenden sich aber auch an Gruppen mit Wurzeln in anderen unterdrückten Schichten und Klassen (z.B. Bauernschaft, Stadtarmut, unterdrückte Nationen, MigrantInnen). Üblicherweise handelt es sich dabei um reformistische (sozialdemokratische oder stalinistische) oder kleinbürgerliche Kräfte (z.B. Castro-Chavististische Organisationen in Lateinamerika, diverse islamistisch-populistische Organisationen im Nahen Osten und Asien, kleinbürgerliche NationalistInnen unterdrückter Nationen usw.), die jeweils gerade objektiv mit reaktionären Kräfte zusammenstoßen oder sich im Konflikt mit ihnen befinden (d.h. der herrschenden Klasse, imperialistischen Mächten, rassistischen oder faschistischen Kräften). Natürlich ist die Rolle der kleinbürgerlichen populistischen Kräfte im Klassenkampf in den unterdrückten Klassen und Schichten in der halbkolonialen Welt viel bedeutender als in den imperialistischen Ländern (mehr dazu weiter unten).

 

Unter besonderen Umständen kann die Einheitsfront auch auf bürgerliche Kräfte in der halbkolonialen Welt ausgerichtet sein – z.B. wenn diese gegen eine imperialistische Invasion in ein halbkoloniales Land kämpfen.

 

In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass der Unterschied zwischen einer legitimen Einheitsfront und einer unzulässigen Volksfront nicht die offene Teilnahme bürgerlicher oder kleinbürgerlicher Kräfte an sich ist, sondern vielmehr die politische Unterordnung des Proletariats unter das Programm der Bourgeoisie. Mit anderen Worten, eine unzulässige Volksfront ist ein Block von bürgerlichen Kräften und ArbeiterInnenorganisationen, in dem letztere ein Programm akzeptieren, dass die Werktätigen auf die durch das Privateigentum gesetzten Grenzen beschränkt und den bürgerlichen Staat schützt.

 

Die Geschichte kennt viele Beispiele dafür, dass eine solche Volksfront eine tödliche Falle für die ArbeiterInnenklasse und die Unterdrückten ist. Sie dient der Verteidigung des kapitalistischen Gesellschaftssystems durch die offiziellen reformistischen oder populistischen Führungen und stärkt daher nur die Bourgeoisie, nicht die ArbeiterInnenklasse. Die politische Unterwerfung des Proletariats unter die Bourgeoisie schwächt erstere und erlaubt der herrschenden Klasse oder sogar faschistischen Kräften, den Widerstand der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten zu zerschlagen. Spanien 1936, Chile 1973, Griechenland 2015 sind nur einige wenige Beispiele für die verheerenden Konsequenzen der Volksfrontstrategie für das Proletariat.

 

Die Einheitsfronttaktik kann in zahlreichen Gebieten und für alle Themen, die mit dem Klassenkampf zusammenhängen, angewendet werden. Sie soll die Arbeit von RevolutionärInnen mit und in Gewerkschaften, anderen Massenorganisationen der ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten wie auch mit Parteien (einschließlich der “Entrismusarbeit” innerhalb der Parteien) anleiten. Sie ist eine wichtige Taktik im täglichen Kampf um ökonomische und demokratische Forderungen, gegen imperialistische oder nationale Unterdrückungen usw. Aus diesen verschiedenen Fragen ergeben sich die verschiedenen Varianten der Einheitsfront (ArbeiterInneneinheitsfront, demokratische oder antiimperialistische Einheitsfront). Und alle diese Varianten unterliegen grundsätzlich denselben Prinzipien der allgemeinen Taktik der Einheitsfront.

 

Die Einheitsfronttaktik kann unter besonderen Umständen auch auf Wahlen ausgedehnt werden. KommunistInnen nutzen Wahlperioden – die üblicherweise Perioden von erhöhtem politischen Interesse in der Bevölkerung sind –, um jene klassenbewussten ArbeiterInnen und Unterdrückten anzusprechen, die Illusionen in reformistische ArbeiterInnenparteien oder populistische Parteien haben. Im Gegensatz zu den Behauptungen von Sektierern sind diese Teile der ArbeiterInnenklasse meist viel größer als die Anzahl der Werktätigen und Unterdrückten, die ihre Illusionen bereits verworfen und ein höheres, linkers Bewusstsein entwickelt haben. Wenn RevolutionärInnen zu schwach sind, um eigene KandidatInnen aufzustellen, wenden sie die leninistische Taktik der kritischen Wahlunterstützung für reformistische ArbeiterInnenparteien an (üblicherweise die sozialdemokratischen oder stalinistischen Parteien). RevolutionärInnen können sogar eine kritische Wahlunterstützung für kleinbürgerliche populistische Parteien mit starker Basis unter kämpferischen Werktätigen und Unterdrückten aussprechen, wenn es keine sozialdemokratischen oder stalinistischen Parteien gibt, diese nur eine zahlenmäßig unbedeutende Erscheinung darstellen oder bereits völlig verbürgerlicht sind.

 

Natürlich gibt es der Anwendung der kritischen Wahlunterstützung wichtige Ausnahmen bzw. Einschränkungen. Wie in den Thesen festgehalten: “In Situationen, wo eine bürgerliche Arbeiterpartei (für gewöhnlich als Regierungspartei) sich als Einpeitscherin bzw. Exekutorin schwerer Angriffe auf die Arbeiterklasse erweist – Austeritätsprogramme, imperialistischer Krieg, rassistische Hetze, Angriff auf demokratische Rechte o.ä. – ist es notwendig, dass Revolutionäre nicht zur Wahl dieser Partei aufrufen um so der Avantgarde bei ihrem politischen Ablösungsprozess von dieser Partei zu helfen.” [1]

 

Die Einheitsfronttaktik wurde von Lenin und Trotzki auch dahingehend ausgeweitet, Losungen für eine erwünschte Regierung zu entwickeln. Wo große Teile der klassenbewussten ArbeiterInnen und stark unterdrückten Schichten Illusionen in die “Parteien der kleinbürgerlichen Demokratie” (Trotzki) – d.h. SozialdemokratInnen, Stalinisten, kleinbürgerliche PopulistInnen – haben, rufen KommunistInnen dazu auf, mit der Bourgeoisie zu brechen und für eine “ArbeiterInnen- und Bauernregierung” (in einem halbkolonialen Land) oder eine ArbeiterInnenregierung (in den meisten imperialistischen Ländern) zu kämpfen. Weiters sind diese Losungen mit Forderungen verknüpft, dass solche Regierungen entschiedene Schritte zur Enteignung und Entwaffnung der Bourgeoisie, zur Verstaatlichung der Schlüsselbereiche der Wirtschaft unter ArbeiterInnenkontrolle, zur Enteignung der Großgrundbesitzer und die Verteilung des Landes an besitzlose Bauern usw. unternehmen sollen. Eine solche Regierung ist eine wahrhafte ArbeiterInnenregierung, verbündet mit der besitzlosen Bauernschaft und den städtischen Armut, sofern sie sich auf ArbeiterInnen- und Volksräte und –milizen stützt und ein Programm umsetzt, dass den Weg zur Errichtung der Diktatur des Proletariats eröffnet. Ansonsten ist sie nur eine reformistische und letztlich bürgerliche “ArbeiterInnen- und Bauernregierung”, die unausweichlich ein objektives Hindernis für den Klassenkampf darstellen und schlussendlich das kapitalistische System verteidigen wird.

 

Schließlich wenden RevolutionärInnen die Einheitsfronttaktik unter bestimmten Umständen auch auf den Bereich des Parteiaufbaus an. Natürlich ist das Hauptziel der KommunistInnen die Errichtung einer Weltpartei der Sozialistischen Revolution mit nationalen Sektionen in jedem Land. Im Lichte der zahlenmäßigen Schwäche der RevolutionärInnen und angesichts der Tatsache, dass in vielen Ländern nicht einmal bürgerliche ArbeiterInnenparteien existieren (und wo sie bestehen, diese oft völlig verbürgerlicht sind), müssen RevolutionärInnen die Einheitsfronttaktik so anwenden, dass sie die Gewerkschaften und andere Massenorganisationen der ArbeiterInnenklasse aufrufen, eine Neue ArbeiterInnenpartei aufzubauen. Solche Parteien würden anfangs nicht nur revolutionäre ArbeiterInnen und Unterdrückte umfassen, sondern auch viele Nicht-RevolutionärInnen. Tatsächlich wären die RevolutionärInnen in der Gründungsphase der Partei sehr wahrscheinlich nur eine kleine Minderheit. Doch diese würden offen für ihr Programm eintreten, d.h. für ein revolutionäres und nicht für ein reformistisches Programm. Wenn sie darin scheitern, eine Mehrheit der Mitglieder für ihre Sichtweise zu gewinnen, würden sie nicht notwendigerweise die Neue ArbeiterInnenpartei verlassen, sondern den Kampf für ein revolutionäres Programm innerhalb fortsetzen.

 



[1] RCIT-Thesen zur Einheitsfronttaktik, These 60

 

Marxismus und die Einheitsfronttaktik heute: II. Die Einheitsfronttaktik in der Geschichte der revolutionären ArbeiterInnenbewegung

 

 

Diese Prinzipien der Einheitsfronttaktik wurden im Klassenkampf entwickelt und erprobt und waren von Beginn an Teil des Arsenals des Marxismus, als Marx und Engels sie kurz vor der Revolution von 1848 erstmals skizzierten. Auf Grundlage ihrer Erfahrung und später jener der Bolschewiki schrieb die Kommunistische Internationale diese Lehren in den frühen 1920ern fest. Nach der Degeneration der stalinistischen Bürokratie entwickelten Trotzki und die Kräfte der späteren Vierten Internationale diese Taktik mit den Lehren des intensiven Klassenkampfs aus den 1920ern und 1930ern noch weiter.

 

 

 

Marx und Engels zur Einheitsfront

 

 

 

Friedrich Engels legte zuerst in seinen Grundsätzen des Kommunismus und später gemeinsam mit Marx im Kommunistischen Manifest die fundamentalen Ideen der Einheitsfronttaktik dar. In diesen Dokumenten erklärten sie die Notwendigkeit, gemeinsame Aktionen mit reformistischen ArbeiterInnenorganisationen, mit radikalen kleinbürgerlichen Gruppen und sogar mit der Bourgeoisie, sofern sie nicht die herrschende Klasse ist, zu unternehmen.

 

“Sie kämpfen für die Erreichung der unmittelbar vorliegenden Zwecke und Interessen der Arbeiterklasse, aber sie vertreten in der gegenwärtigen Bewegung zugleich die Zukunft der Bewegung. In Frankreich schließen sich die Kommunisten an die sozialistisch-demokratische Partei an gegen die konservative und radikale Bourgeoisie, ohne darum das Recht aufzugeben, sich kritisch zu den aus der revolutionären Überlieferung herrührenden Phrasen und Illusionen zu verhalten.

 

In der Schweiz unterstützen sie die Radikalen, ohne zu verkennen, dass diese Partei aus widersprechenden Elementen besteht, teils aus demokratischen Sozialisten im französischen Sinn, teils aus radikalen Bourgeois.

 

 Unter den Polen unterstützen die Kommunisten die Partei, welche eine agrarische Revolution zur Bedingung der nationalen Befreiung macht, dieselbe Partei, welche die Krakauer Insurrektion von 1846 ins Leben rief.

 

In Deutschland kämpft die Kommunistische Partei, sobald die Bourgeoisie revolutionär auftritt, gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute Monarchie, das feudale Grundeigentum und die Kleinbürgerei.

 

Sie unterlässt aber keinen Augenblick, bei den Arbeitern ein möglichst klares Bewusstsein über den feindlichen Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat herauszuarbeiten, damit die deutschen Arbeiter sogleich die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, welche die Bourgeoisie mit ihrer Herrschaft herbeiführen muss, als ebenso viele Waffen gegen die Bourgeoisie kehren können, damit, nach dem Sturz der reaktionären Klassen in Deutschland, sofort der Kampf gegen die Bourgeoisie selbst beginnt. (…)

 

Mit einem Wort, die Kommunisten unterstützen überall jede revolutionäre Bewegung gegen die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Zustände.

 

In allen diesen Bewegungen heben sie die Eigentumsfrage, welche mehr oder minder entwickelte Form sie auch angenommen haben möge, als die Grundfrage der Bewegung hervor.

 

Die Kommunisten arbeiten endlich überall an der Verbindung und Verständigung der demokratischen Parteien aller Länder.

 

Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, dass ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung.” [1]

 

Diese taktischen Leitlinien wurden von Marx und Engels und ihren UnterstützerInnen auch in die Tat umgesetzt. In Köln und anderen deutschen Städten kollaborierten die Mitglieder des von Marx und Engels geführten Kommunistischen Bundes mit radikalen DemokratInnen und trieben so ihr kommunistisches Programm voran.[2]

 

In der Ausarbeitung der Lehren aus den revolutionären Kämpfen und ihren Niederlagen in der Revolution von 1848-49 in Europa warnten Marx und Engels KommunistInnen davor, ihre Losungen mit jenen der kleinbürgerlichen DemokratInnen verschwimmen zu lassen, denn der Verrat durch Letztere ist unausweichlich. In ihrer berühmten “Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850” betonten die Gründer der kommunistischen Bewegung die Notwendigkeit organisatorischer und politischer Unabhängigkeit in der Zusammenabeit mit solch kleinbürgerlichen Kräften.

 

Während also die demokratische Partei, die Partei der Kleinbürgerschaft, sich in Deutschland immer mehr organisierte, verlor die Arbeiterpartei ihren einzigen festen Halt, blieb höchstens in einzelnen Lokalitäten zu lokalen Zwecken organisiert und geriet dadurch in der allgemeinen Bewegung vollständig unter die Herrschaft und Leitung der kleinbürgerlichen Demokraten. Diesem Zustande muss ein Ende gemacht, die Selbständigkeit der Arbeiter muss hergestellt werden. (…) Die kleinbürgerlich-demokratische Partei in Deutschland ist sehr mächtig, sie umfasst nicht nur die große Mehrheit der bürgerlichen Einwohner der Städte, die kleinen industriellen Kaufleute und die Gewerksmeister; sie zählt in ihrem Gefolge die Bauern und das Landproletariat, solange dies noch nicht in dem selbständigen Proletariat der Städte eine Stütze gefunden hat. Das Verhältnis der revolutionären Arbeiterpartei zur kleinbürgerlichen Demokratie ist dies: Sie geht mit ihr zusammen gegen die Fraktion, deren Sturz sie bezweckt; sie tritt ihnen gegenüber in allem, wodurch sie sich für sich selbst festsetzen wollen. (…) Im gegenwärtigen Augenblicke, wo die demokratischen Kleinbürger überall unterdrückt sind, predigen sie dem Proletariat im allgemeinen Einigung und Versöhnung, sie bieten ihm die Hand und streben nach der Herstellung einer großen Oppositionspartei, die alle Schattierung in der demokratischen Partei umfasst, das heißt, sie streben danach, die Arbeiter in eine Parteiorganisation zu verwickeln, in der die allgemein sozial-demokratischen Phrasen vorherrschend sind, hinter welchen ihre besonderen Interessen sich verstecken, und in der die bestimmten Forderungen des Proletariats um des lieben Friedens willen nicht vorgebracht werden dürfen. Eine solche Vereinigung würde allein zu ihrem Vorteile und ganz zum Nachteile des Proletariats ausfallen. Das Proletariat würde seine ganze selbständige, mühsam erkaufte Stellung verlieren und wieder zum Anhängsel der offiziellen bürgerlichen Demokratie herabsinken. Diese Vereinigung muss also auf das entschiedenste zurückgewiesen werden. Statt sich abermals dazu herabzulassen, den bürgerlichen Demokraten als beifallklatschender Chor zu dienen, müssen die Arbeiter, vor allem der Bund, dahin wirken, neben den offiziellen Demokraten eine selbständige geheime und öffentliche Organisation der Arbeiterpartei herzustellen und jede Gemeinde zum Mittelpunkt und Kern von Arbeitervereinen zu machen, in denen die Stellung und Interessen des Proletariats unabhängig von bürgerlichen Einflüssen diskutiert werden.(…) Für den Fall eines Kampfes gegen einen gemeinsamen Gegner braucht es keiner besonderen Vereinigung. Sobald ein solcher Gegner direkt zu bekämpfen ist, fallen die Interessen beider Parteien für den Moment zusammen, und wie bisher wird sich auch in Zukunft diese nur für den Augenblick berechnete Verbindung von selbst herstellen. ” [3]

 

Marx und Engels sollten später die Einheitsfronttaktik auch auf viele andere Situationen anwenden, einschließlich der Gründung der Ersten Internationale 1864. David Rjazanov, ein russischer Marxist und der beste Marx/Engels-Experte seiner Zeit bis zu seiner Verhaftung und Exekution durch Stalin 1938, beschreibt in seinem Buch zur Geschichte des politischen Lebens von Marx und Engels, wie vorsichtig sie gegen die Politik der französischen ProudhonistInnen, der englischen Gewerkschaften, der anarchistischen UnterstützerInnen Bakunins und andere kämpfen mussten. Gleichzeitig trachteten sie nach der Vermeidung voreiliger Spaltungen und der Gewinnung der Basismitglieder ihrer GegnerInnen.

 

 

 

Anwendung der Einheitsfronttaktik durch Lenin und die Bolschewiki

 

 

 

Die Bolschewiki wandten später dieselbe Taktik im Kampf gegen den Zarismus an. Sie schlossen zahlreiche praktische Abkommen (zu Demonstrationen, Streiks, bewaffnetem Widerstand, praktischen Aspekten der Untergrundarbeit usw.) mit anderen Organisationen der ArbeiterInnen und der Bauernschaft – wie den Menschewiki, dem Jüdischen Bund, den Sozialrevolutionäre, den Trudoviki, den sozialrevolutionären MaximalistInnen, verschiedenen NationalistInnen etc. – sowie der StudentInnen und sogar der bürgerlichen Liberalen im Kampf gegen die zaristische Autokratie. Diese Taktik umfasste nicht nur praktische Zusammenarbeit, sondern immer wieder auch die Schaffung einer formell gemeinsamen Partei mit den Menschewiki. Unter dem Druck der ArbeiterInnenavantgarde waren die Bolschewiki sogar bereit, mit den Menschewiki zwischen 1905 und 1912 formell zu fusionieren, wobei sie aber einen schwierigen Fraktionskampf gegen sie führten und in Wahrheit die meiste Zei als unabhängige Kraft agierten. Die Bolschewiki schlossen auch wiederholt praktische Abkommen mit kleinbürgerlichen demokratischen Kräften der Bauerschaft (den Trudoviki und den Sozialrevolutionäre) und zu Beginn der Russischen Revolution 1905 versuchte Lenin sogar mit dem russisch-orthodoxen Priester Georgi Gapon zusammenzuabeiten. Die Bolschewiki gingen bei den Wahlen zur Duma von 1907 und 1912 auch taktische Vereinbarungen mit den Trudoviki und den Sozialrevolutionäre ein. [4]

 

Während des revolutionären Prozesses zwischen Februar und Oktober 1917 wandten die Bolschewiki die Einheitsfronttaktik an und forderten von den großen reformistischen Parteien, die damals die ArbeiterInnen und Bauernschaft repräsentierten – den Menschewiki und den Sozialrevolutionäre –, mit der Bourgeoisie zu brechen und die Macht in die eigenen Hände zu nehmen. Nachdem die Bolschewiki im Oktober erfolgreich die Macht übernommen hatten, bildeten sie eine Koalition mit dem linken Flügel der Sozialrevolutionäre. Während all der Zeit, in der sie die Einheitsfronttaktik verfolgten, behielten die Bolschewiki trotz dieser gemeinsamen praktischen Aktionen ihre unabhängige Propaganda bei und kritisierten die anderen an der Einheitsfront teilnehmenden Organisationen scharf.

 

In seinem Buch Der ‘linke Radikalimsus’, die Kinderkrankheit im Kommunismus von 1920 erklärte Lenin, dass die russischen RevolutionärInnen die Einheitsfront viele Male und unter verschiedenen Bedingungen anwenden mussten:

 

Es ist doch unmöglich, dass die deutschen Linken nicht wissen, dass die ganze Geschichte des Bolschewismus, sowohl vor als auch nach der Oktoberrevolution, voll ist von Fällen des Lavierens, des Paktierens, der Kompromisse mit anderen, darunter auch mit bürgerlichen Parteien! (…) Die russischen revolutionären Sozialdemokraten haben vor dem Sturz des Zarismus wiederholt die Dienste der bürgerlichen Liberalen in Anspruch genommen, d. h., sie haben eine Menge praktischer Kompromisse mit ihnen geschlossen. In den Jahren 1901 und 1902, noch vor der Entstehung des Bolschewismus, schloss die alte Redaktion der „Iskra" (zu der Plechanow, Axelrod, Sassulitsch, Martow, Potressow und ich gehörten) ein formelles politisches Bündnis (allerdings nicht auf lange) mit Struve, dem politischen Führer des bürgerlichen Liberalismus, verstand es aber gleichzeitig, ununterbrochen den rücksichtslosesten ideologischen und politischen Kampf gegen den bürgerlichen Liberalismus und gegen die geringsten Äußerungen seines Einflusses innerhalb der Arbeiterbewegung zu führen. Dieser Politik sind die Bolschewiki stets treu geblieben. Seit 1905 haben sie systematisch das Bündnis der Arbeiterklasse mit der Bauernschaft gegen die liberale Bourgeoisie und den Zarismus verfochten, ohne zugleich jemals die Unterstützung der Bourgeoisie gegen den Zarismus (z. B. im zweiten Stadium der Wahlen oder bei Stichwahlen) abzulehnen und ohne den unversöhnlichsten ideologischen und politischen Kampf gegen die bürgerlich-revolutionäre Bauernpartei, die „Sozialrevolutionäre", einzustellen, die sie als kleinbürgerliche, sich fälschlich zu den Sozialisten zählende Demokraten entlarvten. Im Jahre 1907 schlossen die Bolschewiki bei den Wahlen zur Duma auf kurze Zeit formell einen politischen Block mit den „Sozialrevolutionären". Mit den Menschewiki waren wir in den Jahren 1903—1912 wiederholt mehrere Jahre hindurch formell in einer einheitlichen sozialdemokratischen Partei, ohne jemals den ideologischen und politischen Kampf gegen diese Opportunisten und Schrittmacher des bürgerlichen Einflusses auf das Proletariat einzustellen. Während des Krieges gingen wir ein gewisses Kompromiss mit den „Kautskyanern", den linken Menschewiki (Martow) und einem Teil der „Sozialrevolutionäre" (Tschernow, Natanson) ein, tagten zusammen mit ihnen in Zimmerwald und Kienthal und erließen gemeinsame Manifeste, haben aber niemals den ideologischen und politischen Kampf gegen die „Kautskyaner", gegen die Martow und Tschernow eingestellt oder abgeschwächt (Natanson starb 1919 als uns durchaus nahestehender, mit uns fast solidarischer volkstümlerischer „revolutionärer Kommunist"). Im Augenblick des Oktoberumsturzes schlossen wir einen zwar nicht formellen, aber sehr wichtigen (und sehr erfolgreichen) politischen Block mit der kleinbürgerlichen Bauernschaft, indem wir das Agrarprogramm der Sozialrevolutionäre voll und ganz, ohne jede Änderung, übernahmen, d. h., wir gingen unzweifelhaft ein Kompromiss ein, um den Bauern zu beweisen, dass wir sie nicht majorisieren, sondern uns mit ihnen verständigen wollen. Gleichzeitig schlugen wir den „linken Sozialrevolutionären" einen (bald darauf von uns verwirklichten) formellen politischen Block einschließlich der Teilnahme an der Regierung vor. Nach Abschluss des Brester Friedens sprengten die linken Sozialrevolutionäre diesen Block und gingen später, im Juli 1918, zum bewaffneten Aufstand gegen uns und in der Folgezeit zum bewaffneten Kampf gegen uns über.[5]

 

Bekanntlich gingen die Bolschewiki aus diesen verschiedenen Anwendungen der Einheitsfront gestärkt hervor. Die zeitweiligen Allianzen und Manöver minderten ihren ideologischen und politischen Kampf in keinster Weise. Nur die Kombination beider Elemente – organisatorische und politische Unabhängigkeit einerseits und gemeinsame Aktion andererseits – machte es möglich, dass die Bolschewiki als Partei wachsen und stärker werden konnten.

 

 

 

Kodifizierung der Einheitsfronttaktik durch die Kommunistische Internationale

 

 

 

Die Kommunistische Internationale (Komintern), gegründet auf Initiative der Bolschewiki im März 1919, versuchte die Lehren der Vergangenheit zu verallgemeinern, die für die russischen RevolutionärInnen eine wesentliche Rolle gespielt hatten. Das war keine leichte Aufgabe und Lenin und Trotzki standen großen Hindernissen dabei gegenüber, die Komintern für ihre Sichtweise zu gewinnen. Einerseits mussten sie mit den Restbeständen der opportunistischen Vergangenheit der Sozialdemokratie fertigwerden, andererseits gab es diverse Schattierungen von ultralinker Abenteuerpolitik, denen die Erfahrung vieler früherer kommunistischer Parteien fehlte.

 

Schließlich konnten Lenin und Trotzki die Komintern für die Prinzipien der Einheitsfronttaktik gewinnen und der Dritte (1921) und der Vierte (1922) Kongress verschriftlichten diese. Der folgende ausgedehnte Abschnitt fasst die Lehren, denen sich die Komintern auf ihrem Vierten Kongress anschloss, zusammen:

 

"Aus all dem ergibt sich die Notwendigkeit der Taktik der Einheitsfront. Die Losung des 3. Kongresses "zu den Massen" hat jetzt mehr denn je Gültigkeit. Erst jetzt beginnt der Kampf um die Bildung der proletarischen Einheitsfront in einer größeren Zahl von Ländern. (…) Die Komintern fordert, daß alle kommunistischen Parteien und Gruppen die Taktik der Einheitsfront auf das Strengste durchführen, weil sie allein in der gegenwärtigen Periode den Kommunisten den sicheren Weg zur Eroberung der Mehrheit der Werktätigen weist. Die Reformisten brauchen jetzt die Spaltung. Die Kommunisten sind an der Zusammenfassung aller Kräfte der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus interessiert. Die Taktik der Einheitsfront bedeutet das Vorangehen der kommunistischen Avantgarde in den täglichen Kämpfen der breiten Arbeitermassen um ihre notwendigsten Lebensinteressen. In diesem Kampfe sind die Kommunisten sogar bereit, mit den verräterischen Führern der Sozialdemokraten und der Amsterdamer zu unterhandeln. Die Versuche der 2. Internationale, die Einheitsfront als organisatorische Verschmelzung aller "Arbeiterparteien" hinzustellen, sind selbstverständlich auf das Entschiedenste zurückzuweisen. (…)

 

Die Existenz selbständiger kommunistischer Parteien und deren vollständige Aktionsfreiheit gegen die Bourgeoisie und gegen die konterrevolutionäre Sozialdemokratie ist die wichtigste historische Errungenschaft des Proletariats auf die die Kommunisten unter keinen Umständen verzichten werden. Die kommunistischen Parteien allein verfechten die Interessen des gesamten Proletariats. Die Taktik der Einheitsfront bedeutet auch keinesfalls sogenannte "Wahlkombinationen" der Spitzen, die diese oder jene parlamentarischen Zwecke verfolgen. Die Taktik der Einheitsfront ist das Angebot des gemeinsamen Kampfes der Kommunisten mit allen Arbeitern, die anderen Parteien oder Gruppen angehören, und mit allen parteilosen Arbeitern zwecks Verteidigung der elementarsten Lebensinteressen der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie. Jeder Kampf um die kleinste Tagesforderung bildet eine Quelle revolutionärer Schulung, denn die Erfahrungen des Kampfes werden die Werktätigen von der Unvermeidlichkeit der Revolution und der Bedeutung des Kommunismus überzeugen. Eine besonders wichtige Aufgabe bei der Durchführung der Einheitsfront ist die Erreichung nicht nur agitatorischer, sondern auch organisatorischer Resultate. Keine einzige Gelegenheit darf verpaßt werden, um in der Arbeitermasse selbst organisatorische Stützpunkte (Betriebsräte, Kontrollkommissionen aus Arbeitern aller Parteien und Parteilosen, Aktionskomitees usw. zu schaffen. Das Wichtigste in der Taktik der Einheitsfront ist und bleibt die agitatorische und organisatorische Zusammenfassung der Arbeitermassen. Der wirkliche Erfolg der Einheitsfronttaktik erwächst von "unten", aus den Tiefen der Arbeitermasse selbst. Die Kommunisten können dabei aber nicht darauf verzichten, unter gewissen Umständen auch mit den Spitzen der gegnerischen Arbeiterparteien zu unterhandeln. Über den Gang dieser Unterhandlungen müssen die Massen jedoch dauernd und vollkommen unterrichtet sein. Die Selbständigkeit der Agitation der Kommunistischen Partei darf auch während der Verhandlungen mit den Spitzen keinesfalls eingeschränkt werden." [6]

 

Die Sektionen der Komintern sollten diesen Grundsätzen auch in kolonialen und halbkolonialen Ländern folgen und sie den jeweils konkreten Umständen anpassen. Dieselbe Resolution hielt dazu fest:

 

In den kolonialen und halbkolonialen Ländern hat die Komintern zweierlei Aufgaben: 1. einen Kern von kommunistischen Parteien zu schaffen, die die Gesamtinteressen des Proletariats vertreten, und 2. mit allen Kräften die nationalrevolutionäre Bewegung zu unterstützen, die sich gegen den Imperialismus richtet, zur Avantgarde dieser Bewegung zu werden und innerhalb der nationalen Bewegung die soziale Bewegung hervorzuheben und zu steigern.” [7]

 

Auf die antiimperialistische Einheitsfront geht die Komintern detaillierter in einer eigenen Resolution, die auf demselben Kongress diskutiert und verabschiedet wurde, ein. Diese Resolution erklärte die Wichtigkeit für RevolutionärInnen, sich dem Kampf um demokratische Aufgaben, um nationale Unabhängigkeit, gegen imperialistische Herrschft usw. anzuschließen.

 

Die Hauptaufgabe, die allen nationalrevolutionären Bewegungen gemeinsam ist, besteht in der Verwirklichung der nationalen Einheit und in der Erreichung der staatlichen Unabhängigkeit. Die reale und folgerichtige Lösung der Aufgabe hängt davon ab, inwieweit diese oder jene nationale Bewegung imstande sein wird, jede Verbindung mit den reaktionären feudalen Elementen abzubrechen und so breite werktätige Massen für sich zu gewinnen und in ihrem Programm den sozialen Forderungen dieser Massen Ausdruck zu verleihen. Indem die Kommunistische Internationale dem Umstande vollauf Rechnung trägt, dass Träger des Willens der Nation zu staatlicher Selbständigkeit unter verschiedenen geschichtlichen Verhältnissen die verschiedenartigsten Elemente sein können, unterstützt sie jede national-revolutionäre Bewegung gegen den Imperialismus. Gleichzeitig aber lässt sie nicht außer acht, dass nur eine konsequente revolutionäre Linie, die darauf abzielt, die breitesten Massen in den aktiven Kampf hineinzuziehen, und der unbedingte Bruch mit allen Anhängern einer Aussöhnung mit dem Imperialismus, im Interesse der eigenen Klassenherrschaft, die bedrückten Massen zum Siege zu führen vermag. [8]

 

Gleichzeitig betonte die Resolution die Notwendigkeit für KommunistInnen, ihre organisatorische und programmatische Unabhängigkeit angesichts des schwankenden Charakters bürgerlicher und kleinbürgerlicher Führungen des antiimperialistischen Kampfs beizubehalten.

 

Die Zweckmäßigkeit dieser Losung ergibt sich aus der Perspektive eines dauernden und langwierigen Kampfes mit dem Weltimperialismus, der die Mobilisierung aller revolutionären Elemente erfordert. Diese Mobilisierung ist um so notwendiger, als die einheimischen herrschenden Klassen geneigt sind, mit dem ausländischen Kapital Kompromisse zu schließen, die sich gegen die Lebensinteressen der Volksmassen richten. Und wie die Losung der proletarischen Einheitsfront im Westen zur Entlarvung des sozialdemokratischen Verrates an den Interessen des Proletariats beigetragen hat und weiter noch beiträgt, so wird die Losung der anti-imperialistischen Einheitsfront zur Entlarvung des Schwankens der einzelnen Gruppen des bürgerlichen Nationalismus beitragen. Diese Losung wird auch die Entwicklung des revolutionären Willens und die Klärung des Klassenbewusstseins der werktätigen Massen fördern und sie in die vordersten Reihen der Kämpfer nicht nur gegen den Imperialismus, sondern auch gegen die Überbleibsel des Feudalismus stellen.” [9]

 

Die KommunistInnen setzten diese Grundsätze in vielfacher Weise um. Eine der ersten Anwendungen war eine Initiative deutscher Metallarbeiter in der Ortsgruppe Stuttgart des Gewerkschaftsbunds ADGB im Dezember 1920. Hier genoss die Kommunistische Partei KPD bedeutenden Einfluss und sie brachte die Ortsgruppe dazu, eine Resolution anzunehmen, die die Führung ihrer Gewerkschaft und aller Gewerkschaften dazu aufrief, einen gemeinsamen Kampf um unmittelbare Forderungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen aufzunehmen (Senkung der Lebensmittelpreise, Steigerung der Arbeitslosenunterstützungen, Senkung der von Werktätigen bezahlten Steuern und Erhöhung der Steuern auf große Privatvermögen, Einrichtung von ArbeiterInnenkontrolle über Bestand und Verteilung von Rohstoffen und Nahrungsmitteln, Entwaffnung der reaktionären Gruppen und Bewaffnung der ArbeiterInnen).

 

Während die Gewerkschaftsführung zuerst diese Kampagne ignorierte, erhielt sie von vielen anderen Gewerkschaftsortsgruppen bald Unterstützung. Als Ergebnis entwarf die Führung der KPD, hauptsächlich Paul Levi und Karl Radek, einen Offenen Brief, der eine Erweiterung der Stuttgarter Initiative war. Dieser Brief richtete sich sowohl an die reformistischen ArbeiterInnenparteien (SPD, USPD, auch die kleine ultralinke KAPD) wie auch an alle Gewerkschaften. Die Arbeiterbürokratie schloss sich gemeinsamen Aktionen mit den KommunistInnen nicht an, doch die Kampagne stärkte den Einfluss der KommunistInnen in der ArbeiterInnenklasse und vor allem in den Gewerkschaften. [10]

 

Die Komintern erweiterte die Einheitsfronttaktik auch auf das Feld der Regierungslosungen und entwickelte entsprechende Losungen für eine “Arbeiterregierung” und eine “Arbeiter- und Bauernregierung”. Die Komintern hielt dazu fest: "Die Parteien der 2. Internationale versuchen, in diesen Ländern die Lage dadurch zu "retten", daß sie eine Koalition der Bürgerlichen und der Sozialdemokraten propagieren und verwirklichen. (…) Einer offenen oder maskierten bürgerlich-sozialdemokratischen Koalition stellen die Kommunisten die Einheitsfront aller Arbeiter und eine Koalition aller Arbeiterparteien auf ökonomischem und politischem Gebiete zum Kampfe gegen die bürgerliche Macht und zu ihrem schließlichen Sturz gegenüber. Im vereinten Kampfe aller Arbeiter gegen die Bourgeoisie soll der ganze Staatsapparat in die Hände der Arbeiterregierung gelangen, und dadurch sollen die Machtpositionen der Arbeiterklasse gestärkt werden." [11]

 

Lenin erklärte ganz ähnlich die Notwendigkeit für KommunistInnen, die Einheitsfronttaktik in Wahlkampagnen anzuwenden. Mit dem Beispiel Britanniens, wo die Kommunistische Partei klein war und die reformistische Labour Party die ArbeiterInnenbewegung dominierte, befürwortete Lenin die kritische Wahlunterstützung der KommunistInnen für die ReformistInnen.

 

Die Kommunistische Partei schlägt den Henderson und Snowden ein ‚Kompromiss’, ein Wahlabkommen vor: Wir kämpfen gemeinsam gegen das Bündnis Lloyd Georges und der Konservativen, verteilen die Parlamentssitze entsprechend der Zahl der von den Arbeitern für die Arbeiterpartei bzw. die Kommunisten abgegebenen Stimmen (nicht bei den Wahlen, sondern in einer besonderen Abstimmung), behalten uns aber die vollste Freiheit der Agitation, Propaganda und politischen Tätigkeit vor. Ohne die letzte Bedingung darf man sich natürlich nicht auf einen Block einlassen, denn das wäre Verrat: Die vollste Freiheit der Entlarvung der Henderson und Snowden müssen die englischen Kommunisten ebenso unbedingt verfechten und durchsetzen, wie die russischen Bolschewiki sie (fünfzehn Jahre lang, von 1903 bis 1917) gegenüber den russischen Henderson und Snowden, d. h. gegenüber den Menschewiki, verfochten und durchgesetzt haben.

 

Gehen die Henderson und Snowden den Block unter diesen Bedingungen ein, so werden wir gewonnen haben, denn für uns ist keineswegs die Zahl der Parlamentssitze wichtig, wir reißen uns nicht darum, wir werden in diesem Punkt nachgiebig sein (…) Wir werden gewonnen haben, denn wir werden unsere Agitation zu einem Zeitpunkt in die Massen tragen, da Lloyd George selbst sie „aufgeputscht" hat, und werden nicht nur der Arbeiterpartei helfen, schneller ihre Regierung zu bilden, sondern auch den Massen, schneller unsere ganze kommunistische Propaganda zu begreifen, die wir gegen die Henderson ohne jede Einschränkung und ohne etwas zu verschweigen treiben werden.

 

Lehnen die Henderson und Snowden den Block mit uns unter diesen Bedingungen ab, so werden wir noch mehr gewonnen haben. Denn wir werden den Massen sofort gezeigt haben (…), dass den Henderson ihre nahen Beziehungen zu den Kapitalisten lieber sind als der Zusammenschluss aller Arbeiter. (…) Wir werden sofort gewonnen haben, denn wir werden vor den Massen demonstriert haben, dass die Henderson und Snowden einen Sieg über Lloyd George fürchten, dass sie die alleinige Machtübernahme fürchten, dass sie bestrebt sind, heimlich die Unterstützung Lloyd Georges zu erlangen, der offen den Konservativen die Hand gegen die Arbeiterpartei reicht. Es muss bemerkt werden, dass bei uns in Rußland nach der Revolution vom 27. II. 1917 (alten Stils) die Propaganda der Bolschewiki gegen die Menschewiki und Sozialrevolutionäre (d. h. gegen die russischen Henderson und Snowden) gerade durch einen ebensolchen Umstand gewann. Wir erklärten den Menschewiki und Sozialrevolutionären: Nehmt die ganze Macht ohne die Bourgeoisie, denn ihr habt die Mehrheit in den Sowjets (auf dem I. Gesamtrussischen Sowjetkongreß im Juni 1917 hatten die Bolschewiki nur 13 Prozent der Stimmen). Aber die russischen Henderson und Snowden fürchteten sich, die Macht ohne die Bourgeoisie zu ergreifen, und als die Bourgeoisie die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung verschleppte, da sie sehr wohl wusste, dass die Wahlen den Sozialrevolutionären und Menschewiki die Mehrheit bringen würden (beide bildeten einen ganz engen politischen Block, denn sie vertraten praktisch ein und dieselbe kleinbürgerliche Demokratie), da waren die Sozialrevolutionäre und Menschewiki nicht imstande, gegen diese Verschleppung energisch und konsequent zu kämpfen.

 

Lehnen die Henderson und Snowden einen Block mit den Kommunisten ab, so werden die Kommunisten sofort gewonnen haben, was die Erobe rung der Sympathien der Massen und die Diskreditierung der Henderson und Snowden betrifft, und sollten wir dadurch einige Parlamentssitze verlieren, so ist das für uns ganz unwichtig. Wir würden unsere Kandidaten nur in einer ganz geringen Zahl absolut sicherer Wahlkreise aufstellen, d. h. dort, wo die Aufstellung unserer Kandidaten nicht dem Liberalen zum Sieg über den Labouristen (das Mitglied der Arbeiterpartei) verhelfen würde. Wir würden Wahlagitation treiben, Flugblätter zugunsten des Kommunismus verbreiten und in allen Wahlkreisen, in denen wir keinen eigenen Kandidaten aufstellen, empfehlen, für den Labouristen und gegen den Bourgeois zu stimmen. (…)

 

Den englischen Kommunisten fällt es jetzt sehr oft schwer, an die Masse auch nur heranzukommen, sich bei ihr auch nur Gehör zu verschaffen. Wenn ich als Kommunist auftrete und erkläre, dass ich dazu auffordere, für Henderson und gegen Lloyd George zu stimmen, so wird man mich gewiss anhören. Und ich werde nicht nur in populärer Weise erklären können, warum die Sowjets besser sind als das Parlament und die Diktatur des Proletariats besser ist als die Diktatur Churchills (…), sondern ich werde auch erklären können, dass ich Henderson durch meine Stimmabgabe ebenso stützen möchte, wie der Strick den Gehängten stützt; dass in dem Maße, wie sich die Henderson einer eigenen Regierung nähern, ebenso die Richtigkeit meines Standpunkts bewiesen wird, ebenso die Massen auf meine Seite gebracht werden und ebenso der politische Tod der Henderson und Snowden beschleunigt wird, wie das bei ihren Gesinnungsgenossen in Russland und in Deutschland der Fall war. [12]

 

Später, auf dem Zweiten Kongress der Komintern 1920, befürwortete Lenin auch den Entrismus der britischen Kommunistischen Partei in die Labour Party, um die Basis besser beeinflussen zu können.

 

Wie Lenin erklärte, hatten all diese Taktiken nichts gemeinsam mit Weichheit oder Reformismus, sondern waren Resultat des starken Dranges der KommunistInnen, sich enger mit den nicht-revolutionären Massen zu verbinden und der dringenden Nowendigkeit, die reformistischen Führungen vor ihren UnterstützerInnen zu diskreditieren; das geschah, indem ihnen in der Praxis demonstriert wurde, dass diese Führungen nicht willens und nicht fähig dazu sind, beständig für die Interessen der ArbeiterInnenklasse zu kämpfen.

 

Die KommunistInnen wandten auch die antiimperialistische Einheitsfronttaktik auf die kolonialen und halbkolonialen Länder an. In China unterstützten sie den Kampf von Sun Yat-sen gegen die reaktionären Kriegsherren, die als Agenten der ausländischen imperialistischen Mächte agierten. Im Herbst 1922 traten die KommunistInnen auf Vorschlag von Henk Sneevliet (ein Niederländer, der sich später für einige Zeit der Vierten Internationale anschloss) sogar der Partei von Sun Yat-sen bei – der Kuomintang. Diese Taktik bot den KommunistInnen, die ursprünglich nur eine kleine Gruppe Intellektueller ohne Wurzeln in der ArbeiterInnenklasse waren, die Möglichkeit, ihre Isolation zu überwinden und zu einer Massenpartei zu werden. Leider verwandelten die Stalinisten später diese erfolgreiche Taktik in eine opportunistische Kapitulation vor Chiang Kai-shek, dem neuen Führer der Kuomintang nach Sun Yat-sens Tod – statt sich mutig von dieser kleinbürgerlichen populistischen Partei abzuspalten, als sie zu einem Hindernis für den Klassenkampf wurde. Das führte 1927 zum fürchterlichen Massaker an zehntausenden KommunistInnen durch die Hand von Chiang Kai-sheks Armee.

 

Davor noch hatte Sneevliet eine bedeutende Rolle im Aufbau einer revolutionären Organisation in Indonesien (damals niederländische Kolonie) gespielt – der Indischen Sociaal-Democratische Vereeniging (ISDV). Diese Organisation beteiligte sich an antiimperialistischen Aktivitäten und schloss sich später einer islamistischen Massenorganisation an, die gegen die Kolonialverwaltung kämpfte – der Sarekat Islam (Islamische Union). Als die konservative Führung der islamistischen Organisation schließlich 1921 die RevolutionärInnen ausschloss, hatten die KommunistInnen bereits viele ArbeiterInnen und Bauern gewonnen. Sie sollten die erste asiatische Sektion der Komintern gründen – Perserikatan Komunis di Hindia (PKH, Kommunistische Vereinigung Indiens).[13]

 

Ebenso unterstützte die Sowjetunion den vom bürgerlichen Nationalisten Kemal Pasha geführten Kampf der Türkei gegen den britischen Imperialismus und seine griechischen Verbündeten.

 

 

 

Trotzki und die Vierte Internationale zur Einheitsfronttaktik

 

 

 

Leo Trotzki, der den Kampf der ArbeiterInnenklasse unter revolutionärer Fahne fortsetzte, nachdem die stalinistische Bürokratie 1924 die Macht übernommen hatte, hielt die marxistische Methode der Einheitsfronttaktik, wie sie von Lenin und der Komintern entwickelt worden war, aufrecht. Tatsächlich war er – neben Lenin – der Hauptbefürworter der Einheitsfronttaktik, als sie auf dem Dritten Kongress der Komintern verabschiedet wurde.

 

Trotzki verteidigte die grundlegenden Prinzipien der Einheitsfronttaktik gegen die stalinistischen opportunistischen Manöver bezüglich der britischen Gewerkschaftsbürokratie Mitte der 1920er: “Die Taktik der Einheitsfront behält ihre ganze Kraft als die wichtigste Methode des Kampfes um die Massen. Ein Grundprinzip dieser Taktik lautet: "Mit den Massen – immer; mit den schwankenden Führern – manchnam, aber nur solange sie an der Spitze der Massens stehen. Es ist notwendig, aus den schwankenden Führern Nutzen zu ziehen wenn die Massen sie nach vorne stossen, ohne deswegen auch nur für einen Moment auf die Kritik an diesen Führern zu verzichten. Und es ist notwendig mit ihnen zur richtigen Zeit zu brechen wenn aus ihren Schwankungen feindliche Aktionen und Verrat werden. Es ist notwendig, den Bruch zu nützen um die verräterischen Führer zu entlarven und ihre Position jener der Massen gegenüberzustellen. Genau darin besteht das revoltionäre Wesen der Einheitsfrontpolitik. Ohne dies droht der Kampf um die Massen zu einem opportunistischen Katzbuckeln zu verkommen …[14]

 

Später verzerrten die Stalinisten die Einheitsfronttaktik und ersetzten sie durch ihre Theorie des “Sozialfaschismus”, dergemäß die Sozialdemokratie bloß der “Zwilling” des Faschismus Hitlers wäre. Folglich wiesen die Stalinisten jedwede Einheitsfront mit den SozialdemokratInnen zurück, ein Standpunkt, der den reformistischen Führungen dazu verhalf, ihren Verrat zu rechtfertigen und verschiedene rechtslastige bonapartistische Regierungen zu unterstützen, ohne gegen den Aufstieg der NSDAP vor 1933 vorzugehen.

 

Trotzki verteidigte die Anwendung der Einheitsfronttaktik auch in antiimperialistischen und demokratischen Kämpfen. Zum Beispiel rief er zu kritscher, aber bedingungsloser Unterstützung von Chiang Kai-sheks Kampf gegen die japanische Invasion Ende der 1920er und 1930er auf (trotz der Tatsache, dass letztere zehntausende KommunistInnen 1927 ermordet hatten!): “Ganz richtig: gegen den Imperialismus muss man selbst dem Henker Tschiang Kai-schek helfen. [15]

 

Trotzki wies die Kritik der Ultralinken zurück, die sich weigerten, sich dem antiimperialistischen Kampf unter bürgerlicher Führung anzuschließen, weil das eine Form von Volksfront bedeuten würde. Er rief 1937 RevolutionärInnen dazu auf, am militärischen Kampf gegen Japan unter der Führung von Chiang Kai-shek teilzunehmen und ihn zu unterstützen, solange sie nicht stark genug waren, ihn zu ersetzen. Er verglich die notwendige Taktik für RevolutionärInnen mit jener eines ArbeiterInnenstreiks unter der Führung verräterischer reformistischer BürokratInnen. Es wäre die Pflicht aller klassenbewussten Werktätigen, sich einem solchen Streik anzuschließen, ohne den Bürokraten politische Unterstützung zu gewähren. Trotzkis Haltung wird in einem Dokument, das er 1937 zum chinesischen Krieg gegen Japan schrieb, aus dem hier ausführlich zitiert wird, deutlich:

 

"Aber Tschiang Kai-schek? Wir haben es keineswegs nötig, uns die geringste Illusion über Tschiang Kai-schek, seine Partei und die gesamte herrschende Klasse Chinas zu machen, ebenso wenig wie sich Marx und Engels über die herrschenden Klassen Irlands und Polens Illusionen machten. Tschiang Kai-schek ist der Henker der chinesischen Arbeiter und Bauern. Daran braucht man uns gar nicht zu erinnern. Aber heute ist er trotz bösem Willen genötigt, um der Reste der chinesischen Unabhängigkeit willen gegen den japanischen Imperialismus Krieg zu führen. Morgen kann er wieder verraten. Das ist möglich. Das ist wahrscheinlich. Das ist sogar unvermeidlich. Aber heute führt er Krieg. An diesem Kriege nicht teilnehmen können nur Feiglinge, Schurken oder komplette Dummköpfe.

 

Um die Frage ganz klar zu machen, nehmen wir den Fall eines Streiks. Wir unterstützen nicht alle Streiks. Geht es zum Beispiel darum, durch den Streik aus einer Fabrik schwarze, chinesische oder japanische Arbeiter zu entfernen, so sind wir gegen den Streik. Wenn aber der Streik bezweckt, die Lage der Arbeiter um sei es auch noch so wenig zu verbessern, so sind wir die ersten, die daran teilnehmen, welches auch die Leitung sei. In der großen Mehrheit der Streiks sind die Führer Reformisten, berufsmäßige Verräter, Agenten des Kapitals. Sie widersetzen sich jedem Streik. Aber von Zeit zu Zeit werden sie durch den Druck der Massen oder durch die gesamte objektive Lage auf den Weg des Kampfes gedrängt. Stellen wir uns einmal einen Arbeiter vor, der sich sagte: «Ich will an dem Streik nicht teilnehmen, weil die Führer Agenten des Kapitals sind.» Diesen Doktrinär oder ultralinken Dummkopf gälte es mit seinem wahren Namen zu brandmarken: Streikbrecher. Der Fall des chinesisch-japanischen Krieges ist von diesem Gesichtspunkt ganz analog. Ist Japan ein imperialistisches Land und China das Opfer des Imperialismus, so sind wir auf Seiten Chinas. Der japanische Patriotismus ist die abscheuliche Maske internationaler Räuberei. Der chinesische Patriotismus ist rechtmäßig und fortschrittlich. Beide auf dieselbe Stufe stellen und von «Sozialpatriotismus» reden, kann nur der, der von Lenin nichts gelesen, von der Haltung der Bolschewiki im imperialistischen Krieg nichts verstanden hat, und der die Lehren des Marxismus nur kompromittieren und prostituieren kann. (…) Aber Japan und China befinden sich nicht auf derselben historischen Stufe. Der Sieg Japans würde die Versklavung Chinas, den Stillstand seiner ökonomischen und sozialen Entwicklung und eine furchtbare Verstärkung des japanischen Imperialismus bedeuten. Chinas Sieg dagegen würde die soziale Revolution in Japan und die freie, d.h. von äußerer Unterdrückung ungehinderte Entwicklung des Klassenkampfes in China bedeuten.

 

Aber kann Tschiang Kai-schek den Sieg sichern? Ich glaube es nicht. Aber er ist es, der den Krieg begann und der ihn heute leitet. Um ihn ersetzen zu können, gilt es entscheidenden Einfluss auf das Proletariat und die Armee zu gewinnen: und um das zu erreichen, muss man nicht in der Luft schweben bleiben, sondern sich auf die Basis dieses Krieges stellen. Es gilt Einfluss und Prestige im militärischen Kampf gegen den Einfall des äußeren Feindes und im politischen Kampf gegen die Schwächen, Mängel und den Verrat im Innern zu gewinnen. Auf einer gewissen Etappe, die wir nicht vorweg bestimmen können, kann und muss sich diese politische Opposition in bewaffneten Kampf verwandeln, denn der Bürgerkrieg wie der Krieg überhaupt ist nichts anderes als die Fortsetzung der Politik. Aber man muss auch wissen, wann und wie die politische Opposition zum bewaffneten Aufstand werden soll.

 

Während der chinesischen Revolution von 1925/27 haben wir die Komintern gegeißelt Doch warum? Das heißt es gut zu verstehen. Die Eiffelianer behaupten, wir hätten unsere Haltung in der chinesischen Frage geändert. Diese Geistesarmen haben eben von unserer Haltung 1925/27 nichts begriffen. Wir haben niemals die Pflicht der kommunistischen Partei geleugnet, am Krieg der Bürger und Kleinbürger des Südens gegen die Generäle des Nordens, Agenten des ausländischen Imperialismus, teilzunehmen. Wir haben nie die Notwendigkeit eines militärischen Blocks der kommunistischen Partei mit der Kuomintang bestritten. Im Gegenteil, wir sind die ersten gewesen, die ihn predigten. Aber wir verlangten, dass die kommunistische Partei, ihre volle organisatorische und politische Unabhängigkeit bewahre, d.h. dass im Bürgerkrieg gegen die inneren Agenten des Imperialismus wie im nationalen Kriege gegen den ausländischen Imperialismus die Arbeitervorhut, ohne die vorderste Linie des militärischen Kampfes zu verlassen, politisch den Sturz der Bourgeoisie vorbereitet. Wir verteidigen dieselbe Politik im heutigen Bürgerkrieg. Wir haben an unserer Haltung nicht ein i-Tüpfelchen geändert. Aber die Oehleristen und Eiffelianer haben nicht ein einziges i-Tüpfelchen unserer Politik begriffen, weder der von 1925/27 noch der von heute.

 

In meiner Erklärung an die bürgerliche Presse zu Beginn des letzten Konflikts zwischen Tokio und Nanking habe ich vor allem die Pflicht der revolutionären Arbeiter betont, aktiv am Kriege gegen den imperialistischen Unterdrücker teilzunehmen. Warum habe ich das getan? Weil es erstens vom marxistischen Standpunkt aus richtig und zweitens vom Standpunkt der Rettung unserer Freunde in China aus notwendig ist. Morgen wird die GPU, die mit der Kuomintang im Bunde steht (wie in Spanien mit Negrin), unsere Freunde als «Defätisten» und Agenten Japans hinstellen. Die besten von ihnen, Tschen Du-hsiu an der Spitze, können national und international kompromittiert und erschossen werden. Es galt mit aller notwendigen Energie zu betonen, dass die Vierte Internationale gegen Japan auf Seiten Chinas steht. Gleichzeitig fügte ich hinzu: ohne Verzicht auf das eigene Programm, noch auf die eigene Selbständigkeit.

 

Die Dummköpfe à la Eiffel versuchen sich über diesen «Vorbehalt» lustig zu machen: «Die Trotzkisten», sagen sie, «wollen Tschiang Kai-schek in der Tat und dem Proletariat mit Worten dienen». Aktiv und bewusst am Kriege teilnehmen, heißt nicht «Tschiang Kai-schek dienen», sondern der Unabhängigkeit eines Koloniallandes, Tschiang Kai-schek zum Trotz. Und das gegen die Kuomintang gerichtete «Wort» ist das Werkzeug zur Erziehung der Massen für Tschiang Kai-scheks Sturz. Bei Teilnahme am militärischen Kampf unter dem Oberbefehl Tschiang Kai-scheks – denn leider ist er es, der im Unabhängigkeitskrieg die Macht hat – politisch dessen Sturz vorbereiten, das ist die einzige revolutionäre Politik. Die Eiffelianer stellen dieser «nationalen und sozialpatriotischen» Politik die Politik des Klassenkampfes gegenüber. Sein ganzes Leben lang hat Lenin diese abstrakte und sterile Gegenüberstellung bekämpft. Das Interesse des Weltproletariats legt diesem die Pflicht auf, den unterdrückten Völkern in ihrem nationalen und patriotischen Kampf gegen den Imperialismus beizustehen. Wer dies bis heute, fast ein Vierteljahrhundert nach dem Weltkrieg, zwanzig Jahre nach der Oktoberrevolution, nicht begriffen hat, den soll die revolutionäre Vorhut als ihren schlimmsten inneren Feind unbarmherzig von sich weisen. Das eben trifft auf Eiffel und seinesgleichen zu." [16]

 

Im Übergangsprogramm, dem im Jahr 1938 geschriebenen Gründungsdokument der Vierten Internationale, versuchte Trotzki neuerlich, die Erfahrung der Bolschewiki zu verallgemeinern und zu zeigen, wie wichtig es für KommunistInnen ist, Forderungen an die reformistischen und kleinbürgerlichen Massenparteien der ArbeiterInnen und der Unterdrückten zu richten, um deren Basis zu erreichen.

 

Diese Formel: ‘Arbeiter- und Bauernregierung’ ist erstmals im Jahre 1917 in der Agitation der Bolschewiken aufgetaucht und ist nach dem Oktoberumsturz endgültig bestätigt worden. In diesem letzteren Falle stellte sie nichts anderes dar als eine populäre Bezeichnung der bereits errichteten Diktatur des Proletariats. Die Bedeutung dieser Bezeichnung bestand vor allem darin, dass sie den Gedanken des Bündnisses zwischen Proletariat und Bauernschaft, das der Sowjetmacht zugrunde liegt, in den Vordergrund stellte.

 

Als die Komintern der Epigonen versuchte, die von der Geschichte längst begrabene Formel einer ‘demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft’ wieder aufleben zu lassen, gab sie der Formel der ‘Arbeiter- und Bauernregierung’ einen völlig anderen, rein ‘demokratischen’, d.h. bourgeoisen Inhalt, indem sie sie der Dikatutur des Proletariats entgegenstellte. Die Bolschewiki-Leninisten haben die Losung der ‘Arbeiter- und Bauernregierung’ in ihrer bürgerlich-demokratischen Auslegung entschieden verworfen. Sie haben versichert, und tun das auch weiterhin, dass sofern die Partei des Proletariats sich weigert, den Rahmen der bürgerlichen Demokratie zu verlassen, ihr Bündnis mit der Bauernschaft sich ganz einfach in eine Unterstützung des Kapitals verwandelt, wie das bei den Menschewiki und Sozialrevolutionären von 1917 und bei der chinesischen kommunistischen Partei 1925-1927 der Fall war und wie das jetzt bei den ‘Volksfronten’ in Spanien, Frankreich und anderen Ländern geschieht.

 

April-September 1917 forderten die Bolschewiki, dass die Sozialrevolutionäre und Menschewiki ihr Bündnis mit der liberalen Bourgeoisie lösen und die Macht in die eigene Hand nehmen sollten. Unter dieser Bedingung versprachen die Bolschewiki den Menschewiki und Sozialrevolutionären als den kleinbürgerlichen Repräsentanten der Arbeiter und Bauern ihre revolutionäre Hilfe gegen die Bourgeoisie, lehnten dabei jedoch kategorisch ab, einer Regierung von Menschewiki und Sozialrevolutionären beizutreten oder politische Verantwortung für sie zu übernehmen. Hätten die Menschewiki und Sozialrevolutionäre in der Tat mit den Kadetten und dem ausländischen Imperialismus gebrochen, so hätte die von ihnen geschaffene ‘Arbeiter- und Bauernregierung’ die Errichtung einer Diktatur des Proletariats nur beschleunigen und erleichtern können. Aber eben deshalb wehrten sich die Spitzen der kleinbürgerlichen Demokratie mit allen Kräften gegen die Errichtung ihrer eigenen Macht. Die Erfahrung Russlands hat gezeigt, und die Erfahrungen Spaniens und Frankreichs bestätigen es, dass die Parteien der kleinbürgerlichen Demokratie (Sozialrevolutionäre, Sozialdemokraten, Stalinisten und Anarchisten) selbst unter sehr günstigen Bedingungen nicht in der Lage sind, eine Arbeiter- und Bauernregierung zu errichten, d.h. eine von der Bourgeoisie unabhängige Regierung.

 

Dennoch hatte die Forderung der Bolschewiki an die Menschewiki und Sozialrevolutionäre ‘Brecht mit der Bourgeoisie, nehmt die Macht in eure Hände!’ für die Massen eine ungeheure erzieherische Bedeutung. Die hartnäckige Weigerung der Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die Macht zu ergreifen, die in den Julitagen auf so dramatische Weise deutlich wurde, vernichtete sie endgültig in den Augen des Volkes und bereitete den Sieg der Bolschewiki vor.

 

Die zentrale Aufgabe der Vierten Internationale besteht darin, das Proletariat von seiner alten Führung zu befreien, deren Konservativismus in völligem Gegensatz zu den katastrophalen Umständen des kapitalistischen Verfalls steht und für den historischen Fortschritt das stärkste Hindernis ist. Der Hauptvorwurf der Vierten Internationale gegen die traditionellen Organisationen des Proletariats ist, dass sie sich nicht von der Bourgeoisie lösen wollen, die politisch eine halbe Leiche ist. Unter diesen Bedingungen ist die systematisch an die alte Führung gerichtetet Forderung ‘Brecht mit der Bourgeoisie, ergreift die Macht!’ ein äußerst wichtiges Mittel, den verräterischen Charakter der Parteien und Organisationen der Zweiten, Dritten und der Amsterdamer Internationale bloßzustellen.

 

Die Losung der ‘Arbeiter- und Bauernregierung’ ist für uns nur in dem Sinne annehmbar, den sie 1917 bei den Bolschewiki hatte, d.h. als antibürgerliche, antikapitalistische Losung, aber auf keinen Fall in dem ‘demokratischen’ Sinne, den ihr später die Epigonenen gegeben haben, indem sie aus ihr statt einer Brücke zur sozialistischen Revolution die Hauptbarriere auf ihrem Wege machten.

 

Von all den Parteien und Organisationen, die mit Arbeitern und Bauern operieren und in ihrem Namen sprechen, fordern wir, dass sie politisch mit der Bourgeoisie brechen und den Weg des Kampfes um die Macht für die Arbeiter und Bauern einschlagen. Auf diesem Wege versprechen wir ihnen volle Unterstützung gegen die kapitalistische Rekation. Gleichzeitig entfalten wir eine unermüdliche Agitation um die Übergangsforderungen, welche unserer Ansicht nach das Programm der ‘Arbeiter- und Bauernregierung’ darstellen sollen.

 

Ist es möglich, mit den traditionellen Arbeiterorganisationen eine solche Regierung zu schaffen? Wie schon gesagt, zeigt die bisherige Erfahrung, dass das zumindest wenig wahrscheinlich ist. Man kann jedoch nicht im voraus kategorisch als theoretische Möglichkeit leugnen, dass die kleinbürgerlichen Parteien, inklusive der Stalinisten, durch ein ganz außergewöhnliches Zusammentreffen von Umständen (Krieg, Niederlagen, Finanzkrach, revolutionäre Massenerhebung usw.) beeinflusst, bei ihrem Bruch mit der Bourgeoisie weitergehen können, als sie eigentlich selbst gewollt haben. Jedenfalls ist das eine nicht zu bezweifeln: selbst wenn sich diese wenig wahrscheinliche Variante irgendwo und irgendwann ereignete und wenn sogar eine ‘Arbeiter- und Bauernregierung’ im oben angezeigten Sinne zustande käme, so würde sie nur eine kurze Episode auf dem Weg zur wirklichen Diktatur des Proletariats sein.

 

Es steht jedoch nicht dafür, sich mit Spekulationen zu beschäftigen. Die Agitation unter der Losung der Arbeiter- und Bauernregierung behält unter allen Umständen ihre enorme erzieherische Bedeutung. Und das nicht zufällig: Diese verallgemeinernde Losung bleibt vollkommen auf der Linie der politischen Entwicklung unserer Epoche (Bankrott und Zerfall der alten bürgerlichen Parteien, Zusammenbruch der Demokratie, Wachstum des Faschismus, wachsende Tendenz der Werktätigen zu einer aktiveren und offensiveren Politik). Deshalb soll eine jede unserer Übergangsforderungen zu ein und demselben politischen Schluss führen: Die Arbeiter sollen mit allen traditionellen Parteien der Bourgeoisie brechen, um gemeinsam mit den Bauern ihre eigene Macht errichten zu können.” [17]

 

Wir sehen also die Wichtigkeit, die Trotzki dem Thema der Einheitsfronttaktik als Werkzeug zur Stärkung und Vereinigung des Klassenkampfs der ArbeiterInnen und Unterdrückten wie auch zur Stärkung des Einflusses der revolutionären Partei in der ArbeiterInnenklasse und den Volksmassen und zu Unterminierung der Hegemonie der “Parteien der kleinbürgerlichen Demokratie” verlieh. Außerdem betrachtete Trotzki die Einheitsfronttaktik als bedeutendes Werkzeug für RevolutionärInnen nicht nur bezüglich der bürgerlichen (menschewistischen) ArbeiterInnenparteien, sondern auch bezüglich kleinbürgerlicher populistischer (sozialrevolutionärer) Kräfte, die über eine Massenbasis in den nicht-proletarischen unterdrückten Klassen und Schichten verfügen.

 

 

 



[1] Karl Marx und Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei (1848), in: MEW Bd. 4, S. 492f; siehe auch Friedrich Engels: Grundsätze des Kommunismus, in: MEW Bd. 4, S. 361ff

[2] Siehe dazu u.a. Friedrich Engels: Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten (1885), in MEW Bd. 21, S. 206; David Rjazanov: Marx und Engels nicht nur für Anfänger (1922), Kapitel 5, Berlin 1973; siehe auch die exzellente Studie von August H. Nimtz: Marx and Engels: Their contribution to the democratic breakthrough, Albany, New York 2000, (Kapitel 3 und 4); Otto Rühle: Karl Marx. Leben und Werk, Avalun-Verlag, Hellerau 1928, S. 182-188; August Nimtz: Marx and Engels – The Unsung Heroes of the Democratic Breakthrough, in: Science & Society, Bd. 63, No. 2 (Summer, 1999), S. 203-231

[3] Karl Marx und Friedrich Engels: Ansprache der Zentralbehörde an den Bund, März 1850, in: MEW Bd. 7, S. 245ff

[4] Siehe dazu die relevanten Resolutionen der Parteikonferenz vom Juli 1907 und January 1912 bzw. in: Robert H. McNeal and Richard Gregor: Resolutions and Decisions of the Communist Party of the Soviet Union, Bd. 2, The Early Soviet Period: 1917-1929, University of Toronto Press, Toronto 1974, S.116-117 und 150-153.

Siehe auch z.B. zwei ausgezeichnete Bände des marxistischen Historikers August Nimtz: Lenin's Electoral Strategy from Marx and Engels through the Revolution of 1905. The Ballot, the Streets—or Both as well as Lenin's Electoral Strategy from 1907 to the October Revolution of 1917. Beide veröffentlichen von Palgrave Macmillan US 2014.

Siehe auch Aleksej E. Badajev: Die Bolschewiki in der Reichsduma. Errinnerungen, Dietz Verlag Berlin 1957.

[5] W.I. Lenin: Der ‘radikale Kommunismus’, die Kinderkrankheit im Kommunismus, in: Lenin Werke (LW), Bd. 31, S. 56f.

[6] Thesen über die Taktik der Komintern, Resolution des IV.Weltkongreß der Kommunistischen Internationale, 1922; in: Die Kommunistische Internationale, Manifeste, Thesen und Resolutionen, Band II, Köln 1984, S.13-15.

[7] Thesen über die Taktik der Komintern, S.13.

[8] Leitsätze zur Orientfrage, Resolution des IV.Weltkongreß der Kommunistischen Internationale, 1922; in: Die Kommunistische Internationale, Manifeste, Thesen und Resolutionen, Band II, Köln 1984, S.44.

Bezüglich des marxistischen Verständnis der antiimperialistischen Einheitsfronttaktik verweisen wir auf Kapitel 12 und 13 unseres Buchs: Michael Pröbsting: The Great Robbery of the South Continuity and Changes in the Super-Exploitation of the Semi-Colonial World by Monopoly Capital. Consequences for the Marxist Theory of Imperialism. Vienna 2013, herausgegeben von der Revolutionary Communist International Tendency (Das Buch kann kostenfrei heruntergeladen werden bei www.great-robbery-of-the-south.net.)

Es gibt eine gekürzte deutsche Fassung: Der große Raub im Süden, Wien 2014

[9] Leitsätze zur Orientfrage, S.48

[10] Siehe dazu Dirk Hemje-Oltmanns: Arbeiterbewegung und Einheitsfront. Zur Diskussion der Einheitsfronttakitk in der KPD 1920/21, Verlag für das Studium der Arbeiterbewegung GmbH, Westberlin 1973; Arnold Reisberg: An den Quellen der Einheitsfrontpolitik, Dietz Verlag, Berlin 1971, Bd. 1 und 2, John Riddell: The Comintern in 1922. The Periphery Pushes Back, in: Historical Materialism 22.3–4 (2014), S. 52-103; Larry Peterson: German Communism, Workers' Protest, and Labor Unions. The Politics of the United Front in Rhineland - Westphalia 1920-1924, Springer Science+Business Media, B.V. 1993

[11] Communist International: Theses on Comintern Tactics (1922), S. 425-426

[12] W.I. Lenin: Der ‘linke Radikalismus’, eine Kinderkrankheit des Kommunismus, in: LW Bd. 31, S. 73ff

[13] Zu Quellen zu diesen interessanten Entwicklungen in Indonesien und China siehe unten im Kapitel V, wo diese Erfahrungen noch einmal diskutiert werden.

[14] Leon Trotsky: Resolution on the General Strike in Britain submitted to the Centrals Committee and Centrals Control Commission joint plenum, Juli 1926; in: Trotsky’s Writings on Britain, Vol. 2, New Park Publications, London 1974, S. 191 (unsere Übersetzung)

[15] Leon Trotsky: Leo Trotzki: Die Verteidigung der Sowjetrepublik und die Opposition. Die Ultralinken und der Marxismus. Welchen Weg geht der Leninbund? (1929); in: Writings 1929, S. 262

[16] Leo Trotzki: Über den chinesisch-japanischen Krieg (1937), in: Schriften 2.2, S. 865-867; (Hervorhebung im Original)

[17] Leo Trotzki: Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der IV. Internationale. Das Übergangsprogramm; Frankfurt/Main 1974, S. 31ff

 

Marxismus und die Einheitsfronttaktik heute: III. Der Kampf um die proletarische Hegemonie unter heutigen Bedingungen: soziale und ökonomische Veränderungen

Anmerkung der Redaktion: Die Graphiken in diesem Dokument können nur in der oben als Download zur Verfügung stehenden pdf Version (Teil 1) eingesehen werden.

 

 

In den bisherigen beiden Kapiteln wurden die Grundsätze der Einheitsfronttaktik herausgearbeitet und gezeigt, wie die marxistischen Klassiker ihr Verständnis entwickelten. Vor der Diskussion spezifischer Fragen der Anwendung der Einheitsfronttaktik heute wollen wir einige wichtige Veränderungen, die sich seit der Zeit Lenins und Trotzkis ereignet haben, herausarbeiten. Wir beginnen mit einer Zusammenfassung der ökonomischen und sozialen Entwicklungen.

 

In unserem Buch The Great Robbery of the South haben wir wichtige Veränderungen der Zusammensetzun des Weltproletariats analysiert. [1] Hier fassen wir nocheinmal werden die wichtigsten Schlussfolgerungen zusammen und legen weitere akutelle Daten dar.

 

 

 

Die Verlagerung des Schwerpunkts des heutigen Weltproletariats in den Süden

 

 

 

Die RCIT hat immer betont, dass sich der Fokus der globalen kapitalistischen Produktion und daher auch des internationalen Proletariats im letzten halben Jahrhundert von den alten imperialistischen Metropolen (d.h. Nordamerika, Westeuropa und Japan) in den Süden (d.h. die halbkoloniale Welt plus die neuen imperialistischen Mächte, v.a. China) verschoben hat. Die Grundlage für diese Verlagerung war ein Prozess massiver Industrialisierung in den Ländern des Südens. Verursacht wurde der einerseits durch den allgemeinen ökonomischen Aufschwung in der langen Boomphase der 1950er und 1960er (begleitet von einem Aufschwung der landwirtschaftlichen Produktivität, beschleunigter Verstädterung usw.) sowie durch die massive Verlagerung des Kapitalexports aus den imperialistischen Monopolen in den Süden, um ihre Profite durch eine Intensivierung der Überausbeutung zu erhöhen.[2] Eine Zeitlang trug die Industrialisierung der stalinistischen degenerierten ArbeiterInnenstaaten Osteuropas, Ostasiens und Kubas auch zu dieser Entwicklung bei.

 

Das massive weltweite Wachstum der Arbeitskräfte der letzten Jahrzehnte fand hautpsächlich in der halbkolonialen Welt statt. 2014 standen 51,5% der weltweiten Arbeitskräfte mit einem Volumen von drei Milliarden Menschen in Lohnarbeit (siehe Abbildung 1). [3] Wie in dieser Grafik zeigt, wuchs der Anteil an LohnarbeiterInnen seit 1991 auf allen Kontinenten. [4]

 

 

 

Abbildung 1: Lohnarbeiter ( in % der Gesamtbeschäftigung), weltweit und regional, 1991-2014 [5]

 

 

 

 

Diese Proletarisierung hat auch die Frauen erfasst. Heute sind 46% aller arbeitenden Frauen LohnarbeiterInnen. [6]

 

Tabelle 1 zeigt das Wachstum der ArbeiterInnenklasse in den Regionen der Welt – als Anteil an allen Berustätigen – seit der Zeit knapp vor der Jahrtausendwende.

 

 

 

Tabelle 1: Anteil der LohnarbeiterInnen an der Gesamtbeschäftigung, 1999 und 2013 [7]

 

Region                                                                                 1999                      2013

 

Afrika                                                                                 24.6%                    26.2%

 

Asien                                                                                  30.7%                    40.2%

 

Lateinamerika und Karibik                                               59.0%                    62.8%

 

Naher Osten                                                                     71.9%                    80.3%

 

Osteuropa und Zentralasien                                           74.9%                    78.3%

 

Entwickelte Ökonomien                                                   84.1%                    86.4%

 

 

 

Der Industrialisierungsprozess führte notwendigerweise zu einer Verlagerung des Proletariats aus den imperialistischen Metropolen in die ärmeren Länder und v.a. nach Asien (wo heute 60% der IndustriearbeiterInnen der Welt leben). Hundert Jahre zuvor – zu Zeiten Lenins und Trozkis – war das Proletariat in der kolonialen und halbkolonialen Welt recht klein. Eine kapitalistische Industrialisierung außerhalb Europas, Nordamerikas und Japans hatte nur zu einem relativ geringen Grad stattgefunden.

 

Seither hat sich das Wachstum der ArbeiterInnenklasse im Süden beschleunigt. Als Ergebnis lebt die große Mehrheit der weltweiten ArbeiterInnenklasse heute außerhalb der alten imperialistischen Metropolen. Das zeigt sich klar auf folgenden Tabellen und Abbildungen. Tabelle 2 zeigt den Anstieg der LohnarbeiterInnen in sogenannten “Entwicklungsländern” von 65,9% (1995) auf 72,4% (2008/09). Wenn man die halbkolonialen EU-Staaten ausschließt, liegt die Zahl für 2008/09 noch höher. Mit anderen Worten, drei Viertel der heutigen LohnarbeiterInnen leben und arbeiten in den halbkolonialen und aufstrebenden kapitalistischen Ländern.

 

 

 

Tabelle 2: Verteilung der LohnarbeiterInnen in den verschiedenen Regionen, 1995 und 2008/09 (in %) [8]

 

                                                                                                                                             1995                      2008/09

 

Welt                                                                                                                                       100%                     100%

 

Niedriglohnländer                                                                                                                     65.9%                    72.4%

 

Hochlohnländer                                                                                                                        34.1%                    27.6%

 

Hochlohnländer (ohne halbkoloniale EU-Länder)                                                                        -                              25%

 

Niedriglohnländer (einschließlich halbkolonialer EU-Länder)                                                        -                              75%

 

 

 

Diese Verlagerung zeigt sich auch, wenn die Kernbereiche der ArbeiterInnenklasse – die IndustriearbeiterInnen – untersucht werden. In Tabelle 3 ist ersichtlich, dass 2013 85,3% - mehr als 617 Millionen – aller Beschäftigten in der Industrie (die überwältigende Mehrheit davon ArbeiterInnen) außerhalb der alten imperialistischen Metropolen lebten, wo “nur” 14,7% - oder 106,8 Millionen – aller in der Industrie Beschäftigten lebten. Gleichzeitig lebten fast zwei Drittel (62,5%) aller IndustriearbeiterInnen in Asien (ausgenommen Russland und die ehemaligen Sowjetrepubliken).

 

 

 

Tabelle 3: Verteilung der Industriearbeitskräfte in verschiedenen Regionen, 2013 [9]

 

                                                                              Arbeitskräfte                                                    Verteilung der

 

in der Industrie (in Millionen)                   industriellen Arbeitskräfte

 

Welt                                                                      724.4                                                                    100%

 

Entwickelte Ökonomien                                          106.8                                                                    14.7%

 

Osteuropa & ex-UdSSR                                           44.8                                                                      6.2%

 

Ostasien                                                               250.1                                                                    34.5%

 

Südostasien                                                          59.0                                                                      8.1%

 

Südasien                                                             144.3                                                                    19.9%

 

Lateinamerika                                                       58.3                                                                      8.0%

 

Naher Osten                                                         18.7                                                                      2.6%

 

Nordafrika                                                           13.0                                                                      1.8%

 

Sub-Sahara Afrika                                               29.3                                                                      4.0%

 

 

 

Abbildungen 2 und 3 bestätigen diese enorme Verlagerung und zeigen den Anstieg des Anteils der im Süden lebenden FertigungsindustriearbeiterInnen von etwa 50% (1980) auf etwa 73% (2008). Im Jahr 1950 lebten hingegen nur 34% des weltweiten Industrieproletariats im Süden.[10] Wir verweisen an dieser Stelle darauf, daß die Beschäftigungszahlen in Fertigung und Industrie jedoch nicht gleichbedeutend sind, denn Fertigung beinhaltet alle Industriesektoren außer dem Bergbau- und Bauwesen. In dem weiter gefaßten Begriff des Industriesektors werden letztere jedoch auch berücksichtigt.

 

 

 

Abbildung 2: Anteil der Entwicklungsländer an der Beschäftigung im Fertigungssektor, 1980–2008 [11]

 

 

 

 

 

Abbildung 3: Industriearbeitskräfte weltweit in entwickelten und Entwicklungsländern, 1950–2010 [12]

 

 

 

 

 

 

 

Die RCIT hat wiederholt darauf hingewiesen, dass die tatsächliche Verlagerung des Proletariats in die halbkolonialen und aufstrebenden imperialistischen Länder sogar noch höher zu veranschlagen ist, als die offiziellen Zahlen zeigen. Warum? Weil, wie oben angemerkt, die bürgerliche Kategorie “LohnarbeiterInnen” nicht nur ArbeiterInnen beinhaltet. Allgemein gesprochen kann man sagen, dass in den reichen kapitalistischen Ländern eine beträchtliche Minderheit der Lohnabhängigen nicht Teil der ArbeiterInnenklasse ist, sondern Teil der lohnabhängigen Mittelschicht (Aufsichtspersonal, Polizei, ManagerInnen der unteren Ebenen usw.).[13] In einer vor einiger Zeit veröffentlichten ausführlichen Analyse der Klassenstruktur schätzten wir, dass in den imperialistischen Ländern die überwiegende Anzahl der Lohnabhängigen – bis zu 90% der gesamten arbeitenden Bevölkerung – in etwa zu 2/3 ArbeiterInnenklasse und zu 1/3 als zur Mittelschicht gehörig eingeteilt werden kann.[14] In den ärmeren Ländern ist die entlohnte Mittelschicht jeoch viel kleiner.

 

Außerdem muss die Arbeiteraristokratie , die oberste Schicht der ArbeiterInnenklasse (z.B. bestimmte Bereiche hochbezahlter FacharbeiterInnen usw.), eingerechnet werden. Das ist der Teil des Proletariats, der von der Bourgeoisie mit diversen Privilegien buchstäblich bestochen wird. In den imperialistischen Ländern bildet diese Schicht einen viel höhern Anteil der ArbeiterInnenklasse als im halbkolonialen Proletariat. Die finanziellen Quellen zur Bezahlung der Arbeiteraristokratie in den imperialistischen Ländern, womit ihre ArbeiterInnenklassensolidarität untergraben werden soll, stammen genau aus den Extraprofiten, die die Monopolkapitalisten aus der Überausbeutung der halbkolonialen Länder sowie auch der MigrantInnen in den imperialistischen Ländern erhalten. Ganz offen nutzt das Monopolkapital diese Extraprofite, um die Unterstützung von Teilen der ArbeiterInnenklasse in den imperialistischen Ländern zu erhalten, denn am Heimatstandort brauchen die Kapitalisten die Stabilität am dringendsten. Damit kann die “eingekaufte” Arbeiteraristokratie in der halbkolonialen Welt viel kleiner sein.

 

Die Arbeiteraristokratie – mit ihrem Zwilling, der Arbeiterbürokratie – spielt eine dominante Rolle in den Gewerkschaften und reformistischen Parteien der imperialistischen Länder.

 

Gleichzeitig haben, wie andernorts gezeigt[15], die unteren Schichten der ArbeiterInnenklasse – v.a. MigrantInnen – ihren Anteil innerhalb der imperialistischen Länder bedeutend erhöht. In den USA beispielsweise stieg der Anteil der MigrantInnen in der Gesamtbevölkerung von 5,2% (1960) auf 12,3% (2000) bzw. über 14% (2010). In Westeuropa wuchs der Anteil der MigrantInnen von etwa 4,6% (1960) auf fast 10% (2010).[16] Gemäß der jüngsten Daten der Vereinten Nationen leben offiziell 172,6 Millionen MigrantInnen in den alten imperialistischen Ländern (“Hochlohnländern”) und bilden 13% der Gesamtbevölkerung.[17] Wie wiederholt betont unterschätzen offizielle Statistiken die Zahl der MigrantInnen unausweichlich, weil sie jene ohne legalen Status wie auch jene der zweiten oder dritten Generation nicht berücksichtigen.

 

Im Vergleich dazu veträgt der Anteil von MigrantInnen in “Niedriglohnländern” (und solchen mit mittleren Einkommen), d.h. in halbkolonialen Ländern und im aufstrebenden kapitalistischen China, nur 1%.[18]

 

MigrantInnen bilden einen entscheidenden Teil des Proletariats in den urbanen Zentren der imperialistischen Metropolen. Zu Beginn der 2000er-Jahre bestand die Hälfte der in New York wohnhaften ArbeiterInnen aus Schwarzen, Latinos oder anderen nationalen Minderheiten. In und um London wurden im Jahr 2000 29% bzw. 22% der EinwohnerInnen als ethnische Minderheit klassifiziert.[19] In unserer Studie zu Rassismus und MigrantInnen wurde gezeigt, dass in Wien (Hauptstadt Österreichs) MigrantInnen 44% der Bevölkerung ausmachen. Zwei Drittel davon kommen aus dem früheren Jugoslawien, der Türkei oder den osteuropäischen EU-Staaten.[20]

 

Eine weitere bedeutende Tatsache besteht darin, dass die ArbeiterInnen ohne oder mit geringer Qualifikation die riesige Mehrheit der LohnarbeiterInnen und Unterdrückten bilden, während hochqualifizierte Beschäftigte nur eine Minderheit darstellen (sogar in den alten imperialistischen Ländern). Auch wenn die Zahlen in den Tabellen 4 und 5 sich nicht nur auf die ArbeiterInnenklasse sondern auf Beschäftigte allgemein beziehen und auch wenn das Qualifikationsniveau nicht direkt etwas über die Entlohnung und Zugehörigkeit zur Unter- oder Mittelschicht bzw. Oberschicht der ArbeiterInnenklasse aussagt, so liefern die Zahlen nichtssdestotrotz einen klaren Hinweis auf die relativen Anteile der verschiedenen Schichten im Proletariat – weltweit und regional.

 

 

 

Tabelle 4: Anzahl und Anteil von Beschäftigten nach Qualifikation, weltweit und regional, 2013 (in Tausend) [21]

 

 

 

Weltregion                                         geringe Qualifikation      mittlere Qualifikation     hochqualifiziert

 

Welt                                                      502,153                                2,077,789                             566,584

 

                                                               100%                                    100%                                    100%

 

Entwickelte Ökonomien                            46,668                                  241,654                                186,693

 

                                                               9.3%                                     11.6%                                   32.4%

 

Entwicklungsländer                                455,485                                1,836,135                             379,891

 

                                                             91.7%                                      88.4%                                   67.6%

 

 

 

Tabelle 5: Beschäftigungsanteil nach Qualifikation, weltweit und regional, 2013 [22]

 

 

 

Weltregion                                         geringe Qualifikation      mittlere Qualifikation     hochqualifiziert

 

Welt                                                      16.0%                                    66.0%                                   18.0%

 

Entwickelte Ökonomien                           9.8%                                      50.9%                                   39.3%

 

Zentral- & Südosteuropa                       14.1%                                   52.4%                                   33.5%

 

Ostasien                                                8.2%                                      79.7%                                   12.1%

 

Südostasien und Pazifik                         22.0%                                   65.6%                                   12.4%

 

Südasien                                              27.7%                                   58.5%                                   13.8%

 

Lateinamerika und Karibik                     19.0%                                   61.3%                                   19.8%

 

Naher Osten und Nordafrika                  12.0%                                   65.7%                                   22.4%

 

Subsahara Afrika                                 16.2%                                   79.2%                                   4.6%

 

 

 

Diese aktuellen Daten der Internationalen Arbeitsorganisation der UN (ILO) zeigen, dass niedrig- und mittel-qualifizierte Wertktätige 82% der weltweiten Arbeitskraft ausmachen, 61,7% in den alten imperialistischen Ländern und 85,8% in den halbkolonialen und aufstrebenden imperialistischen Ländern, v.a. China und Russland. Ihr Anteil in der Arbeiterklasse ist sogar noch höher als in den Zahlen abgebildet wird, denn – wie bereits erwähnt – eine Minderheit der Lohnabhängigen ist nicht Teil der ArbeiterInnenklasse, sondern der Mittelschicht. Der Anteil der hochqualifizierten ArbeitnehmerInnen ist natürlich in der Mittelschicht viel höher als in der ArbeiterInnenklasse. Kurz, diese Daten stützen unsere These in Bezug auf die Zusammensetzung der ArbeiterInnenklasse, wie wir sie im Manifest der RCIT sowie noch detaillierter in unserem Buch Der große Raub herausgearbeitet haben.

 

Außerdem ist das Proletariat in den ärmeren Ländern größer als die Zahlen in diesen offiziellen Statistiken vermitteln. Ein beträchtlicher Teil der ArbeiterInnen in diesen Ländern wird formell nicht als lohnabhängig, sondern wegen des großen informellen Sektors als offiziell selbstständig gezählt. Doch tatsächlich sind sie Teil der ArbeiterInnenklasse. [23]

 

Im Allgemeinen sind die wachsende ArbeiterInnenklasse und andere unterdrückte Schichten sehr heterogen hinsichtlich ihres Beschäftigungsstatus. Die kürzlich veröffentlichten Daten der ILO zum Beschäftigungsstatus der werktätigen Bevölkerung insgesamt (d.h. einschließlich ArbeiterInnen, Bauern, Selbstständige, unbezahlte Familienarbeit, Unternehmer (wenngleich letztere zahlenmäßig unwesentlich sind) sind äußerst interessant. Laut diesen Zahlen sind nur 26,4% der Werktätigen auf Basis eines unbefristeten Vertrags beschäftigt, 13% auf Grundlage eines befristeten Vertrags und die große Mehrheit (60,7%) arbeiten ohne jeden Vertrag. Natürlich gibt es auch hier enorme Unterschiede zwischen der Situation der Lohnabhängigen in den alten imperialistischen Ländern und jener des Südens. In den alten imperialistischen Ländern (“Hochlohnländer”) befinden sich mehr als drei Viertel der Werktätigen in einem unbefristeten Vertragsverhältnis (davon weniger als zwei Drittel in Vollzeitbeschäftigung), weitere 9,3% in einem befristeten Vertragsverhältnis und nur 14% ohne Vertragsbasis. In den entwickelteren Halbkolonien und aufstrebenden imperialistischen Ländern (“Länder mit mittlerem Lohnniveau”) sind fast 72% aller Werktätigen ohne Vertrag beschäftigt, nur 13,7% sind vertraglich fixiert. In den weniger entwickelten halbkolonialen Ländern werden nur 5,7% auf Basis eines unbefristeten Vertrags beschäftigt, während fast 87% überhaupt keine Vertragsgrundlage aufweisen; die Mehrheit arbeitet auf eigene Faust oder in Familienbetrieben. [24]

 

Wenn wir die veröffentlichten Daten der ILO zu den Lohnabhängigen heranziehen, kommen wir zu dem Schluss, dass nur 51,2% aller Lohnabhängigen auf Basis eines unbefristeten Vertrags arbeiten, während der Rest mit befristeten oder ohne Verträge beschäftigt ist (siehe Tabelle 6). Auch hier gibt es extreme Unterschiede zwischen den alten imperialistischen Ländern einerseits und den halbkolonialen Ländern und aufstrebenden imperialistischen Mächten andererseits. In ersteren, von der ILO als “Hochlohnländer” bezeichnet, liegt der Anteil der Lohnabhängigen mit unbefristetem Vertrag bei 88,1%. Dieser Anteil ist in den Ländern des globalen Südens viel niedriger (30,7% bzw. 32,4%).

 

 

 

Tabelle 6: Verteilung von Vertragsarten bei Lohnabhängigen (%) [25]

 

                                                                              Unbefristet                         Befristet                              Vertragslos

 

Alle Länder                                                            51.2%                                   25.0%                                   23.8%

 

Hochlohnländer                                                     88.1%                                   10.7%                                   1.3%

 

Länder mit mittlerem Lohnniveau                        30.7%                                   32.3%                                   37.0%

 

Niedriglohnländer                                                 32.4%                                   42.6%                                   24.8%

 

 

 

Lohnabhängige mit unbefristetem Vertrag können wiederum unterteilt werden in jene mit Vollzeit- und jene mit Teilzeitbeschäftigung. Leider stellt die ILO dafür nur Daten aus den imperialistischen Ländern bereit, wo nur 73,7% aller Vollzeitbeschäftigten über einen unbefristeten Vertrag verfügen (bei Frauen liegt dieser Anteil noch niedriger, bei 64,5%).

 

Weiters muss die wachsende Zahl der Arbeitslosen in Betracht gezogen werden. Der neueste ILO-Bericht nennt die offizielle Zahl von 201,3 Millionen Beschäftigungslosen im Jahr 2014. Mit anderen Worten, 5,9% weltweit. [26]

 

Zusammenfassend kann über das heutige Weltproletariat gesagt werden: Die internationale ArbeiterInnenklasse hat ihren Schwerpunkt in den Süden verlagert, wo etwa drei Viertel der LohnarbeiterInnen beheimatet sind. Angesichts des (im Vergleich zum Süden) höheren Anteils der lohnabhängigen Mittelschicht in den alten imperialistischen Ländern könnte der Anteil des Proletariats in den halbkolonialen und den aufstrebenden imperialistischen Ländern weltweit bei 80% liegen. Wenn das der Fall ist, können wir daraus schließen, dass das Herz des Weltproletariats im Süden und vor allem in Asien liegt.

 

Das heißt nicht, dass das Proletariat in den alten imperialistischen Metropolen (d.h. in den relativ reichen Ländern Westeuropas, Nordamerikas und Japans) irrelevant geworden ist. Nichts könnte der Wahrheit ferner liegen. Das Proletariat Westeuropas, Nordamerikas und Japans spielt weiterhin eine zentrale Rolle im internationalen Klassenkampf. Doch für revolutionäre KommunistInnen ist es wesentlich, die gestiegene Bedeutung der halbkolonialen Länder in Asien, Lateinamerika, dem Nahen Osten und Afrika wie auch der aufstrebenden kapitalistischen Länder China (und Russland) zu erkennen. Mit anderen Worten ist der Prozess der Weltrevolution nicht einer, in dem sich die Front in den alten imperialistischen Ländern befindet und dort entschieden werden wird. Vielmehr wird das Proletariat in der halbkolonialen Welt und im aufstrebenden kapitalistischen China eine maßgebliche Rolle spielen. Die Arabische Revolution bestätigt diese These der wachsenden Bedeutung des halbkolonialen Proletariats.

 

Wir haben die Auswirkungen dieser bedeutsamen Veränderungen der Zusammensetzung der globalen ArbeiterInnenklasse in unserem Programm “Das Revolutionär-Kommunistische Manifest” zusammengefasst. Internationale ArbeiterInnenorganisationen müssen dem Süden besondere Aufmerksamkeit widmen. Das riesige Gewicht des südlichen Proletariats darf nicht nur hinsichtlich seiner massiven Beteiligung in internationalen ArbeiterInnenorganisationen Beachtung finden, sondern auch in den Führungen dieser Kräfte. Und Fragen von besonderer Wichtigkeit für die südliche ArbeiterInnenklasse – ihre Überausbeutung, ihre nationalen Befreiungskämpfe gegen den Imperialismus usw. – müssen eine zentrale Rolle in der propagandistischen und praktischen Arbiet der Organisationen einnehmen. [27]

 

 

 

Das Elend der landlosen Bauernschaft und der städtischen Armut

 

 

 

Ungeachtet des Wachstums des weltweiten Proletariats dürfen MarxistInnen nicht die Tatsache ignorieren, dass fast die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung weltweit – und eine klare Mehrheit davon in der halbkolonialen Welt – der besitzlosen Bauernschaft oder dem städtischen Kleinbürgertums angehört. Die Zahlen in Tabelle 6 vermitteln einen Eindruck zur allgemeinen sozialen Zusammensetzung der arbeitenden Bevölkerung. Wir haben wiederholt darauf hingewiesen, dass aus den oben genannten Gründen die Kategorie der Lohnabhängigen der ILO nicht gleichbedeutend mit dem Begriff des marxistischen Konzepts der ArbeiterInnenklasse ist. Dasselbe gilt für die Kategorie Selbstständige, die nicht gleichbedeutend ist mit der marxistischen Kategorie der nicht-ausbeuterischen Bauernschaft und des städtischen Kleinbürgertums. Nichtsdestotrotz bieten die Zahlen nützliche Annäherungen.

 

Wenn wir die sehr kleine Menge von Kapitalisten (ArbeitgeberInnen) beiseite lassen, die sich v.a. in den imperialistischen Ländern sammelt, ist zu erkennen, dass die Bauernschaft und die Selbstständigen (und ihre mitarbeitenden Familienmitglieder) 55,4% der werktätigen Bevölkerung in den Ländern des Südens ausmachen. Auch hier müssen wichtige Unterscheidungen getroffen werden. Während etwa im aufstrebenden imperialistischen China der Anteil der LohnarbeiterInnen 56% der arbeitenden Bevölkerung beträgt und Selbstständige und ihre mitarbeitenden Familienmitglieder “nur” 42,4%,[28], machen die Selbstständigen und ihre mitarbeitenden Familienmitglieder 80,8% (!) aller werktätigen Menschen in den weniger entwickelten halbkolonialen Ländern aus. (siehe Tabelle 7).

 

 

 

Tabelle 7: Beschäftigungsstatus weltweit und regional, 2013 (%) [29]

 

                                                                                            LohnarbeiterInnen                         Unternehmer                         Selbstständige                   mitarbeitende Familienmitglieder

 

Entwickelte Ökonomien                                                             86.3%                                          3.6%                                          9.0%                                      1.0%

 

Entwicklungsländer                                                                   42.6%                                          2.0%                                         40.5%                                     14.9%

 

Entwicklungsschwächste Länder                                              18.0%                                          1.2%                                         53.2%                                      27.6%

 

Länder mit niedrigem Durchschnittseinkommen                     31.7%                                          2.1%                                         50.5%                                      15.7%

 

Aufstrebende Ökonomien                                                        58.2%                                           2.2%                                         29.0%                                      10.6%

 

 

 

Kapitalismus bedeutet Elend nicht nur für die ArbeiterInnenklasse, sondern auch für die Landbevölkerung und für die Armut in den Städten. Zum Verständnis seien einige Daten zur Ungleichheit und Armut in der weltweiten Bauernschaft dargelegt: Gemäß den von der ETC-Gruppe (AGETC) zusammengefassten Daten werden von 450 Millionen landwirtschaftlichen Betrieben weltweit heute 382 Millionen (85%) von Kleinbauern bewirtschaftet und diese weisen eine Größe von zwei Hektar oder weniger auf. Fast alle davon (fast 380 Millionen) befinden sich auf der südlichen Erdhalbkugel. Die überwältigende Mehrheit davon wiederum (370 Millionen) wird von einheimischen Bauern bewirtschaftet. Insgesamt bearbeiten Bauern etwa die Hälfte des weltweiten landwirtschaftlichen Nutzlands. Es wird geschätzt, dass von 1,56 Milliarden ackerbaren und dauerhaft kultivierten Hektar Land weltweit 764 Millionen Hektar von Bauern bewirtschaftet werden; nicht weniger als 225 Millionen Hektar werden von Großgrundbesitzern bewirtschaftet; und mittelgroße Landwirtschaften halten etwa 571 Millionen Hektar.

 

Geschätzte 640 Millionen Bauern und weitere etwa 190 Viehhalter züchten Vieh zum eigenen Konsum und für lokale Märkte. Weiters gibt es etwa 30-35 Millionen Vollerwerbsfischer, doch wahrscheinlich mehr als 100 Millionen Bauern, die in gewissem Ausmaß auch fischen und an der Verarbeitung und dem Vertrieb des Ertrags beteiligt sind.

 

Es gibt auch etwa 800 Millionen Bauern in urbaner Landwirtschaft. Davon produzieren 200 Millionen vor allem für die städtischen Märkte und davon wiederum leben etwa 150 Millionen Familienmitglieder in Vollzeitbeschäftgung. Durchschnittlich produzieren die Städte etwa ein Drittel ihres Nahrungsbedarfs selbst. Schließlich gibt es mindestens 410 Millionen, die in oder in der Nähe von Wäldern leben und den Großteil ihrer Nahrung und ihres Lebensunterhalts daraus beziehen. [30]

 

Brasilien stellt ein wichtiges Beispiel der weltweit ungleichen Landverteilung und der schlimmen Lage der besitz- und landlosen Bauern im Zeitalter des niedergehenden Kapitalismus dar. Etwa 26.000 Großgrundbesitzer halten 50% allen bewirtschaftbaren Landes, große Teile davon werden entweder kaum oder gar nicht landwirtschaftlich genutzt. Gleichzeitig gibt es in Brasilien 12 Millionen landlose Bauern.

 

Die städtische Armut ist eine weitere, zunehmend wichtige Schicht der Weltbevölkerung. Sie hat keine festgelegte Klassenposition und umfasst übergreifende und übergangsweise Elemente. Die meisten ElendsviertelbewohnerInnen haben keine dauerhafte Arbeit, sondern sind arbeitslos, arbeiten schwarz oder selbstständig. Damit gehören sie größtenteils zur Unterschicht der ArbeiterInnenklasse und bilden halbproletarische Elemente, die oft in urbaner Landwirtschaft beschäftigt sind, zum besitzlosen Kleinbürgertum oder zum Lumpenproletariat gehört. Ihre extrem prekäre Position in der Arbeitswelt steigert die relative Bedeutsamkeit ihrer besonderen Lebensumstände. Aus diesem Grund können wir von der städtischen Armut als einer spezifischen Schicht sprechen.

 

Schätzungsweise ein Drittel der weltweiten städtischen Bevölkerung (32,7%) lebt in Elendsvierteln der Großstädte, v.a. in der halbkolonialen Welt. Der Anteil der Menschen, die unter Elendsbedingungen in städtischen Gebieten leben, liegt im Afrika südlich der Sahara besonders hoch (61,7%). Doch auch in der Bevölkerung Südasiens (35%) und Südostasiens (31%), Ostasiens (28,2%), Westasiens (24,6%), Lateinamerikas und der Karibik (23,5%) und Nordafrikas (13%) bilden SlumbewohnerInnen einen beträchlichten Anteil der städtischen Bevölkerung.[31]

 

Kurz, die besitzlose Bauenschaft und die städtische Armut bilden riesige und bedeutsame Klassen und Schichten. Sie leiden täglich während ihres prekären Lebens unter den zerstörerischen Folgen des niedergehenden Kapitalismus. Für die ArbeiterInnenklasse bzw. deren Avantgarde – die revolutionäre Partei – ist es eine entscheidende Aufgabe, an vordester Front zu stehen und diese unterdrückten Schichten als Verbündete für den Kampf gegen die kapitalistische Herrschaft zu gewinnen.

 



[1] See Michael Pröbsting: The Great Robbery of the South, z.B S. 69-80, S. 179-188, S. 228-240. Eine deutschsprachige Fassung dieses Buches wurde 2014 unter dem Titel Der Große Raub im Süden“ vom Promedia-Verlag veröffentlicht und kann über unsere Kontaktadresse bezogen werden. (Siehe www.rkob.net, http://www.great-robbery-of-the-south.net/ sowie http://www.mediashop.at/typolight/index.php/buecher/items/michael-proebsting---der-grosse-raub-im-sueden).

[2] Siehe dazu: The Great Robbery of the South, z.B. S. 57-62

[3] Die Kategorie “Arbeitskraft” umfasst alle Personen, die ökonomisch aktiv sind, d.h. ArbeiterInnen, BäuerInnen, Selbstständige, entlohnte Mittelklasseangestellte und KapitalistInnen.

[4] Es sei kurz angemerkt, dass die bürgerliche Kategorie “Lohnabhängige” nicht nur ArbeiterInnen, sondern auch die entlohnte Mittelklasse beinhaltet. Die bürgerliche Statistik der ILO und ähnlicher Institutionen differenzieren natürlich nicht zwischen diesen beiden Bereichen. Dennoch sind die Zahlen nützlich für eine Einschätzung des Wachstums des globalen Proletariats.

[5] International Labour Office: World Employment and Social Outlook 2015. The changing nature of jobs, S. 29

[6] International Labour Office: World Social Security Report 2010/11. Providing coverage in times of crisis and beyond (2010), S. 28

[7] International Labour Office: Global Wage Report 2014/15. Wages and income inequality, S. 14 und unterstützende Daten

[8] World Bank: World Development Report 1995, p. 9, International Labour Office: Global Employment Trends 2011, S. 68; Directorate-General for Economic and Financial Affairs of the European Commission: Labour market and wage developments in 2009; in: EUROPEAN ECONOMY Nr. 5/2010, pp. 188-190 und eigene Berechnungen.

[9] Quellen: International Labour Office: Global Employment Trends 2014. Risk of a jobless recovery?, S. 97 und eigene Berechnungen

[10] John Smith: Offshoring, Outsourcing & the ‘Global Labour Arbitrage’ (2008), Paper to IIPPE 2008 – Procida, Italien 9.-11. September 2008, S. 5

[11] UNIDO: Industrial Development Report 2011, S. 150

[12] John Smith: Imperialism in the Twenty-First Century, Monthly Review 2015 Volume 67, Issue 03 (Juli-August), http://monthlyreview.org/2015/07/01/imperialism-in-the-twenty-first-century/.

[13] Im Gegensatz zu den revisionistischen Theorien des CWI, der IMT und der MorenoistInnen (LIT-CI und UIT-CI) betrachten MarxistInnen Mitglieder des repressiven Staatsapparats nicht als Teile der ArbeiterInnenklasse. Trotzki nahm in dieser Frage eine unmißverständliche Haltung ein: Der Umstand, daß die Polizisten in bedeutender Zahl unter sozialdemokratischen Arbeitern rekrutiert wurden, will ganz und gar nichts besagen. Auch hier wird das Denken vom Sein bestimmt. Die Arbeiter, die Polizisten im Dienst des kapitalistischen Staates geworden sind, sind bürgerliche Polizisten und nicht Arbeiter. (...) Und die Hauptsache ist: jeder Polizist weiß, daß die Regierungen wechseln, die Polizei aber bleibt.“ (Leo Trotzki: Was nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats (1932) in: Schriften über Deutschland, Band 1, S. 186

[14] Markus Lehner: Arbeiterklasse und Revolution. Thesen zum marxistischen Klassenbegriff, in: Revolutionärer Marxismus Nr. 28 (1999)

[15] Siehe dazu z.B. Michael Pröbsting: The Great Robbery of the South, z.B. S. 179-188, S. 228-240, S. 385-386; Michael Pröbsting: Migration and Super-exploitation: Marxist Theory and the Role of Migration in the present Period, in: Critique: Journal of Socialist Theory, Vol. 43, Issue 3-4, 2015, http://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/03017605.2015.1099846; Michael Pröbsting: Marxismus, Migration und revolutionäre Integration (2010); in: Revolutionärer Kommunismus, Nr. 7, http://www.thecommunists.net/publications/werk-7.

[16] Siehe Rainer Münz/Heinz Fassmann: Migrants in Europe and their Economic Position: Evidence from the European Labour Force Survey and from Other Sources (2004), S. 5-6 and Carlos Vargas-Silva: Global International Migrant Stock: The UK in International Comparison (2011), www.migrationobservatory.ox.ac.uk, S. 5

[17] United Nations, Department of Economic and Social Affairs, Population Division (2016). International Migration Report 2015: Highlights, S. 28

[18] In Russland sind gemäß derselben UN-Studie 8% der Gesamtbevölkerung MigrantInnen. Wir haben die Situation der Migration in Russland und die Gründe für diesen hohen Anteil in unserer Publikation untersucht: Michael Pröbsting: Russland als imperialistische Großmacht, 2014, in: Revolutionärer Kommunismus, Nr. 12, https://www.thecommunists.net/publications/revkom-12/

[19] Siehe Peter Dicken: Global Shift. Mapping the Changing Contours of the World Economy (Sixth Edition), The Guilford Press, New York 2011, S. 496

[20] Michael Pröbsting: Marxismus, Migration und revolutionäre Integration (2010); in: Der Weg des Revolutionären Kommunismus, Nr. 7, S. 31-33, http://www.thecommunists.net/publications/werk-7;

[21] International Labour Office: World Employment and Social Outlook – Trends 2015, S. 72-89, unterstützende Daten und eigene Berechnungen

[22] International Labour Office: World Employment and Social Outlook – Trends 2015, S. 72-89, unterstützende Daten

[23] Siehe dazu z.B. Jauch, Herbert: Globalisation and Labour, Labour Resource and Research Institute (LaRRI), Prepared for the Regional Labour Symposium, Windhoek, 6.12.2005, S. 8

[24] International Labour Office: World Employment and Social Outlook 2015. The changing nature of jobs, S. 30

[25] International Labour Office: World Employment and Social Outlook 2015. The changing nature of jobs, S. 31 (eigene Berechnung)

[26] International Labour Office: World Employment and Social Outlook – Trends 2016, S. 72

[27] Siehe dazu RCIT: Das Revolutionär-Kommunistische Manifest; Wien 2012, https://www.thecommunists.net/home/deutsch/ver%C3%A4nderungen-in-der-arbeiterklasse/

[28] International Labour Office: World Employment and Social Outlook – Trends 2015, unterstützende Daten

[29] International Labour Office: World of Work Report 2014. Developing with jobs, S. 40

[30] ETC Group: Questions for the Food and Climate Crises, Communiqué Issue #102 (November 2009), S. 26

[31] Siehe United Nations: Planning and Design for Sustainable Urban Mobility: Global Report on Human Settlements 2013, p. 215; United Nations: The Millennium Development Goals Report 2014, S. 46; Om Prakash Mathur: Urban Poverty in Asia. Study Prepared for the Asian Development Bank, National Institute of Urban Affairs, New Delhi 2013, S. 17

 

Marxismus und die Einheitsfronttaktik heute: IV. Der Kampf um proletarische Hegemonie unter heutigen Bedingungen: Politische Veränderungen

 

Anmerkung der Redaktion: Die Graphiken in diesem Dokument können nur in der oben als Download zur Verfügung stehenden pdf Version (Teil 1) eingesehen werden.

 

 

Nach der Herausarbeitung wesentlicher gesellschaftlicher und ökonomischer Entwicklungen der letzten Jahrzehnte soll nun das Feld der Politik untersucht werden. Dabei sollen die wichtigsten Veränderungen in den Parteien, die für sich beanspruchen, die Interessen der ArbeiterInnen und Unterdrückten zu vertreten, überblicksmäßig dargestellt werden.

 

 

 

Die Krise der bürgerlichen ArbeiterInnenparteien

 

 

 

Eine der wichtigsten Entwicklungen in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten war die außergewöhnliche Verbürgerlichung der traditionellen reformistischen Parteien sozialdemokratischer und stalinistischer Prägung. Gleichzeitig erlebten wir eine Welle neuer linksreformistischer oder kleinbürgerlicher populistischer Kräfte. Diese Veränderungen bilden den Hintergrund für die Entwicklung und Anwendung der marxistischen Taktik der Einheitsfront in der gegenwärtigen Periode.

 

Diese Entwicklungen und Veränderungen wollen wir detaillierter untersuchen. Der wichtigste Faktor der Weltlage – und heute noch mehr als zu Zeiten Trotzkis in den 1930ern – ist das völlige Fehlen einer starken revolutionären Weltpartei. Trotzkis Worte – "Man kann ohne jegliche Übertreibung sagen: Die gesamte Weltlage ist bestimmt durch die Krise der proletarischen Führung."[1] – sind heute noch wichtiger, mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem politischen und organisatorischen Zusammenbruch der Vierten Internationale, bei einer, im Vergleich zur vor uns liegenden, historischen Aufgabe ungemein geringen Anzahl wahrhaft revolutionärer Kräfte. [2] Dieses Fehlen einer Weltpartei für die sozialistische Revolution ist der Hauptgrund, warum so viele Klassenkampfausbrüche, die zu vorrevolutionären und revolutionären Situationen führen, letztlich niedergeschlagen werden. Und es ist auch der Grund dafür, dass der Rechtsschwenk des traditionellen Reformismus in eine Welle neuen Linksreformismus und populistischer politischer Formationen mündete.

 

Die historische Krise der Sozialdemokratie und des Stalinismus drückt sich in einem dramatischen Schwenk nach rechts aus, in einer Verbürgerlichung ihrer Zusammensetzung und Führung und in ihrem steilen Rückgang hinsichtlich Mitgliederzahlen und Wahlergebnissen. Dies wird anhand einiger Beispiele offensichtlich.

 

Die deutsche SPD führte Deutschland – in einer Regierungskoalition mit den Grünen – zum ersten Krieg im Ausland, als die NATO 1999 Serbien angriff. Sie tat dasselbe 2001 in Afghanistan und während der imperialistischen Besatzung danach. Die SPD setzte die drakonische Reform Hartz IV um, die zu substanziellen Kürzungen in der Arbeitslosenabsicherung und sozialen Unterstützungsleistungen führte. Seither war diese Partei der Juniorpartner in auf Sparkurs orientierten Koalitionen mit der CDU, der konservativen Partei Angela Merkels, 2005-09 und seit 2013.

 

Es ist wenig überraschend, dass diese Neoliberalisierung der SPD dramatische Auswirkungen auf ihre UnterstützerInnen und Mitgliedschaft hatte. Die Wahlunterstützung sank von 40,9% (1998) auf 23,0% (2009) und 25,7% (2013). Die Mitgliederzahlen haben sich zwischen 1990 und 2014 (letzte verfügbare Daten) mehr als halbiert. Während die Partei 1990 943.402 Mitglieder hatte, fiel diese Zahl Ende 2012 auf 459.902. [3] 50% dieser Mitglieder sind 60 Jahre alt und älter und nur 16% jünger als 40! Die soziale Zusammensetzung der Partei ist besonders entlarvend: PensionistInnen bilden die größte Gruppe (34%), gefolgt von Beamten (privilegierte Angehörige des öffentlichen Diensts, 23%), Angestellte (15%), ArbeiterInnen (8%) und Arbeitslose (5%). Die verbleibenden 15% sind Hausfrauen, StudentInnen, Selbstständige usw. [4]

 

Zwar bedeutet das nicht, dass die SPD aufgehört hat, eine bürgerliche ArbeiterInnenpartei zu sein, angesichts ihrer engen Verbindungen mit dem Gewerkschaftsbund und anderen ArbeiterInnenorganisationen. Viele pensionierte Mitglieder waren außerdem ArbeiterInnen. Doch es ist klar, dass die Verbindungen der Partei zur ArbeiterInnenklasse wesentlich schwächer geworden sind und kaum noch die ArbeiterInnenklasse in ihrer Gesamtheit, sondern vielmehr die ältesten und privilegiertesten Teile der ArbeiterInnenklasse wie auch Teile der unteren Teile der Mittelschicht vertritt.

 

Die Situation ähnelt der der spanischen PSOE. Auch diese Partei bewegte sich dramatisch nach rechts und hing jahrzehntelang dem neoliberalen Programm an. Ihre Wahlunterstützung hat sich mit dem Beginn der Großen Rezession halbiert und ist von 43,9% (2008) auf 22,0% (2015) gefallen. Die Parteizusammensetzung wird von “Inaktiven” (d.h. PensionistInnen) dominiert, die 41,4% der gesamten Mitgliedschaft ausmachen [5] (siehe Abbildung 4).

 

 

 

Abbildung 4: Verteilung der UnterstützerInnen der politischen Parteien in Spanien, 2015 [6]

 

 

 

 

Trotz dieses Niedergangs und des fortgeschrittenen Alters ihrer Mitglieder gehört eine Mehrheit der ArbeiterInnenklasse an. Die PSOE hält auch noch enge Verbindungen mit der UGT, einem der beiden großen Gewerkschaftsbündnisse in Spanien. Diese enge Verbindung half dabei, die UGT-Führung (gemeinsam mit der stalinistisch geführten Gewerkschaft CCOO) dazu zu bringen, einen “Sozialvertrag” mit der damaligen PSOE-geführten Regierung zu unterzeichnen. Dieser Vertrag sollte treffender “Antisozialvertrag” genannt werden, denn er beinhaltete die Anhebung des offiziellen Pensionsalters von 65 auf 67 Jahre.

 

Die französische sozialistische Partei befindet sich ebenfalls in der Krise und hat sich schon vor langem zu einer neoliberalen Partei gewandelt. Die Krise beschleunigte sich noch seit Präsident Hollandes Machtergreifung 2012. Unter seiner Führung führte die PSF nie dagewesene Angriffe auf demokratische Rechte durch (einem nicht enden wollenden Regime des Ausnahmezustandes seit November 2015; antidemokratische Verfassungszusätze; tausende Angriffe gegen muslimische MigrantInnen usw.). Außerdem nahm die Regierung Hollande an einer Reihe imperialistischer Kriege in Mali, in der Zentralafrikanischen Republik, im Irak und in Syrien teil.

 

Wenig überraschend gehen diese Entwicklungen Hand in Hand mit dem Niedergang der Partei. Während sie offiziell 2009 über 203.000 Mitglieder verfügte, sank diese Zahl 2015 auf etwa 120.000. Seit Hollande die Macht übernommen hat, haben 40.000 Mitglieder die PSF verlassen.[7] Nicht weniger bedeutsam ist die traditionell kleinbürgerliche Klassenzusammensetzung der PSF – ein Charakteristikum, das sich in den letzten paar Jahren zweifellos verschärft hat. Laut dem französischen Politwissenschafter Laurent Bouvet sind nur 16% der PSF-Mitglieder ArbeiterInnen und NiedrigverdienerInnen im Gegensatz zu 35%, die dem höheren Management und freien Berufen angehören. Die Mitgliederschaft der Partei wird insgesamt von den relativ privilegierten Angehörigen des öffentlichen Sektors dominiert (58% aller Mitglieder). Wie alle anderen sozialdemokratischen Parteien haben auch die PSF-Mitglieder ein hohes Durchschnittsalter (67% sind über 50 Jahre alt). Bouvet berichtet: “Sie (die WählerInnenschaft) umfasst hauptsächlich Stimmen aus der Mittel- und Oberschicht und wenige aus der ArbeiterInnenklasse (vor allem aus den sozialen und Berufsgruppen “Angestellte” und “Arbeiter”, die mehr als 50 Prozent der aktiven Bevölkerung in Frankreich ausmachen). Außerdem ist der Anteil der WählerInnen aus dem öffentlichen Sektor besonders signifikant in Relation zu ihrem Gewicht in der aktiven Bevölkerung.” [8]

 

Weiters sind fast ein Viertel aller Parteimitglieder gewählte VertreterInnen in Gemeinde-, Regional- oder Nationalparlamenten, Regierungsbehörden usw. [9]

 

Die britische Labour-Partei durchlief eine sehr ähnliche Entwicklung bis zum Sommer letzten Jahres (2015). Als die Regierung Blair 1997 an die Macht kam, löste sie die engen Verbindungen der Partei zu den Gewerkschaften (wenngleich sie immer noch bestehen) und beseitigte die berühmte Klausel 4 aus dem Parteiprogramm, die das Ziel der Verstaatlichung von Schlüsselbereichen der britischen Industrie formulierte. Die Regierung Blair setzte ein neoliberales Programm um und war eine treibende Kraft in der imperialistischen Kriegsoffensive im Nahen Osten. Tatsächlich war der “Sozialdemokrat” Blair der engste Verbündete von US-Präsident Bush und seiner militaristischen neokonservativen Regierung. Ebenso hat die Labour-Partei sich als loyale Unterstützerin Israels und ihres Kolonialkriegs gegen das palästinensische Volk erwiesen. Trotz der neuen linksreformistischen Führung Corbyns began die Partei kürzlich mit dem Ausschluss anti-zionistischer Mitglieder. [10]

 

Wie in anderen Ländern sank auch die Mitgliederzahl der Labour-Partei von etwa 400.000 (1997) auf 200.000 (2015). Mit der erfolgreichen Kampagne des linksreformistischen Labour-Parlamentsabgeordneten Jeremy Corbyn im Sommer 2015 konnte dieser Niedergang aufgefangen werden. Trotz offener Feindseligkeit seitens der pro-Blair-Führung setzte Corbyns Kampagne auf Anti-Spar- und Anti-Militarismus-Programme, was unter vielen Jungen Begeisterung hervorrief. Innerhalb weniger Monate sprang die Mitgliederzal der Labour-Partei “von 201.293 am 6. Mai 2015, dem Tag vor den Parlamentswahlen, auf 388.407 am 10. Jänner 2016.[11]

 

Diese Entwicklung ist ein wichtiger Indikator dafür, dass bürgerliche ArbeiterInnenparteien auch nach einer langen Periode des Niedergangs wiederbelebt und verjüngt werden können, wenn neu radikalisierte Jugendliche und ArbeiterInnen keine Alternative für sich sehen, um ihren Wunsch nach Veränderung politisch auszudrücken. Der Aufschwung der Mitgliederzahlen für Labour zeigt auch, wie falsch diverse ZentristInnen (wie z.B. das CWI) lagen, als sie in den frühen 1990ern erklärten, dass die Labour-Partei (und sozialdemokratische Parteien ganz allgemein) keine bürgerlichen ArbeiterInnenparteien mehr seien. Wir wirkliche MarxistInnen haben diese Annahme immer zurückgewiesen und gleichzeitig auch fortwährend die opportunistische Anpassung an den Labourismus und den endlosen Entrismus kritisiert, wie er von früheren Mitsreitern des CWI – der IMT von Ted Grant und Alan Woods – gepflogen wurde.

 

Wir kennen keine zur Verfügung stehende Studie der sozialen Zusammensetzung der Labour Partei, doch ein kürzlich veröffentlichter interner Bericht beinhaltet interessante Schlussfolgerungen. Die britische Zeitung The Guardian schrieb zu den Erkenntnissen dieses Berichts: “Der Bericht zeigt eine Partei im Übergang, die einen größeren Teil neuer Mitglieder aus wohlhabenden innerstädtischen Bereichen anzieht. Während es einen deutlichen Mitgliederanstieg in der gesamten Partei gab, bilden die traditionellen UnterstützerInnen aus ärmeren Teilen der Gesellschaft nun einen kleineren Anteil der Gesamtmitglieder. (…) Doch die Zusammenfassung des Berichts warnt: ‘Gruppen, die als Labour-Parteimitglieder überrepräsentiert sind, sind meist HauseigentümerInnen aus städtischen (v.a. innerstädtischen) Bereichen mit einem hohen verfügbaren Einkommen.’ ‘Jene, die unterrepräsentiert sind, sind meist entweder junge Alleinstehende/Familien, die zur Miete wohnen und finanzielle Unterstützung brauchen oder solche aus ländlichen Gemeinden.’ (…) Es zeigt sich, dass ‘StadtbewohnerInnen mit hohem Sozialstatus und Wohnungen in zentralen Lagen, die ihre Karriere vorantreiben, stark überrepräsentiert sind.’ ‘Als Gruppe machen sie 4% der Gesamtbevölkerung aus, im Gegensatz zu den 11,2%, die sie unter den Parteimitgliedern stellen,’ sagt er.” [12]

 

Ähnliche Entwicklungen können in der österreichischen sozialdemokratischen Partei und noch mehr in der irischen Labour-Partei beobachtet werden. Letztere erlitt in den Wahlen 2015 eine historische Niederlage, nachdem sie seit 2011 Teil einer Regierung, die ein aggressives Sparprogramm gefahren war, gewesen ist. Sie verlor zwei Drittel ihrer WählerInnen (von 19,5% auf 6,6%) und die meisten ihrer Parlamentssitze (von 37 auf 7).

 

Ebenso darf das traurige Schicksal der sozialistischen Partei und der kommunistischen Partei in Italien darf nicht vergessen werden. Beide, die PSI wie die PCI, lösten sich einfach auf und fusionierten mit offen bürgerlichen Parteien.

 

Die stalinistischen und ex-stalinistischen Parteien erlitten ein etwas anderes Schicksal, aber auch sie befinden sich in der Krise. Mit wichtigen Ausnahmen beteiligten sie sich nicht an Regierungskoalitionen und vermieden damit denselben scharfen Absturz in den Mitgliederzahlen, den die neoliberalisierten sozialdemokratischen Parteien erfuhren, denn sie konnten sich immer noch als gegen Kürzungen gerichtete Oppositionsparteien präsentieren. Dies ermöglichte ihnen bis zu einem gewissen Grad, ArbeiterInnen und Jugendliche, die von der Sozialdemokratie angewidert waren, anzuziehen. Das zeigte sich zum Beispiel beim Wahlerfolg der italienischen Partito della Rifondazione Comunista, die sich von der PCI abspaltete, als diese sich auflöste. Eine ähnliche Erscheinung gab es in Deutschland mit der Gründung der LINKE, nachdem die ex-stalinistische PDS in Ostdeutschland mit der westdeutschen WASG fusioniert hatte, die sich zuvor von der SPD abgespalten hatte. Und in Frankreich erlebte der Front de Gauche (FdG) – eine Fusion der ex-stalinistischen PCF und der Parti de Gauche, die sich von der PSF abgespalten hatte – einen gewissen Wahlerfolg, ebenso wie auch die spanische Izquierda Unida (die von der stalinistischen PCE ins Leben gerufen wurde).

 

Die jeweiligen Erfolge dieser ex-stalinistischen Parteien – die meisten sind in der Partei der Europäischen Linken (PEL) zusammengeschlossen – waren nicht nachhaltig. In Frankreich beteiligte sich die PCF an der neoliberalen PSF-geführten Regierung Lionel Jospin 1997-2002, die viele Privatisierungsprogramme umsetzte und an den NATO-Kriegen gegen Serbien und Afghanistan teilnahm. Die PCF wurde für diesen Verrat in den Präsidentschaftswahlen von 2002 schwer bestraft, als ihr Generalsekretär Robert Hue nur 3,37% der Stimmen erhielt, weniger als die zentristisch-trotzkistischen Kandidaten Arlette Laguiller (5,72%) und Olivier Besancenot (4,25%). Nach der Bildung der FdG erholte sich die PCF. Doch in den letzten Jahren wurde die FdG von internen Spannungen geplagt und der PdG-Führer Jean-Luc Mélenchon – der Kandidat der FdG in den Präsidentschaftswahlen 2012, der 11,1% der Stimmen erhielt – bereitet sich aktuell auf ein eigenes Projekt vor.

 

In Deutschland bewegte sich die LINKE kontinuierlich nach rechts. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends beteiligte sich diese Partei mit der SPD an einer regionalen Koalitionsregierung in Berlin und war verantwortlich für die Umsetzung diverser Privatisierungsprogramme. Einige ihrer führenden Vertreter unterstützten offen Israels Krieg gegen Gaza 2008/09 und in den Folgejahren. Die Partei verbietet ihren Mitgliedern offiziell, Solidaritätsaktivitäten mit dem palästinensischen Volk in Gaza (wie die Teilnahme an der Freiheitsflotte) oder die Boykottkampagne gegen den Apartheidsstaat Israel zu unterstützen. [13] Sahra Wagenknecht, die Vorsitzende der LINKE Parlamentsgruppe erklärte kürzlich, dass Flüchtlinge in Deutschland nur “Gäste” seien und wenn sie sich nicht wie “Gäste” benähmen und das deutsche Gesetz respektierten, sollten sie aus dem Land ausgewiesen werden! [14] Die offensichtliche Anbiederung der LINKE an die herrschende Klasse, um als Koalitionspartner akzeptiert zu werden, ist peinlich und beschämend.

 

Nebenbei: dieselbe proimperialistische und prozionistische Politik wird seit Jahren von der Schwesternpartei der LINKE in Österreich praktiziert – der Kommunistischen Partei Österreichs KPÖ. Wie andernorts berichtet beschuldigten führende Angehörige der PEL und der KPÖ (wie auch ihre zionistischen kriegstreiberischen Verbündeten) seit mehr als einem Jahrzehnt wiederholt die RCIT – auch in der bürgerlichen Presse – der Förderung des “Antisemitismus”, “revolutionären Wahnsinns” usw. [15]

 

Trotz oder vielmehr gerade wegen ihres Opportunismus verliert die LINKE weiterhin Mitglieder – von 78.046 (2009) auf 60.547 (2014). [16] Im Vergleich zu rechts-populistischen Parteien hat sie sich völlig unfähig erwiesen, vom Niedergang der Sozialdemokratie und der wachsenden Unzufriedenheit in der ArbeiterInnenklasse und der Jugend zu profitieren.

 

Dasselbe gilt für die spanische IU. Nach einigen Wahlerfolgen erlitt sie diverse Niederlagen und wurde vom Aufstieg der linkspopulistischen Podemos überschattet. Während der letzten Wahlen im Dezember 2015 erhielt die IU nur 3,7% der Stimmen. Zusätzlich zu ihrer Klassenbasis in der ArbeiterInnenklasse zählt die IU bemerkenswerterweise immer noch UnterstützerInnen aus dem Bereich hochqualifizierter und –bezahlter Mittelklasseangehöriger – die gauche divine, wie der spanische Soziologe Jorge Galindo sie nennt. [17]

 

In Italien brach Fausto Bertinottis PRC zusammen, nachdem sie zweimal in neoliberale Regierungen eingetreten war und Sparprogramme sowie die imperialistische Besatzung Afghanistans unterstützt hatte. Seit ihrem Zusammenbruch war die PRC unfähig, ausreichend Stimmen zu sammeln, um die Wahlschwelle zu überschreiten und hat somit derzeit keinen Sitz im Parlament.

 

Andere stalinistische Parteien, die außerhalb der PEL blieben, erleben ebenso Stagnation. Trotz Jahren mit zahlreichen Generalstreiks und politischen Erhebungen in Griechenland war die KKE nicht imstande, bei Wahlen Fortschritte zu machen und erhält wenig beeindruckende 4-6% der Stimmen – weniger als vor Beginn der Krise! Ähnlich steht die PCP in Portugal, die mit den Grünen auf einer gemeinsamen Liste anftritt, in allen Wahlen seit 1991 bei nur 7-8,8%. Keine dieser traditionellen reformistischen Parteien konnte an Unterstützung gewinnen, trotz wiederholter Wellen der Radikalisierung bei Jugendlichen und ArbeiterInnen, die sich stattdessen lieber mit neueren Formationen (wie SYRIZA oder dem portugiesischen Bloco de Esquerda) identifizierten.

 

Der Niedergang der traditionellen reformistischen Parteien ging Hand in Hand mit einer substanziellen Schwächung der Gewerkschaften. Eine ausführliche Studie der Gewerkschaftsbewegung würde den Rahmen des vorliegenden Buches sprengen. doch es reicht an dieser Stelle aus, auf die Tatsache zu verweisen, dass die Gewerkschaften in den alten imperialistischen Ländern (Nordamerika, Westeuropa, Japan und Australien) seit den 1980ern durchschnittlich rund die Hälfte ihrer Mitglieder verloren haben. So ist die Gewerkschaftsdichte in den OECD-Ländern von 34% (1978) auf 17% (2010) gefallen. In Frankreich fällt der Absturz noch steiler aus, die Mitgliederzahlen fielen von 20,5% auf 7,7%. In Deutschland halbierte sich die Zahl fast von 35,5% auf 18,1%, in Britannien sieht der Rückgang von 48,8% auf 25,8% ähnlich aus und in Italien, weniger steil, ging die Mitgliederzahl in den Gewerkschaften von 50,4% auf 37,3% zurück (siehe Tabelle 8).

 

 

 

Tabelle 8: Gewerkschaftsdichte (%) in ausgewählten OECD-Ländern, 1978-2013 [18]

 

        1978                      2013

 

Australien                          49.7%                    17.0%

 

Frankreich                         20.5%                    7.7%

 

Deutschland                       35.5%                    18.1%

 

Italien                                  50.4%                    37.3%

 

Japan                                    32.6%                    17.8%

 

Britannien                          48.8%                    25.8%

 

USA                                      34,0%                    10.8%

 

OECD                                  34,0%                    18.1%

 

 

 

Die Verbürgerlichung und der Niedergang der reformistischen Parteien beschränkt sich nicht auf Europa, auch in einer Reihe wichtiger halbkolonialer Länder ist dies zu verzeichnen. In Südafrika durchlief die stalinistische South African Communist Party (SACP) eine intensive Verbürgerlichung. Als Teil des ANC ist die SACP seit mehr als zwei Jahrzehnten Teil der Regierung (seit 1994). Heute hat die Partei fünf Minister und drei Ministerstellvertreter im Koalitionskabinett. Ihr durchgängig reaktionärer Charakter wurde während des Marikana-Massakers 2012 auf schockierende Weise enthüllt, als die SACP-Führung die Tötung von im Streik befindlichen MinenarbeiterInnen unterstützte. Später unterstützten sie die klassenkollaborationistische regierungstreue COSATU-Führung zusammen gegen die kämpferischen Gewerkschaften, die sich um NUMSA vereinigten. Die SACP ist ein Musterbeispiel einer Partei, die formell den Prinzipien des “Marxismus-Leninismus” anhängt und in der Praxis als Speerspitze der kapitalistischen Konterrevolution agiert. [19]

 

Ein ähnliches Beispiel ist die Partido dos Trabalhadores (PT) in Brasilien. Die PT entstand in den 1980er Jahren als militante linksreformistische ArbeiterInnenpartei mit engen Verbindungen zur radikalen Gewerkschaftsbewegung. In Folge bildete sie eine Volksfrontkoalition mit bürgerlichen Kräften (wie der PMDB) und ist seit 2002 an der Macht. (Das kann sich in den kommenden Wochen und Monaten mit dem von rechten Kräften angestrengten Staatsstreich verändern – derzeit äußert sie sich im Verfahren der des Amtes enthobenen Präsidentin Dilma Rousseff). Als Ergebnis dieser Verbürgerlichung fügte sich die PT zunehmend liberalen Forderungen und zog Kürzungsprogramme durch. Die Partei ist aufs engste mit bekannten kapitalistischen Oligarchen verknüpft und somit, wenig überraschend, in diverse Korruptionsskandale verwickelt. [20]

 

Auch in Indien liefert die Entwicklung der indischen CPI(M) ein gutes Beispiel für die Verbürgerlichung und den Niedergang einer reformistischen Partei. Diese Partei regierte West-Bengalen, den viertbevölkerrungsreichsten Staat des Landes, 34 Jahre in Folge (1977-2011). Während dieser Periode unterdrückte die Partei nicht nur Bauernaufstände, sondern kollaborierte zunehmend mit imperialistischen Monopolen. Sie enteignete viele Bauern, deren Land an multinationale Konzerne übergeben wurde, und schickte die Polizei und ihre eigenen Parteischläger gegen jene, die sich wehrten. Wenig überraschend verlor die CPI(M) vor dem Hintergrund massiver Proteste ihre Macht in den Wahlen von 2011. [21]

 

 

 

Die marxistischen Klassiker zur Arbeiterbürokratie

 

 

 

Alle diese Entwicklungen sind kaum überraschend, weil die reformistischen Parteien wie auch die Gewerkschaften von der konservativen Arbeiteraristokratie und ihrer sozialen Basis – die Arbeiteraristokratie , d.h. die Oberschicht der ArbeiterInnenklasse, die extrem privilegiert ist und von der Bourgeoisie bestochen wird – dominiert werden. Der Marxismus charakterisiert die Arbeiterbürokratie in ihrer Zwillingsversion – in der reformistischen Partei wie auch in der Gewerkschaft – als  Agenten der herrschenden Klasse innerhalb der ArbeiterInnenbewegung. Die Arbeiteraristokratie ist mit dem kapitalistischen Staat und der Bourgeoisie unauflöslich über zahllose Bande verknüpft (Positionen in Parlamenten, Sozialversicherungen, anderen staatlichen Einrichtungen, Verwaltungen etc.) Diese Privilegien gründen auf der Überausbeutung der unterdrückten Völker durch imperialistische Monopole und bilden die objektiven wirtschaftlichen Quellen, aus denen die Arbeiterbürokratie und die Arbeiteraristokratie bestochen werden und sie so an die Herrschaft der imperialistischen Bourgeoisie gebunden werden.

 

Natürlich kann, da die ArbeiterInnenklasse die soziale Basis der Arbeiterbürokratie bildet, letztere in Perioden erhöhten Klassenkampfs unter Druck von unten kommen. In solchen Perioden kann sie sogar an die Spitze einer Streikbewegung gestellt – oder eher dorthin geschleift – werden und als Regierungspartei halbherzig Reformen umsetzen. Sie wird aber immer mit der Absicht der Unterminierung aller Formen unabhängiger proletarischer Aktivität agieren und jedwede radikale Bewegung, die das kapitalistische System gefährden könnte, liquidieren.

 

Die folgenden Zitate von Lenin und Trotzki zeigen, dass dies die Sichtweise der marxistischen Klassiker war. So erklärte der Führer der Bolschewiki 1916: „… dass die Opportunisten objektiv jenen Teil der Kleinbourgeoisie und gewisser Schichten der Arbeiterklasse darstellen, der mittels der imperialistischen Extraprofite bestochen wird und in Kettenhunde des Kapitalismus, in Verderber der Arbeiterbewegung verwandelt worden ist.[22]

 

In einem 1920 geschriebenen Vorwort zu seinem Buch über den Imperialismus erklärte Lenin die ökonomische Basis des Reformismus und die Rolle seiner Führungspersonen:

 

Es ist klar, dass man aus solchem gigantischen Extraprofit (denn diesen Profit streichen die Kapitalisten über den Profit hinaus ein, den sie aus den Arbeitern ihres ‚eigenen’ Landes herauspressen) die Arbeiterführer und die Oberschicht der Arbeiteraristokratie bestechen kann. Sie wird denn auch von den Kapitalisten der ‚fortgeschrittenen’ Länder bestochen - durch tausenderlei Methoden, direkte und indirekte, offene und versteckte. Diese Schicht der verbürgerten Arbeiter oder der ‚Arbeiteraristokratie’, in ihrer Lebensweise, nach ihrem Einkommen, durch ihre ganze Weltanschauung vollkommen verspießert, ist die Hauptstütze der II. Internationale und in unseren Tagen die soziale (nicht militärische) Hauptstütze der Bourgeoisie. Denn sie sind wirkliche Agenten der Bourgeoisie innerhalb der Arbeiterbewegung, Arbeiterkommis der Kapitalistenklasse (labor lieutenants of the capitalist class), wirkliche Schrittmacher des Reformismus und Chauvinismus. Im Bürgerkrieg zwischen Proletariat und Bourgeoisie stellen sie sich in nicht geringer Zahl unweigerlich auf die Seite der Bourgeoisie, auf die Seite der ‚Versailler’ gegen die ‚Kommunarden’. Ohne die ökonomischen Wurzeln dieser Erscheinung begriffen zu haben, ohne ihre politische und soziale Bedeutung abgewogen zu haben, ist es unmöglich, auch nur einen Schritt zur Lösung der praktischen Aufgaben der kommunistischen Bewegung und der kommenden sozialen Revolution zu machen. [23]

 

Und in einem anderen Dokument hielt Lenin fest: Der Opportunismus oder Reformismus musste unvermeidlich in den sozialistischen Imperialismus oder Sozialchauvinismus hinüberwachsen, der von welthistorischer Bedeutung ist; denn der Imperialismus sonderte eine Handvoll der reichsten, fortgeschrittenen Nationen aus, die die ganze Welt ausplündern, und gestattete eben dadurch der Bourgeoisie dieser Länder, aus ihrem monopolistischen Extraprofit (Imperialismus ist monopolistischer Kapitalismus) die Oberschicht der Arbeiterklasse dieser Länder zu bestechen..[24]

 

Nach Lenins Tod setzten Trotzki und seine Mitkämpfer den Kampf für den revolutionären Marxismus fort. Auf Grundlage der Erfahrung mit dem Reformismus und v.a. seiner englischen Version, schrieb Trotzki:

 

"Die Frage der Quelle dieser bürokratischen Gefahr ist nicht weniger wichtig. (…) In den kapitalistischen Staaten kann man die monströsesten Formen des Bürokratismus gerade in den Gewerkschaften beobachten. Es genügt, nach Amerika, England und Deutschland zu blicken. In Amsterdam ist die mächtigste internationale Organisation der Gewerkschaftsbürokratie. Ihr ist es zu verdanken, daß die ganze Struktur des Kapitalismus heute noch steht, vor allem in Europa und besonders in England. Gäbe es nicht eine Bürokratie der Gewerkschaften, dann würden die Polizei, die Armee, die Gerichte, die Lords und die Monarchie vor den proletarischen Massen als nichts als armselige und lächerliche Spielzeuge erscheinen. Die Bürokratie der Gewerkschaften ist das Rückgrat des britischen Imperialismus. Dank dieser Bürokratie existiert die Bourgeoisie nicht nur in den Metropolen, sondern auch in Indien, in Ägypten und den anderen Kolonien. Man müsste völlig blind sein, wollte man den englischen Arbeitern sagen: „Hütet Euch vor der Machteroberung, und denkt immer daran, daß Eure Gewerkschaften das Gegenmittel gegen die Gefahren des Staates sind.“ Der Marxist wird den englischen Arbeitern sagen: „Die Gewerkschaftsbürokratie ist das Hauptinstrument für eure Unterdrückung durch den bürgerlichen Staat. Die Macht muss den Händen der Bourgeoisie entrissen werden, und dazu muß ihr Hauptagent, die Gewerkschaftsbürokratie überwältigt werden.“ Beiläufig gesagt war besonders aus diesem Grund Stalins Block mit den Streikbrechern so kriminell.

 

Am Beispiel Englands erkennt man sehr klar, wie absurd es ist, die Gewerkschaftsorganisation und die Staatsorganisation einander gegenüberzustellen, als ob es sich um zwei verschiedene Prinzipien handle. In England mehr als irgendwo sonst stützt sich der Staat auf den Rücken der Arbeiterklasse, die die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung des Landes ausmacht. Der Mechanismus sieht so aus, daß die Bürokratie sich direkt über den Arbeitern aufbaut, und der Staat indirekt über das Zwischenglied der Gewerkschaftsbürokratie.

 

Bisher hierhin haben wir nicht die Labour Party erwähnt, die in England, dem klassischen Land der Gewerkschaften, lediglich eine politische Umsetzung der gleichen Gewerkschaftsbürokratie ist. Die gleichen Führer leiten die Gewerkschaften, verraten den Generalstreik, führen die Wahlkampagne und sitzen später in den Ministerien. Die Labour Party und die Gewerkschaften – dies sind keine zwei Prinzipien, sondern nur eine technische Arbeitsteilung. Zusammen sind sie die Hauptstütze der Herrschaft der englischen Bourgeoisie. Diese kann nicht gestürzt werden ohne den Sturz der Labour-Bürokratie zu. Und das kann nicht erreicht werden, indem die Gewerkschaft als solche dem Staat als solchen gegenüber gestellt werden, sondern allein durch die aktive Opposition der Kommunistischen Partei gegen die Labour-Bürokratie in allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens: in den Gewerkschaften, in Streiks, in der Wahlkampagne, im Parlament und auf der Ebene der Regierungsmacht." [25]

 

Diese Schlussfolgerungen haben nichts an Relevanz verloren. Ganz im Gegenteil, angesichts der Krise der revolutionären Fühung und der massiven Vergrößerung der Ressourcen zur Bestechung der Arbeiterbürokratie und –aristokratie über die Intensivierung der imperialistischen Überausbeutung der unterdrückten Völker haben sich diese Merkmale noch wesentlich verstärkt. Im Programm der RCIT haben wir diese Entwicklung folgendermaßren kommentiert: “In dieser tiefen Führungskrise – verbunden mit den Möglichkeiten der imperialistischen Bourgeoisie zur systematischen Bestechung der Arbeiterbürokratie und –aristokratie – ist auch die letztendliche Ursache zu suchen für die außergewöhnliche Verbürgerlichung der ArbeiterInnenbewegung und die Entrevolutionierung des Marxismus in der Fassung, wie er vom Linksreformismus, Zentrismus und den linken AkademikerInnen verzerrt wird, in den vergangenen Jahrzehnten.[26]

 

Wie schon wiederholt betont, haben die Vertiefung der kapitalistischen Krise im Zeitalter der Globalisierung und v.a. in der gegenwärtigen historischen Periode des kapitalistischen Niedergangs, die 2008 begonnen hat, diese Entwicklung nur beschleunigt. Die kapitalistische Krise zwingt alle Regierungen dazu, ihre Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse und die Unterdrückten zu verstärken und ihre Rivalität gegen andere kapitalistische Staaten zu verschärfen. Die herrschenden Klassen müssen immer größere Kürzungsprogramme fahren, immer mehr demokratische Rechte im eigenen Land beschneiden, immer mehr Kolonialkriege im Süden führen und den Chauvinismus gegen imperialistische Rivalen schüren. Wie oben angeführt liegt der Sinn und Zweck der Arbeiterbürokratie darin, von der Bourgeoisie an der Regierung und anderen Teilen des Staatsapparats beteiligt zu werden. Aus diesem Grund müssen Reformisten (gar nicht so sehr gegen ihren Willen) die Politik der herrschenden Klasse übernehmen, die wiederum an die objektiven Bedürfnisse des imperialistischen Kapitalismus angepasst ist. Daher ist es unausweichlich, dass die Sozialdemokratie und der Stalinismus immer bürgerlicher und reaktionärer werden.

 

Natürlich ist das kein einseitiger Prozess. Nachdem der Reformismus ein widersprüchliches Phänomen ist – mit der Arbeiterbürokratie, die eine kleinbürgerliche Schicht darstellt, die der Bourgeoisie dient, aber auf der Oberschicht der ArbeiterInnnenklasse beruht –, hinterlassen die Klassenwidersprüche in der Gesellschaft ihre Spuren auch im Reformismus. Unter besonderen Umständen kann der Reformismus zeitweilig wieder nach links schwenken, wenngleich eher in Worten und kaum in Taten (wie kürzlich in Corbyns Labour-Partei zu beobachten war).

 

In solch einer Periode steigen die Möglichkeiten enorm, dass die verschärften Widersprüche zwischen den Klassen und die Radikalisierung der ArbeiterInnenklasse und der Jugend entweder zu Spaltungen in den reformistischen Parteien und/oder zum Erscheinen neuer reformistischer oder kleinbürgerlicher linkspopulistischer Formationen führen. Und das ist auch genau das, was wir in den letzten Jahren erlebt haben.

 

 

 

Der Aufstieg neuer reformistischer Parteien und des kleinbürgerlichen Populismus

 

 

 

Lateinamerika war eindeutig die wichtigste Region, in der in den letzten Jahren kleinbürgerliche populistische Formationen entstanden. Dieser Anstieg fand nach zwei Jahrzehnten grenzenloser neoliberaler Angriffe durch die imperialistischen Monopole und ihre lokalen bürgerlichen Regierungen mit verheerenden Auswirkungen für ArbeiterInnen, die Bauernschaft und die städtische Armut statt. [27]

 

Im Ergebnis führte das in den 1980ern und 1990er Jahren zu einer substanziellen Schwächung der Gewerkschaften, mit der wichtigen Ausnahme Brasiliens, wie in Tabelle 9 zu sehen ist.

 

 

 

Tabelle 9: Gewerkschaflicher Organisationsgrad in Lateinamerika [28]

 

Land                                                     1982                      1998                      Veränderung       prozentuelle Veränderung

 

 

Argentinien                                             42                           22                           –20                        –47

 

Bolivien                                                  25                           9                             –16                        –65

 

Peru                                                      21                           6                             –15                        –73

 

Venezuela                                             26                           14                           –12                        –47

 

Uruguay                                               21                           12                           –9                           –43

 

Kolumbien                                             9                             6                             –3                           –36

 

Mexiko                                                 25                           22                           –3                           –11

 

Honduras                                              8                             6                             –2                           –30

 

Ecuador                                               11                           9                             –2                           –21

 

CostaRica                                            13                           12                           –1                           –9

 

Chile                                                   12                           13                           1                             8

 

ElSalvador                                            4                             5                             1                             28

 

DominikanischeRepublik                       12                           14                           2                             19

 

Brasilien                                             15                           24                           9                             57

 

 

 

Mit der Jahrtausendwende erlebte Lateinamerika einen steilen Anstieg im Klassenkampf. Ende 2001 und Anfang 2002 erhoben sich in Argentinien die Volksmassen in einem spontanen Aufstand gegen die neoliberale Regierung von Fernando de la Rúa. Diese “Revolutionstage” oder “Argentinazo” endeten im Sturz von vier PräsidentInnen in nur einer Woche! Außerdem wurden in Buenos Aires und anderen Städten Volksversammlungen organisiert sowie eine Reihe von Fabriken, die von den Kapitalisten verlassen worden waren, besetzt und unter ArbeiterInnenführung weiter betrieben. [29]

 

Auch in Bolivien rebellierten ArbeiterInnen und Arme heldenhaft gegen reaktionäre liberale Regierungen, was 2003-2005 zu einer Reihe von Streiks und Aufständen führte. [30]

 

Venezuela erlebte bereits im Februar und März 1989 den heroischen Volksaufstand gegen das vom IWF diktierte Sparprogramm, der in eine brutale Niederschlagung durch die Regierung mündete, wodurch etwa 2.000 Menschen starben (“Caracazo”).

 

Angesichts des Fehlens revolutionärer Führungen führten diese Massenproteste zur Stärkung bestehender linksreformistischer oder –populistischer Gruppen.

 

1998 gewann Hugo Chavez die Präsidentschaftswahlen, nachdem er seine Untergrundorganisation MVR-200 (Movimiento V Republica – Bewegung für eine 5. Republik) in eine offizielle politische Partei umgewandelt hatte. Chavez errichtete die MVR erfolgreich als Massenpartei mit Wurzeln in der städtischen Armut. Dafür nutzte er die sogenannten Circulos Bolivarianos, die im Jahr 2000 spontan entstanden und eine Art Ortsgruppe waren, die sich mit Themen wie Gesundheit und Ausbildung auseinandersetzte. Jeder Zirkel hatte 7-11 Mitglieder. Nach einiger Zeit umfasste die Partei offiziell etwa 200.000 Zirkel (wie sich diese Ortsgruppen nannten) und 2,2 Millionen Mitglieder (in einem Land von 30 Millionen EinwohnerInnen!). Diese Zahlen mögen aufgeblasen sein, doch ohne Zweifel hatte sich die MVR eine bedeutende Basis in den Volksmassen geschaffen. Die populistische Führung unter Chavez wollte allerdings nie, dass diese Circulos wirkliche Machtorgane werden (wie die Sowjets im Russland von 1917), sie sollten vielmehr Interessensgruppen bleiben, um den Einfluss der Partei bei den Massen zu steigern und sich gegen konterrevolutionäre Mobilisierungen der rechten Opposition zur Wehr zu setzen. In der Tat erwiesen sie sich während der Massendemonstrationen gegen den gescheiterten Putsch im April 2002 als äußerst wertvoll. [31]

 

In Bolivien errichtete Evo Morales eine Partei, die später als Movimiento al Socialismo-Instumento Político por la Soberanía de los Pueblos (Bewegung für den Sozialismus – Politisches Instrument für die Souveränität des Volkes MAS-IPSP) bekannt wurde. Es war eine radikale kleinbürgerliche populistische Partei, die sich stark auf die Koka-Bauern und die indigene Bevölkerung stützte. Unter ihren Gründungsmitgliedern waren der größte Bauernbund – die Confederación Sindical Ùnica de Trabajadores Campesinos de Bolivia (CSUTCB) – wie auch andere Bauernverbände (z.B. die Confederación Sindical de Colonizadores de Bolivia). Die Partei schloss auch enge Verbindungen mit der Confederaciòn de Pueblos Indígenas de Bolivia, einer Massenbewegung, die die indigene Bevölkerung repräsentierte (die indigene Bevölkerung bildet 59% der bolivianischen Bevölkerung und wurde historisch von der weißen Minderheit massiv unterdrückt).

 

Später gelang es der MA-IPSP auch, die Unterstützung wichtiger ArbeiterInnen- und Volksorganisationen wie dem Central Obrera Regional (COR) aus El Alto zu gewinnen, der ländlichen LehrerInnenvereinigung sowie Fencomin, die die Bergarbeitergenossenschaften repräsentiert (gegründet von ehemaligen BergarbeiterInnen, die eine zentrale Rolle in allen revolutionären Ereignissen Boliviens seit den 1940ern spielten, aber nach einem heroischen Aufstand 1985 gebrochen worden waren.)

 

In Brasilien konnte die PT, wie schon erwähnt, sich bedeutend stärken. Seit 1988 gewann sie eine Reihe lokaler und regionaler Wahlen. 2002 gewann ihr Führer Lula da Silva die Präsidentschaftswahlen und bildete eine Volksfrontregierung.

 

Ähnliche Entwicklungen fanden in anderen lateinamerikanischen Ländern statt. In Argentinien entstand aus der peronistischen Bewegung eine fortschrittliche bürgerlich-populistische Kraft um Néstor und Cristina Fernández de Kirchner. Erst führte Néstor, dann Cristina Fernández de Kirchner das Land als PräsidentIn von 2003-2015. Der Kirchnerismus konnte zahlreiche Organisationen des Volks, die während des Argentinazo 2001/02 entstanden waren, um sich scharren.

 

In Ecuador gibt es die Alianza Patria Altiva y Soberana (PAIS, Stolze und Souveräne Heimat), geführt von Rafael Correa, der 2007 Präsident des Landes wurde. Diese Allianz verbindet ein nationalistisches Programm mit sozialistischer Rhetorik und Sozialreformen. PAIS hat offiziell 1,5 Millionen Mitglieder (in einem Land von 16 Millionen EinwohnerInnen!)

 

In ihrer ersten Phase können die meisten dieser politischen Bewegungen als fortschrittliche kleinbürgerliche populistische Kräfte bezeichnet werden (Ausnahmen sind der Kirchnerismus in Argentinien wegen des jahrzehntelangen bürgerlich-populistischen Charakters der peronistischen Bewegung, die ihn hervorgebracht hatte, und die brasilianische PT, die als ArbeiterInnenpartei gegründet worden war). Diese fortschrittlichen populistischen Kräfte waren keine ArbeiterInnenorganisationen, denn ihre Hauptbasis lag nicht in den Massenorganisationen der ArbeiterInnenklasse (wie Gewerkschaften usw.) oder einschlägigen Parteien wie den Stalinisten; sie waren auch keine bürgerlichen Parteien, denn sie erwuchsen aus der radikalen Massenmobilisierung und aus den Kämpfen gegen die Bourgeoisie. Sie wurden von kleinbürgerlichen Kräften (mittellosen Bauern, der unteren Schichten der städtischen Mittelklasse usw.) dominiert, die von den verheerenden Folgen der kapitalistischen Globalisierung besonders betroffen waren. In vielen Fällen gelang es ihnen, die Unterstützung wichtiger Teile der ArbeiterInnenklasse einschließlich der Gewerkschaften zu gewinnen. Aus diesen Gründen charakterisieren wir diese Parteien, in ihrer ersten Phase, als fortschrittliche kleinbürgerlich-populistische Kräfte mit starken Wurzeln in den Volksmassen.

 

MarxistInnen wissen, dass kleinbürgerliche Parteien auf lange Sicht keine unabhängige Rolle spielen können. Sie müssen sich entweder der ArbeiterInnenklasse – repräsentiert von einer revolutionären Massenpartei – oder der Bourgeoisie anschließen. Die zeitweilige Koalitionsregierung der Bolschewiki mit den linken Sozialrevolutionäre von Oktober 1917 bis zum Sommer 1918 ist ein Beispiel für ersteres. Wenn es keine Partei wie die Bolschewiki gibt, schließen sich die kleinbürgerlichen Parteien früher oder später mit Teilen der Bourgeoisie und des Imperialismus zusammen.

 

Trotzki fasste diese historische Lehre in seinem Buch zur permanenten Revolution zusammen:

 

"[D]ie Rolle der Bauernschaft, so groß sie auch sein mag, [kann] weder selbständig noch führend sein. Der Bauer geht entweder mit dem Arbeiter oder mit dem Bourgeois. (…) Eine demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft als Regime, das sich nach seinem Klasseninhalt von der Diktatur des Proletariats unterscheidet, könnte nur in dem Falle verwirklicht werden, wenn die Verwirklichung einer selbständigen revolutionären Partei als Ausdruck der Interessen der Bauernschaft und der kleinbürgerlichen Demokratie überhaupt denkbar wäre, d.h. einer Partei, die mit Unterstützung des Proletariats fähig wäre, die Macht zu erobern und ihr revolutionäres Programm zu bestimmen. Wie die gesamte Erfahrung der neueren Geschichte, besonders die Erfahrung des letzten Jahrhunderts in Rußland, beweist, bildet ein unüberwindliches Hindernis für die Schaffung einer Bauernpartei die ökonomische und politische Unselbständigkeit der Kleinbourgeoisie und ihre tiefgehende innere Differenzierung, kraft derer die oberen Schichten der Kleinbourgeoisie (der Bauernschaft) in allen entscheidenden Fällen, besonders bei Krieg und Revolution, mit der Großbourgeoisie, während die unteren Schichten der Kleinbourgeoisie mit dem Proletariat gehen und damit die Zwischenschicht zwingen, zwischen den zwei äußersten Polen eine Wahl zu treffen. Zwischen der Kerenskiade und der bolschewistischen Macht, zwischen der Kuomintang und der Diktatur des Proletariats gibt es keine Zwischenstufe und kann es keine geben, d.h. es gibt keine demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern." [32]

 

Tatsächlich konnte man in Russland sehen, dass sich die Menschewiki und der rechte Flügel der Sozialrevolutionäre nach dem Oktoberaufstand mit den weißen Konterrevolutionärn zusammenschlossen. Später folgte ihnen auch der linke Flügel der Sozialrevolutionäre, nachdem sie mit den Bolschewiki im Sommer 1918 gebrochen hatten.

 

Diese Erfahrung hat sich vielfach wiederholt. Zum Beispiel hielt das neue Regime nach dem Ende des Bürgerkriegs 1911-1917, der der mexikanischen Revolution folgte, die kapitalistischen Produktionsverhältnisse aufrecht und festigte die Macht der Bourgeoisie (wenngleich mit einigen Reformen und einem anderen politischen Regime). [33]

 

Eine ähnliche Entwicklung gab es in Bolivien nach der Revolution von 1952, die die MNR mit Hilfe der ArbeiterInnenklasse – v.a. der Bergarbeiter – an die Macht gebracht hatte. Während viele Minen verstaatlicht und einige Landreformen umgesetzt wurden, konnte die Bourgeoisie unter dem Regime der MNR, die bis 1964 herrschte, ihre Macht wieder festigen. [34]

 

Man muss verstehen, dass kleinbürgerliche populistische Parteien, sobald sie einmal an der Macht sind, unausweichlich dazu gezwungen sind, ihren Charakter zu wandeln, denn sie müssen eine stabile soziale Basis finden, von der aus sie ihre Macht konsolidieren können. Mit anderen Worten, sie müssen sich mit einer der Hauptklassen der Gesellschaft verbünden, d.h. mit der Bourgeoisie oder dem Proletariat. Unter den Bedingungen des Kapitalismus heißt Machtergreifung üblicherweise, dass eine radikale kleinbürgerliche populistische Partei enge Verbindungen mit Teilen der Bourgeoisie bilden muss. Da die Partei die Abschaffung des Kapitalismus nicht zum Ziel hat, behält die Bourgeoisie unvermeidlich ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Macht als herrschende Klasse. Mehr noch, der kapitalistische Staatsapparat – d.h., die Bürokratie von Armee, Polizei, Justiz, öffentlicher Verwaltung usw. – bleibt unverändert, was ebenfalls ein wesentlicher Faktor bei der Integration und Verbürgerlichung einer populistischen Partei ist, die gerade die Macht ergriffen hat. Kurz, alle kleinbürgerlichen populistischen Parteien, die in einem kapitalistischen System die Macht übernehmen, knüpfen letztlich Verbindungen mit Teilen der Bourgeoisie und mit der einen oder anderen imperialistischen Großmacht. So werden sie zu bürgerlichen Volksfrontparteien.

 

Natürlich kann es auch Ausnahmen geben. Eine wichtige solche Ausnahme war Castros Movimiento 26 de Julio, die im Jänner 1959 in Kuba die Macht übernahm und später – unter dem Druck sowohl des US-Imperialismus wie auch des revolutionären Aufstands der ArbeiterInnen und der Bauernschaft – gezwungen war viel weiter zu gehen, als sie ursprünglich geplant hatte. Wie andernorts ausgeführt[35] errichteten Castro und seine Anhänger als Ergebnis dieser Entwicklungen im Sommer 1960 eine bürokratische antikapitalistische ArbeiterInnenregierung, die wiederum zur Gründung eines degenerierten ArbeiterInnenstaats in Kuba führte. Während Castro und Konsorten die Bourgeoisie auf wirtschaftlicher Ebene enteigneten, enteigneten sie gleichzeitig aber auch die ArbeiterInnenklasse in politischer Hinsicht.

 

Derlei Ausnahmen wurden schon von Trotzki vorhergesehen, als er im Übergangsprogramm schrieb:

 

Ist es möglich, mit den traditionellen Arbeiterorganisationen eine solche Regierung zu schaffen? Wie schon gesagt, zeigt die bisherige Erfahrung, das das zumindest wenig wahrscheinlich ist. Man kann jedoch nicht im Voraus kategorisch als theoretische Möglichkeit leugnen, dass die kleinbürgerlichen Parteien, inklusive der Stalinisten, durch ein ganz außergewöhnliches Zusammentreffen von Umständen (Krieg, Niederlagen, Finanzkrach, revolutionäre Massenerhebungen usw.) beeinflusst, bei ihrem Bruch mit der Bourgeoisie weitergehen können, als sie eigentlich selbst gewollt haben. Jedenfalls ist das eine nicht zu bezweifeln: selbst wenn sich diese wenig wahrscheinliche Variante irgendwo und irgendwann ereignete, und wenn sogar eine ‘Arbeiter- und Bauernregierung’ im oben angezeigten Sinne zustande käme, so würde sie nur eine kurze Episode auf dem Weg zur wirklichen Diktatur des Proletariats sein.[36]

 

Wie bereits erwähnt werden kleinbürgerliche populistische Parteien an der Macht üblicherweise zu bürgerlichen populistischen Parteien, wenn sie mit dem bürgerlichen Staatsapparat und einem Teil der kapitalistischen Klasse verschmelzen. In Fällen, in denen sie wesentliche Verstaatlichungen unternehmen, können sie auch einen neuen Teil der kapitalistischen Klasse begründen – eine Klasse staatskapitalistischer Manager und damit verbundener Geschäftsleute. Das war der Fall in Ländern wie Mexiko, dem Iran oder als neueres Beispiel Venezuela.

 

In einem solchen Prozess wird eine solche Partei zu einer Volksfront, denn sie vereint Teile sowohl der kapitalistischen Klasse wie auch der Volksmassen. An der Macht wird eine solche Partei auch Verbindungen mit der einen oder anderen imperialistischen Macht aufnehmen. Die mexikanischen Vorläuferorganisationen der PRI unter Plutarco Calles und Lázaro Cárdenas etwa versuchten die Unterstützung des US-Imperialismus gegen Britannien zu erlangen. Ebenso die peruanische APRA. Ein weiteres Beispiel ist der Versuch indischer NationalistInnen unter Subhas Chandra Bose, der, wenngleich nicht an der Macht, sich mit deutschen und japanischen ImperialistInnen verbündete, um Indien von Britannien zu befreien.

 

Ein ähnlicher Prozess fand in Lateinamerika im letzten Jahrzehnt statt. Die kleinbürgerlichen Populisten – auch “Castro-Chavistas” genannt – verteidigten nach ihrer Machtergreifung kapitalistische Eigentumsverhältnisse. Während sie unter dem massiven Druck der Volksmassen ein paar politische, wirtschaftliche und soziale Reformen (einschließlich Verstaatlichung oder Reformierung einiger Schlüsselbereiche wie der Ölindustrie) umsetzten, wurde die wirtschaftliche Basis der kapitalistischen Klasse als solche – das Privateigentum im Industrie-, Dienstleistungs- und Finanzbereich – nicht angetastet. Auch änderten die Castro-Chavistas nichts Grundlegendes am Staatsapparat. Natürlich wurden einige Köpfe ausgetauscht, doch die bürokratische Kaste als solche mit ihren zehntausenden Beamten blieb an ihrem Platz.

 

Das hieß, dass die alte herrschende Klasse ihren Reichtum und ihre wirtschaftliche Grundlage aufrecht erhalten konnte, während die neuen populistischen Kräfte die Regierung führten. Folglich ist die alte herrschende Klasse weiterhin im Besitz all ihrer Ressourcen. Wenn die Populisten die Unterstützung aus dem Volk verlieren, können sie so leicht wieder von der Macht verjagt werden.

 

Die Castro-Chavistas kanalisierten die revolutionäre Energie der Volksmassen in passive Wahlunterstützung oder nutzten sie – in Ausnahmesituationen – für kontrollierte Massenmobilisierungen gegen konterrevolutionäre Kräfte (wie etwa in Venezuela im April 2002, als es einen Putschversuch gegen das Regime Chavez gab).

 

Chavez, Morales, Correa usw. haben die konkrete Beschaffenheit des kapitalistischen Systems dahingehend verändert, dass sie den staatskapitalistischen Sektor ausgebaut haben (ähnlich einer Reihe westeuropäischer kapitalistischer Länder nach dem Zweiten Weltkrieg). So begründeten sie enge Verbindungen mit den Boliburguesía, wie die bolivarischen Kapitalisten in Venezuela genannt werden.[37]

 

In ihrer Zeit an der Macht erweiterten die Castro-Chavistas sozialstaatliche Maßnahmen für die Volksmassen (wie z.B. die Misiones Bolivarianas in Venezuela oder die Bolsa Família in Brasilien). Das war allerdings auch den außergewöhnlichen damaligen Umständen geschuldet. Während des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends erlebten diverse lateinamerikanische Länder ein enormes Wirtschaftswachstum durch dem globalen Preisansteig bei Rohstoffen wie Öl und Gas, aber auch Soja im Fall Argentiniens und Lithium im Fall Boliviens.

 

Außerdem gewährte der Aufstieg Chinas als neue mit dem US-Imperialismus – der traditionell Lateinamerika dominierte - rivalisierende Großmacht den Castro-Chavista-Regierungen einen gewissen Spielraum, um dem Druck des US-Imperialismus und des IWF standzuhalten. Als Ergebnis dessen wurde China zu einem der größten Handelspartner und Investoren in Lateinamerika. [38]

 

Der Niedergang der Weltwirtschaft führte jedoch zu einem Absturz der Exportgewinne – v.a. bei Öl und Soja (siehe Abbildung 5) – mit desaströsen Auswirkungen auf die Zahlungsfähigkeit der Castro-Chavista-Regierungen und ihre Möglichkeit, die kürzlich eingeführten Sozialleistungen zu finanzieren.

 

 

 

Abbildung 5: Preisindizes ausgewählter Warengruppen, August 2013–September 2015 [39]

 

 

 

 

 

Genau vor diesem Hintergrund kommt es seit 2015 zu einer verschärften Krise und zum Niedergang der diversen populistischen oder Volksfrontregierungen in Lateinamerika. Diese Umstände führten bereits zum Sieg von Macri in Argentinien, zum Amtsenthebungsverfahren gegen Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff und zum Sieg der MUD bei den letzten Wahlen in Venezuela. [40]

 

In Kuba hat die stalinistische Castro-Führung wieder den Kapitalismus eingeführt, was zu massiven Entlassungswellen von Beschäftigten in der staatlichen Industrie und der Öffnung der Wirtschaft für chinesische, US-amerikanische und andere Konzerne führte. [41]

 

Das ist eine wenig überraschende Entwicklung, denn die Castro-Chavistas haben nie auch nur versucht, die kapitalistische Klasse zu enteignen. Somit waren sie zwangsläufig auch nicht imstande, die grundlegenden Ursachen der Armut und Arbeitslosigkeit zu überwinden. Sie konnten zeitweilig durch die vorteilhafte Nutzung des Rohstoffpreises die Folgen der fundamentalen wirtschaftlichen Widersprüche im Land lindern. Doch als der Boom nachließ, mussten die Reformen gestoppt werden und die Castro-Chavistas, die ihre UnterstützerInnen bereits jahrelang mit bürokratisch auferlegter politischer Passivität demoralisiert haben, haben nun auch mit der Umsetzung von Sparprogrammen begonnen.

 

Die ideologischen Urspünge des bolivarischen Populismus können historisch bis zur russischen Partei der Sozialrevolutionäre zurückverfolgt werden, die gleichermaßen versucht hatten, in einem theoretischen Mischmasch die ArbeiterInnenklasse, Bauernschaft und kleinbürgerlicher Intelligenz als Gesamteinheit zu definieren, die sie das “revolutionäre Volk” nannten. Die Sozialrevolutionäre und der Bolivarische Populismus in ihrem Gefolge wiesen die strikte Trennung dieser gesellschaftlichen Kräfte in unterschiedliche Klassen, wobei die ArbeiterInnenklasse die einzig durchgängig revolutionäre Kraft darstellt und die anderen gesellschaftlichen Schichten ihre Verbündeten sein können, strikt zurück. [42]

 

Trotz der gegenwärtigen Krise der Castro-Chavista-Regimes ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass diese kleinbürgerlich-populistischen Parteien immer noch bestehen und weiterhin massiven Einfluss auf ArbeiterInnen und Unterdrückte ausüben. Solange es keine auf die Massen gestützte revolutionäre Partei als Alternative gibt, kann ein Wiederaufleben dieser kleinbürgerlich-populistisischen Parteien keineswegs ausgeschlossen werden, abgesehen vom möglichen Erscheinen neuer einflussreicher kleinbürgerlich-populistischer Parteien.

 

Wie in unseren Thesen zur Einheitsfronttaktik und anderen Dokumenten festgehalten, ist das Erscheinen kleinbürgerlich-populistischer Kräfte keineswegs auf Lateinamerika beschränkt. Man denke nur an Julius Malemas EFF in Südafrika, diverse islamistisch kleinbürgerlich-populistische Kräfte wie Hamas, Dr. Al-Qadris Pakistanische Volksbewegung PAT (Pakistan Awami Tehreek), die Houthis im Jemen sowie verschiedene demokratisch nationalistische oder islamistische Rebellenorganisationen in Syrien, Libyien und Ägypten.

 

Auch spielten verschiedene kleinbürgerliche populistische Kräfte nationalistischen Typs führende Rollen in nationalen Befreiungskämpfen unterdrückter Völker in der halbkolonialen Welt wie auch in einigen imperialistischen Ländern. Bis zu seiner Niederlage und Vernichtung im Jahr 2009 waren die LTTE (“Tamil Tigers”) in Sri Lanka ein bekanntes Beispiel dafür, ebenso wie auch diverse kleinbürgerlich-nationalistische Kräfte in Kaschmir und Balochistan (Pakistan). Sinn Fein/IRA in Nordirland vor ihrer Kapitulation 1998 ist ein weiteres. Herri Batasuna im Baskenland und Candidatura d’Unitat Popular in Katalonien sind ebenfalls wichtige fortschrittliche kleinbürgerlich-nationalistische Kräfte, die im spanischen Staat aktiv sind.

 

Vor kurzem hat Sinn Fein, lang eine Oppositionspartei in der Republik Irland, deutlich an Einfluss gewonnen, nachdem sie in der Right2Water-Kampagne eine führende Rolle übernommen hat. Dabei geht es um den Kampf gegen die Errichtung einer Wassergebühr durch die Regierung als Teil eines Sanierungsprogramms, in das einfache Volk für die Bankenkrise zahlen sollen; diese Kampagne ist zu einer der größten sozialen Bewegungen in Irland seit Jahrzehnten geworden. In den letzten Wahlen (2016) erhielt Sinn Fein 13,8% der Stimmen und wurde damit zur drittgrößten Partei im irischen Parlament.

 

Ein weiteres Beispiel für einen besonderen Typ einer kleinbürgerlich-populistischen Partei in einem imperialistischen Land ist die Partei Respect in Britannien. Ihr bekanntester Führer ist George Galloway, langjähriger Parlamentsabgeordneter des linken Flügels der Labour Partei. Galloway spielte eine prominente Rolle in der Bewegung gegen die imperialistischen Kriege im Nahen Osten und für Solidarität mit dem palästinensischen Volk (er nahm später allerdings auch reaktionäre Positionen ein wie etwa bei der Unterstützung der Assad-Diktatur gegen die syrische Revolution und der Kollaboration mit der rechten rassistischen UKIP in der Kampagne für den EU-Austritt Britanniens). Nach Galloways’ Ausschluss aus der Labour Partei unter Blair 2003 wegen seiner Opposition zum imperialistischen Krieg im Irak gründete er gemeinsam mit der zentristischen SWP und mit der Unterstützung einer Reihe von muslimischen Migrantenorganisationen Respect. Dieser Zusammenschluss war eine Folgeerscheinung der Anti-Kriegsbewegung, in der muslimische Migrantenorganisationen eine große Rolle gespielt hatten. Während Respect nie eine stabile Massenbasis erlangen konnte, war es dennoch imstande, gewisse Wahlerfolge einzufahren. Die bakenntesten davon waren die zwei Wahlsiege, die Galloway ins Parlament brachten (zuerst in Behtnal Green and Bow 2005-10 und später in Bradford West 2012-15). Diese beiden Erfolge basierten fast ausschließlich auf der Unterstützung der muslimischen Migrantengemeinden, die davor die Labour Partei unterstützt hatten, aber mit ihr wegen deren unterwürfigen Unterstützung der britischen Teilnahme an den imperialistischen Kriegen in Afghanistan, im Irak und in Libyen und wegen des Aufstiegs des islamophoben Rassismus in Britannien gebrochen hatten. Es steht außer Frage, dass diese muslimischen Migrantengemeinden von einer schmalen kleinbürgerlichen Schicht aus Kleingewerbetreibenden, Ärzten, religiösen Führern etc. dominiert waren. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass Respect eine Zeit lang politischer Ausdruck des antiimperialistischen und antirassistischen Protests der MigrantInnen geworden war.

 

Es gibt auch zahlreiche kleinbürgerlich-populistische Migrantenorganisationen in anderen imperialistischen Ländern wie auch unter den unterdrückten farbigen und Latino-Minderheiten in den USA.

 

Von besonderer Wichtigkeit für RevolutionärInnen sind jene Entwicklungen in der ArbeiterInnenklasse, die zur Gründung neuer ArbeiterInnenparteien führten. Natürlich befürworten RevolutionärInnen einen solchen Prozess, denn er hilft der ArbeiterInnenavantgarde, sowohl von bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Parteien einerseits und versumpften bürokratisierten bürgerlichen ArbeiterInnenparteien andererseits politisch unabhängig zu werden. Die spektakulärsten Beispiele neuer Parteien, die in den letzten Jahren aus der ArbeiterInnenbewegung entstanden sind, waren die Gründung der Democratic Labor Party in Südkorea, der Partido de los Trabajadores in Bolivien, SYRIZA in Griechenland und des Bloco de Esquerda (B.E.) in Portugal.

 

In Korea ist die Democratic Labor Party stark an die KCTU, Südkoreas militanten Gewerkschaftsbund, geknüpft. Im Jahr 2000 gegründet, hat die DLP 10 Sitze bei den Parlamentswahlen von 2004 gewonnen. Doch die Partei spaltete sich und verschmolz mit anderen kleinbürgerlich-populistischen Kräften zur Unified Progressive Party. Diese wurde zur drittgrößten Parlamentspartei und vor Kurzem vom südkoreanischen Staat wegen ihrer antiimperialistischen Position gegen die US-Aggressionen gegen Nordkorea per Gesetz verboten.

 

Die bolivianische Partido de los Trabajadores wurde 2013 mit der Unterstützung des Gewerkschaftsbundes COB, v.a. der Bergarbeitergewerkschaft FSTMB, gegründet. Diese Entwicklung war das Ergebnis der Desillusionierung vieler ArbeiterInnen durch die MAS-Regierung unter Morales.

 

Ein weiteres Beispiel, das noch nicht zur Partei herangereift ist, ist die sogenannte United Front in Südafrika. Es ist eine von der Metallarbeitergewerkschaft NUMSA gegründete politische Allianz, die bis zum Bruch mit ihrer Führung die größte Gewerkschaft im COSATU-Gewerkschaftsbund war. Leider ist die NUMSA-Führung entschlossen, den ausgetretenen Pfad der reformistischen Freedom Charter, das alte ANC-Programm von 1955, zu verfolgen und kann sich nicht zur Gründung einer politischen Partei durchringen, die gegen die Hauptregierungspartei ANC antreten würde.

 

SYRIZA in Griechenland ist ein etwas anderes Phänomen, denn sie wurde 2004 als Koalition von Synaspismós (eine “eurokommunistische” Abspaltung von der stalinistischen KKE) und einigen kleineren linksreformistischen und zentristischen Organisationen gegründet. Einige Jahre war sie eine Partei mit bescheidener Unterstützung, doch erlebte sie bei den Wahlen 2012 ihren Durchbruch und wurde mit mehr als 16% der Stimmen zur zweitgrößten Parlamentspartei. Bei den nächsten Wahlen im Jänner 2015 gewann SYRIZA 36,3% der Stimmen und damit Platz 1. Diese Massenunterstützung gewann sie mit ihrem Anti-Sparwahlprogramm und ihrer Anprangerung der korrupten “alten politischen Klasse”. Doch einmal an der Macht verriet sie die Interessen der ArbeiterInnen und Armen vollständig. Sie organisierte im Sommer 2015 eine Volksabstimmung zum Memorandum der EU-Troika, das mit einem klaren “OXI” (“Nein”) zum EU-Sparprogramm endete. Doch nur Wochen später unterzeichnete die SYRIZA-Regierung das dritte EU-Memorandum! [43]

 

Der 1999 gegründete portugiesische Bloco de Esquerda ist ebenso eine Koalition verschiedener zentristischer Organisationen trotzkistischen oder maoistischen Ursprungs. Wie SYRIZA gewann er Popularität als Vertreter des Kampfs gegen Sparprogramme. Er gelangte bald ins Parlament und bei den letzten Wahlen (Oktober 2015) erhielt er 10,2% der Stimmen.

 

Sowohl SYRIZA als auch B.E. wurden von Organisationen der ArbeiterInnenbewegung gegründet, doch keine der beiden hatte bedeutende Wurzeln in der organisierten Massenbasis der ArbeiterInnenklasse (B.E. hat sie weiterhin nicht). Ihr politischer Ruf war von der Teilnahme an Regierungen und an der korrupten politischen Elite unbeeinträchtigt, und so konnten sie zum Ausdruck der politischen Radikalisierung von Teilen der ArbeiterInnenklasse und der Jugend werden.

 

Ein etwas anderes Phänomen ist Frente de Izquierda y de los Trabajadores (FIT) in Argentinien, die keine Partei, sondern ein Wahlbündnis dreier zentristischer trotzkistischer Organisationen ist (PO, PTS und IS). Ihre KandidatInnen erhielten 812.503 oder 3,23% der Stimmen in den Präsidentschaftswahlen vom November 2015.

 

Schließlich gibt es Podemos in Spanien, gegründet 2014 nach Jahren des Massenprotests und sozialer Polarisierung im Land. 2011 erlebte Spanien eine demokratische Massenbewegung (“Indignados”) und in den Folgejahren eine Reihe von Protesten gegen drastische Sparprogramme der konservativen PP-Regierung und gegen die wachsende Arbeitslosigkeit (die Hälfte der spanischen Jugend hat keinen Job). Podemos organisierte im Jänner 2015 eine Massendemonstration, an der mehr als 100.000 Menschen teilnahmen. Trotz ihres kurzes Bestehens wurde sie zur zweitgrößten politischen Partei Spaniens, gemessen an den Mitgliedern (400.000). Sie konzentriert ihre Proteste auf die Sparprogramme der Regierung, die Monarchie und das korrupte politische System und verteidigt das Recht auf nationale Selbstbestimmung für die baskische Region, Katalonien usw.

 

Podemos ist eine fortschrittliche kleinbürgerlich-populistische Partei mit starker Orientierung am chavistischen Modell hinsichtlich Programm und Organisation. [44] Ihre soziale Basis ist v.a. die Jugend der verarmten unteren Mittelschicht.[45] Es gibt auch viele UnterstützerInnen unter den ArbeiterInnen, wie eine Reihe von circulos (Ortsgruppen) in ArbeiterInnenbezirken in Großstädten bestätigen. In Abbildung 4 (oben) ist ersichtlich, dass 35% der Podemos-UnterstützerInnen entweder arbeitslos oder auf bloß befristeter Basis erwerbstätig sind.

 

Außerdem hat Podemos enge Verbindungen zu verschiedenen Basisgruppen von ArbeiterInnen und der unteren Mittelschicht wie etwa in Ausschüssen des Krankenpflegepersonals oder unter schuldenbedingten Delogierungsopfern. [46]

 

Zusammenfassend ist Podemos ein weiteres wichtiges Beispiel, das illustriert, wie aufgrund des Fehlens einer wahrhaft revolutionären Führung und der Existenz traditionell reformistischer Parteien, die Radikalisierung von Teilen der ArbeiterInnenklasse und der Jugend vor dem Hintegrund der historischen Krise des Kapitalismus zumindest kurzfristig ihren Ausdruck in nicht-revolutionären Organisationen finden kann.

 

Wie in den angegebenen Beispielen ersichtlich ist, können solche Umstände zu einem der drei möglichen Szenarien führen:

 

i) Sie können die Schaffung neuer reformistischer ArbeiterInnenparteien bewirken oder die bislang kleinen Organisationen enorm stärken (z.B. PT in Bolivien, DLP in Südkorea, SYRIZA in Griechenland, B.E. in Portugal).

 

ii) Sie können in die Gründung neuer (oder gestärkter) kleinbürgerlich-populistischer Parteien münden, nicht nur in halbkolonialen Ländern, sondern auch in den imperialistischen Ländern (z.B. Castro-Chavismus in Lateinamerika, PAT in Pakistan, Sinn Fein in Irland, CUP, HB und Podemos in Spanien, Respect in Britannien)

 

iii) Sie können über den Masseneinfluss neuer und radikaler UnterstützerInnen auch zur Transformierung einer alten reformistischen Partei führen und sie damit in eine linksreformistische Partei wandeln (z.B. Labour-Partei in Britannien unter Corbyn)

 

Angesichts des höchst instabilen, revolutionären Wesens der gegenwärtigen Periode ist es kaum überraschend, dass all diese neuen reformistischen und populistischen Gründungen sehr instabil sind. Sie können rasch wachsen, doch mit ihrer kleinbürgerlichen Anpassung an den Kapitalismus und ohne Klarheit in Programm und Perspektive schaffen sie es nicht, einen stabilen Arbeiterkader zu errichten. Das erklärt die extrem instabile Natur dieser Parteien.

 

 

 

Marxistische Klassiker zum Kampf um proletarische Hegemonie in der Befreiungsbewegung

 

 

 

Die Einheitsfronttaktik bildet in mehrfacher Hinsicht ein wesentliches Element im revolutionären Kampf um die proletarische Vorherrschaft. Erstens beinhaltet der Kampf um die proletarische Vorherrschaft per definitionem die Überwindung der aktuellen kleinbürgerlichen oder bürgerlichen Hegemonie über die Befreiungsbewegung. Mit anderen Worten, die revolutionäre Partei muss danach streben, die gegenwärtige Führungsposition der Castro-Chavisten, der islamistischen Populisten, der linken Reformisten und anderer nicht-revolutionärer Kräfte zu ersetzen. Diese Führungen behindern – aufgrund ihrer Zugeständnisse an die herrschende Klasse, ihre Befriedung der revolutionären Energie der Massen, aufgrund der Absorbierung (oder Isolierung) der besten Elemente in den bürgerlichen Staatsapparat nach ihrer Machtübernahme usw. – die Reifung und Weiterentwicklung der proletarischen Befreiungsbewegung. Auf diese Art dienen sie nicht den Interessen der ArbeiterInnenklasse, sondern denen der herrschenden Klasse. Nur ihre Ersetzung durch eine revolutionäre Führung kann also sicherstellen, dass die ArbeiterInnenklasse und die Unterdrückten den Kapitalismus erfolgreich überwinden können. Das ist die erste und dringlichste Aufgabe im Kampf um die proletarische Hegemonie.

 

Zweitens und in Bezug auf erstens müssen RevolutionärInnen bestrebt sein, die kleinbürgerliche Dominanz in den Parteien und Organisationen, die an der Spitze der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten stehen, zu überwinden. Diese Parteien werden oft von einer kleinbürgerlichen Bürokratie dominiert, die die Aktivität der Basismitglieder einschränkt. Außerdem besteht oft ein unproportional hoher Einfluss des Kleinbürgertums (Akademiker, Rechtsanwälte, Kleingewerbetreibende, Führungskräfte…) in den oberen Rängen solcher Parteien.

 

Lenin betonte oft, dass es für RevolutionärInnen wesentlich ist, sich der internen sozialen Schichtung sowohl der ArbeiterInnenklasse wie auch des besitzlosen Kleinbürgertums bewusst zu sein. Das, so meinte er, macht die Einheitsfronttaktik umso dringlicher.

 

Der Kapitalismus wäre nicht Kapitalismus, wenn das „reine" Proletariat nicht von einer Masse außerordentlich mannigfaltiger Übergangstypen vom Proletarier zum Halbproletarier (der seinen Lebensunterhalt zur Hälfte durch Verkauf seiner Arbeitskraft erwirbt), vom Halbproletarier zum Kleinbauern (und kleinen Handwerker, Hausindustriellen, Kleinbesitzer überhaupt), vom Kleinbauern zum Mittelbauern usw. umgeben wäre; wenn es innerhalb des Proletariats selbst nicht Unterteilungen in mehr oder minder entwickelte Schichten, Gliederungen nach Landsmannschaften, nach Berufen, manchmal nach Konfessionen usw. gäbe. Aus alledem aber ergibt sich für die Vorhut des Proletariats, für seinen klassenbewussten Teil, für die kommunistische Partei absolut unumgänglich die Notwendigkeit, die unbedingte Notwendigkeit, zu lavieren, Übereinkommen und Kompromisse mit verschiedenen proletarischen Gruppen, mit verschiedenen Parteien der Arbeiter und der Kleinbesitzer zu schließen. Es kommt nur darauf an, dass man es versteht, diese Taktik so anzuwenden,dass sie zur Hebung und nicht zur Senkung des allgemeinen Niveaus des proletarischen Klassenbewusstseins, des revolutionären Geistes, der Kampf- und Siegesfähigkeit beiträgt.[47]

 

Die Volksfront ist die höchste (oder besser gesagt, die niederste) Form politischer Unterwerfung der ArbeiterInnenklasse unter die Bourgeoisie. Wie oben erwähnt ist sie eine politische Verbindung von Parteien des Proletariats und der Bauernschaft mit offen bürgerlichen Kräften. Solche Volksfronten bilden die größte Gefahr für die ArbeiterInnenklasse, denn sie beinhalten die politische und organisatorische Unterordnung der ArbeiterInnen unter die Bourgeoisie, erstere in ein rosiges Programm pazifistischer und reformistischer Illusionen einlullend. Solche Unterwerfung schwächt die ArbeiterInnenklasse und macht sie zum Kampf gegen künftige schwere Angriffe durch die herrschende Klasse unfähig. Trotzki bezeichnete das Thema Volksfront als “Hauptfrage der proletarischen Klassenstrategie dieser Epoche.” Angesichts der Erfahrungen mit der Volksfront in Frankreich und Spanien 1936 schrieb Trotzki damals in einem Dokument, das von einer Konferenz der Bewegung für die Vierte Internationale verabschiedet worden ist:

 

Die Julitage in Spanien ergänzen und vertiefen mit außerordentlicher Kraft die Lehren der Junitage in Frankreich. Zum zweiten Male im Laufe von 5 Jahren bringt die Koalition der Arbeiterparteien mit der radikalen Bourgeoisie die Revolution an den Rand des Abgrunds. Unfähig, irgend eine Aufgabe, die die Revolution gestellt hat, zu lösen, da alle diese Aufgaben auf eine einzige hinauslaufen, nämlich auf die Niederwerfung der Bourgeoisie, macht die «Volksfront» die Existenz des bürgerlichen Regimes unmöglich und provoziert dadurch den faschistischen Staatsstreich, Indem sie die Arbeiter und Bauern durch parlamentarische Illusionen einschläfert, ihren Kampfwillen lähmt, schafft die «Volksfront» die günstigsten Bedingungen für den Sieg des Faschismus. Die Politik der Koalition mit dem Bürgertum muss die Arbeiterklasse mit Jahren neuer Qualen und Opfer, wenn nicht mit Jahrzehnten faschistischen Terrors bezahlen.[48]

 

Die zentrale Aufgabe der Einheitsfronttaktik ist also die Förderung des Proletariats bei der Überwindung all dieser Formen der Unterwerfung und der Errichtung ihrer Vorherrschaft innerhalb der Befreiungsbewegung, d.h. dabei, sich von jedem bürgerlichen Einfluss frei zu machen und die Verbündeten – die besitzlose Bauernschaft, die städtische Armut, die verarmte untere Mittelschicht usw. – in den revolutionären Befreiungskampf gegen das kapitalistische System zu führen.

 

Lenin betonte diesen Aspekt oft:

 

Welche Politik aber müssen die Sozialdemokraten unbedingt betreiben? Entweder als Sozialisten, die abseits stehen von den Verrätern der Freiheit und Ausbeutern des Volkes, den Liberalen, Enthaltung üben, oder das kampffähige demokratische Kleinbürgertum sowohl gegen die Schwarzen als auch gegen die Liberalen führen (…) Die zweite Politik ist dann Pflicht, wenn noch Bedingungen für die bürgerlich-demokratische Revolution vorhanden sind, wenn es außer der Arbeiterklasse bestimmte bürgerliche oder kleinbürgerliche Schichten gibt, die fähig sind, um die dem Proletariat notwendige Demokratie zu kämpfen. In Russland ist gegenwärtig die zweite Politik obligatorisch. Die Sozialdemokratie ist verpflichtet, ohne auch nur für einen Augenblick ihre sozialistische Propaganda und Agitation, die Organisierung der Proletarier als Klasse zu vergessen, von Fall zu Fall vereint mit dem demokratischen Kleinbürgertum marschierend, sowohl die Schwarzen als auch die Liberalen zu schlagen. [49]

 

Bei der Erklärung eines wesentlichen Unterschieds zwischen den Bolschewiki und den Menschewiki schrieb er in einem anderen Artikel:

 

Der Kampf des Bolschewismus gegen den Menschewismus ist untrennbar mit dieser Geschichte verknüpft, als Kampf darum, ob die Liberalen zu unterstützen sind, oder ob die Hegemonie der Liberalen über die Bauernschaft zu beseitigen ist.[50]

 

Und in einem weiteren Artikel erklärte er: “Eine Hegemonie des Liberalismus in der russischen Befreiungsbewegung schwächt unumgänglich die Bewegung und macht es unmöglich, die Herrschaft der barbarischen Gutsbesitzer zu beseitigen. Nur die Überwindung des Liberalismus durch das Proletariat und die proletarische Hegemonie führten zu Siegen in der Revolution und sind imstande, weitere Siege zu erringen.[51]

 

In den Jahren nach Lenins Tod beschuldigten die Stalinisten Trotzki der “Vernachlässigung” der Notwendigkeit, das die ArbeiterInnenklasse eine Allianz mit der besitzlosen Bauernschaft errichtet. Das war kompletter Unsinn und diente den Stalinisten nur dazu, ihre eigene Strategie der Unterordnung der Interessen der ArbeiterInnenklasse unter jene der politischen Führung des Kleinbürgertums und der Arbeiteraristokratie (z.B. das anglo-russische Gewerkschaftskomittee 1925-27, Chiang Kai-sheks Kuomintag usw.) zu verschleiern.

 

Auf diese Anschuldigungen antwortete Trotzki, dass die Allianz der ArbeiterInnenklasse mit der besitzlosen Bauernschaft ein Kernelement der bolschewistischen Strategie ist. Doch eine solche Allianz kann nur auf festem und stabilem Boden errichtet werden, der nicht durch Unterwerfung des Proletariats unter die Führung des Kleinbürgertums (dessen Interesse mehr darin liegt, Teil der Bourgeoisie zu werden) geschwächt wird, sondern nur durch eine Allianz unter der Führung der ArbeiterInnenklasse. Tatsächlich ist das ein unumgänglicher Teil seiner Theorie der permenenten Revolution.

 

In seinem Buch zur permanenten Revolution erklärt Trotzki:

 

Worin besteht dann der Unterschied zwischen den fortgeschrittenen Ländern und den zurückgebliebenen? Der Unterschied ist groß, aber er bleibt doch in den Grenzen der Herrschaft kapitalistischer Beziehungen. Die Formen und Methoden der Herrschaft der Bourgeoisie sind in den verschiedenen Ländern sehr verschieden. Auf dem einen Pol trägt die Herrschaft einen nackten und absoluten Charakter: - die Vereinigten Staaten. Auf dem anderen Pol paßt sich das Finanzkapital den überlebten Institutionen des asiatischen Mittelalters an, indem es sie sich unterwirft und ihnen seine Methoden aufzwingt: - Indien. Aber hier wie dort herrscht die Bourgeoisie. Daraus folgt, daß auch die Diktatur des Proletariats hinsichtlich der sozialen Basis, der politischen Formen, der unmittelbaren Aufgaben und des Tempos der Arbeit in verschiedenen kapitalistischen Ländern einen äußerst unterschiedlichen Charakter haben wird. Die Volksmassen jedoch zum Siege über den Block der Imperialisten, Feudalen und nationalen Bourgeois zu führen, vermag nur die revolutionäre Hegemonie des Proletariats, die sich nach der Machteroberung in die Diktatur des Proletariats verwandelt. [52]

 

Zusammengefasst sind der Kampf um die proletarische Vorherrschaft und die Einheitsfronttaktik untrennbar miteinander verbunden. Ohne die Einheitsfronttaktik findet der Kampf um die proletarische Hegemonie in einem Vakuum statt, denn nur in der direkten praktischen Zusammenarbeit und politischen Konfrontation mit den reformistischen und populistischen Kräften können RevolutionärInnen ihre Entfernung aus den Führungspositionen erwirken. Ohne den Kampf um proletarische Vorherrschaft degeneriert die Einheitsfronttaktik zum opportunistischen Manöver mit kleinbürgerlichen Führungen und bringt den revolutionären Klassenkampf nicht voran, sondern hilft vielmehr der herrschenden Klasse.

 



[1] Leo Trotzki: Rosa Luxemburg und die IV. Internationale. Flüchtige Bemerkungen zu einer wichtigen Frage, (1935), in: Schriften über Deutschland, Band II, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt/M. 1971, S. 688 (Hervorherbung im Original).

[2] Für eine vollständige Analyse der Degeneration der Vierten Internationale und ihrer Bruchstücke siehe unser Buch Workers Power (Britain) and Irish Workers’ Group: The Death Agony of the Fourth International, London 1983. Siehe auch Michael Pröbstings Essay “Healy’s Pupils Fail to Break with their Master: The revolutionary tradition of the Fourth International and the centrist tradition of its Epigones Gerry Healy and the ’International Committee’ – A Reply from the RCIT to Socialist Fight, October 2013, in Revolutionary Communism No. 16, November 2013, http://www.thecommunists.net/theory/healy-and-fourth-international/

[3] Oskar Niedermayer: Parteimitglieder in Deutschland: Version 2015, Arbeitshefte aus dem Otto-Stammer-Zentrum, Nr. 20, Freie Universität Berlin, 2015

[4] Bundeszentrale für politische Bildung: Soziale Zusammensetzung der SPD-Mitgliedschaft, 28.8.2013, http://www.bpb.de/politik/grundfragen/parteien-in-deutschland/42102/zusammensetzung-der-spd

[5] Jorge Galindo: The core of Spanish parties, 1.11.2015, http://politikon.es/2015/11/01/the-core-of-spanish-parties/

[6] Jorge Galindo: The core of Spanish parties, 1.11.2015, http://politikon.es/2015/11/01/the-core-of-spanish-parties/

[7] Laurent Bouvet: Who Loves the PS? The Electoral Paradox of the French Socialist Party, in: In: Internationale Politik und Gesellschaft Online: International Politics and Society, No. 4/2010, S. 115; Frédéric Sawicki: French Socialist Party, in: Academic Foresights, No. 14: Juli-Dezember 2015, http://academic-foresights.com/French_Socialist_Party.html

[8] Laurent Bouvet: Who Loves the PS? The Electoral Paradox of the French Socialist Party; See also: Marc Lazar: In welchem Zustand befindet sich die Parti Socialiste? Friedrich-Ebert-Stiftung, März 2015; Ernst Hillebrand: Die Sozialistische Partei Frankreichs nach dem Parteitag von Reims, Friedrich-Ebert-Stiftung, März 2009, S. 7 und 11

[9] Siehe Ernst Hillebrand: Die Sozialistische Partei Frankreichs nach dem Parteitag von Reims, Friedrich-Ebert-Stiftung, März 2009, S. 6

[10] Siehe z.B. RED LIBERATION (Socialists Active in the Labour Party): UK: Defend Nazeem Shah and Ken Livingstone against the Pro-Zionist Labour Leadership! 30. April 2016; Britain: Defeat Zionism in the Labour Party, 30. März 2016, https://redliberation.wordpress.com/

[11] Ewen MacAskill: Revealed: how Jeremy Corbyn has reshaped the Labour party. Leader’s hopes of remoulding the party boosted as Guardian survey shows surge in members, huge support and shift to the left, The Guardian, 13. Januar 2016, http://www.theguardian.com/politics/2016/jan/13/revealed-how-jeremy-corbyn-has-reshaped-the-labour-party

[12] Rajeev Syal: Disproportionate number of Labour’s new members are wealthy city dwellers. Figures that will be seized upon by Corbyn’s critics show poorer supporters are now smaller proportion of membership, 21. Januar 2016. http://www.theguardian.com/politics/2016/jan/20/labours-new-members-mostly-wealthy-city-dwellers-leaked-report?CMP=Share_iOSApp_Other

[13] Siehe Michael Pröbsting: The Great Robbery of the South, S. 338-349

[14] Siehe z.B. Kevin Hagen: Wagenknecht und das Asylrecht: Die Gast-Rechte, SPIEGEL ONLINE, 12.1.2016, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/sahra-wagenknecht-zum-asylrecht-die-gast-rechte-a-1071614.html

[15] Siehe dazu u.B. Die KPÖ und Obamas Krieg im Nahen Osten. Antwort auf eine neuerliche KPÖ-Polemik gegen die RKO BEFREIUNG, 25.10.2014, http://www.thecommunists.net/home/deutsch/kpo-naher-osten/; Gaza-Krieg: Israel-freundliche KPÖ verleumdet erneut die RKO-BEFREIUNG, 25.7.2014, http://www.rkob.net/international/nordafrika-und-der-arabische-raum/israelfreund-kpoe/; siehe auch The Great Robbery of the South, S. 339-343. In all diesen Artikeln finden sich Hinweise und Links auf verschiedene Artikel unserer pro-zionistischen Gegner sowie die Antworten der RCIT darauf.

[16] Oskar Niedermayer: Parteimitglieder in Deutschland: Version 2015, Arbeitshefte aus dem Otto-Stammer-Zentrum, Nr. 20, Freie Universität Berlin, 2015

[17] Jorge Galindo: The core of Spanish parties, 1.11.2015, http://politikon.es/2015/11/01/the-core-of-spanish-parties/

[18] Siehe OECD: Trade union density (%) in OECD countries, 1960-2010; OECD: Trade union density 1999-2014, http://stats.oecd.org/viewhtml.aspx?datasetcode=UN_DEN&lang=en

[19] Zur Analyse der RCIT des Klassenkampfs in Südafrika siehe Michael Pröbsting: Open Letter to a South African Socialist: Reply to a Regional Representative of WASP on the South African Elections 5.5.2014, http://www.thecommunists.net/worldwide/africa-and-middle-east/open-letter-south-africa/; RCIT: Elections in South Africa: No Vote for the ANC! Critical Support for the WASP! Forward in Building a Mass Workers Party! 25.4.2014, http://www.thecommunists.net/worldwide/africa-and-middle-east/south-africa-election-tactics/; RCIT: South Africa: Forward to the Building of a Mass Workers’ Party Based on a Revolutionary Program! NUMSA’s break with the ANC is an important step forward. A strong revolutionary organization is needed to overcome mis-leadership and to avoid yet another betrayal of our struggle for liberation! 5.2.2014, http://www.thecommunists.net/worldwide/africa-and-middle-east/south-africa-workers-party/; Michael Pröbsting: South Africa: The traitors in their own words - On the South African “Communist” Party who call the police to arrest the miners leaders, 17.8.2012, http://www.thecommunists.net/worldwide/africa-and-middle-east/sacp-betray-miners/; RCIT: Perspectives and some first lessons from the miners’ strike and the police massacre in South Africa, 20.8.2012, http://www.thecommunists.net/worldwide/africa-and-middle-east/rcit-statement-south-africa/; Michael Pröbsting: South Africa: Revolutionary and Centrist Tactics against the ANC’s orchestrated Democratic Counterrevolution in 1994. A Reply to Socialist Fight and the Liaison Committee for the Fourth International 7.11.2013, http://www.thecommunists.net/worldwide/africa-and-middle-east/tactics-vs-anc-1994/

[20] Zur Analyse der RCIT des Klassenkampfs in Brasilien siehe CCR: Brazil: The Only Way Forward: Defeat the Coup with Mass, Independent Class Mobilizations of the Working Class and Oppressed! 22.4.2016, http://www.thecommunists.net/worldwide/latin-america/statement-on-coup/; CCR: Brazil: The Arrest of Lula da Silva – Yet Another Step in the Creeping Coup, 9.3.2016, http://www.thecommunists.net/worldwide/latin-america/arrest-lula/; CCR: Brazil: No to Impeachment! No to the Call for New Elections! 6.12.2015, http://www.thecommunists.net/worldwide/latin-america/brazil-impeachment/; CCR and FT-VP: Brazil: Resist A Fascist Coup By All Possible Means! March 27, 2015, http://www.thecommunists.net/worldwide/latin-america/brazil-statement-coup-demo/; CCR: Brazil: The World Cup and the Mass Protests of the Social Movements, 17.6.2014, http://www.thecommunists.net/worldwide/latin-america/brazil-world-cup/; CCR: Brazil: From the June protests on the streets towards the path of electoral illusions? 11.1.2014, http://www.thecommunists.net/worldwide/latin-america/brazil-report/; The Fight for the Right to Public Transportation - Free and With Quality - Under Control of Workers in Brazil, 14.6.2013, El Mundo Socialista, http://www.thecommunists.net/worldwide/latin-america/brazil-fight-for-public-transportation/; RCIT and Blog El Mundo Socialista: Brazil: Solidarity with the Popular Uprising! 19.6.2013, http://www.thecommunists.net/worldwide/latin-america/brazil-solidarity-with-popular-uprising/; Brazil: Before the General Strike on 11th July, 2.7.2013, http://www.thecommunists.net/worldwide/latin-america/brazil-general-strike-on-11-7/; Brazil: Trade Union Bureaucracy limits Workers’ Resistance to symbolic Actions. A report on the National Day of Struggle on 30 August, 2.9.2013, http://www.thecommunists.net/worldwide/latin-america/brasil-national-day-of-struggle-on-30-8/; Brazil: Indefinite Nationwide Strike of Bank Workers!, 20.9.2013, http://www.thecommunists.net/worldwide/latin-america/brazil-bank-workers-strike/

[21] Siehe dazu z.B. Michelle Williams: The Roots of Participatory Democracy – Democratic Communists in South Africa and Kerala, India, Palgrave Macmillan, New York 2008; Ross Mallick: Development policy of a Communist government: West Bengal since 1977, Cambridge University Press 1993

[22] W.I.Lenin: Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus (1916), in: LW Bd. 23, S.107 (Hervorhebung im Original)

[23] W.I.Lenin: Vorwort zu Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (1916 bzw. 1920), in: LW Bd. 22, S.198 (Hervorhebung im Original)

[24] W. I. Lenin: Über die Aufgaben der III. Internationale (Ramsay Macdonald über die III. Internationale) (1919), in: LW Bd. 29, S. 493f (Hervorhebung im Original)

[25] Leo Trotzki: Die prinzipiellen Fehler des Syndikalismus. Zu Verwenden in der Diskussion mit Monatte und seinen Freunden (1929), in: Die Bedeutung der Arbeit in den Gewerkschaften im Kampf für die Revolution, Internationale Arbeiterliteratur, Dortmund 1977, S. 110f. (Hervorhebung im Original)

[26] RCIT: Das Revolutionär-Kommunistische Manifest; Wien 2012, S. 26

[27] Siehe dazu z.B. Demmers, J., A. E. Fernandez Jilberto, and B. Hogenboom: Miraculous Metamorphoses. The Neoliberalization of Latin American Populism, Zed Books, London 2001

[28] Kirk A. Hawkins: Venezuela’s Chavismo and Populism in Comparative Perspective, Cambridge University Press, New York 2010, S. 101

[29] Siehe dazu z.B. Michael Pröbsting: Argentinien: Krise, Revolution, Repression (Sammlung von Artikeln, die während eines Argentinien-Aufenthalts des Autors im ersten Halbjahr 2002 entstanden sind)

[30] Siehe dazu z.B. James Petras and Henry Veltmeyer: Social Movements and State Power – Argentina, Brazil, Bolivia, Ecuador, Pluto Press, London 2005

[31] Siehe Dawn Gable: Civil Society, Social Movements, and Participation in Venezuela's Fifth Republic, 9. Februar 2004, http://venezuelanalysis.com/analysis/350

[32] Leo Trotzki: Die permanente Revolution, in: Leo Trotzki: Ergebnisse und Perspektive. Die permanente Revolution; Frankfurt a. M., 1971, S. 159f.

[33] Zur Geschichte der Mexikanischen Revolution z.B. John Reed: Insurgent Mexico (1914), International Publishers, New York, 1994; Adolfo Gilly: The Mexican Revolution, Verso Editions, London 1983; Hans Werner Tobler: Die mexikanische Revolution, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1984

[34] Siehe dazu unsere Studie zur Bolivianischen Revolution 1952 und der trotzkistischen Tradition: José Villa: A Revolution Betrayed, in: Revolutionary History Vol. 4, No. 3; Siehe auch: James Dunkerley: Rebellion in the Veins: Political Struggle in Bolivia, 1952-82, Verso Editions, London 1984; Guillermo Lora: A History of the Bolivian Labour Movement, 1848-1871, Cambridge University Press, Cambridge 1977

[35] Siehe dazu Michael Pröbsting: Cuba’s Revolution Sold Out? The Road from Revolution to the Restoration of Capitalism, RCIT 2013, Kapitel I und II

[36] Leo Trotzki: Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der IV. Internationale. Das Übergangsprogramm; Frankfurt/Main 1974, S. 33

[37] Siehe dazu z.B. RCIT: Presidential elections in Venezuela: There is no alternative for the workers on the ballot paper! Neither Hugo Chavez nor Orlando Chirino should be supported by the workers! For a new workers party on a revolutionary program! 3.10.2012, http://www.thecommunists.net/worldwide/latin-america/elections-in-venezuela/

[38] Siehe z.B. Miguel Perez Ludeña: Adapting to the Latin American experience; in: EAST ASIA FORUM QUARTERLY, Vol.4 No.2 April–Juni 2012, S. 13

[39] United Nations: World Economic Situation and Prospects 2016, New York, 2016, S. 15

[40] Zur Einschätzung der RCIT der Situation in Venezuela und der Politik der Chavistas siehe z.B. Venezuela: Only the Working Class under the Leadership of a Leninist Combat Party can achieve a Revolutionary Socialist Solution of the Crisis! Joint Statement of CSR-ETO (Venezuela) and the RCIT, 16.3.2014, http://www.thecommunists.net/worldwide/latin-america/venezuela-joint-statement/; RCIT: Venezuela: For Independent Working Class Mobilizations against the Semi-Fascist Provocateurs! No political support for the Maduro government! For a new workers’ party based on a revolutionary program! 20.2.2014, http://www.thecommunists.net/worldwide/latin-america/venezuela-semi-fascist-provocateurs/; RCIT: Action Program for Venezuela, http://www.thecommunists.net/worldwide/latin-america/action-program-for-venezuela/; Michael Pröbsting: On the outcome of the presidential elections in Venezuela, 8.10.2012, http://www.thecommunists.net/worldwide/latin-america/on-electoral-results-in-venezuela/; RCIT: Presidential elections in Venezuela: There is no alternative for the workers on the ballot paper! Neither Hugo Chavez nor Orlando Chirino should be supported by the workers! For a new workers party on a revolutionary program! 3.10.2012, www.thecommunists.net/worldwide/latin-america/elections-in-venezuela. For the RCIT’s analysis of the class struggle in Argentina see: Michael Pröbsting: Argentina: How to Fight, and how not to Fight, against the Macri Government (Reply to the TPR), 19.02.2016, http://www.thecommunists.net/worldwide/latin-america/tpr-christina-slogan/; RCIT: Argentina: Prepare for Workers’ and Popular Mass Resistance against the New Macri Administration! For a United Front of all Workers and Popular Organizations against the New Austerity Offensive and the Macri Administration! For a Break with the Policy of Class Collaboration of Kirchnerism! For an Independent Mass Workers’ Party! 19.12.2015, in: Revolutionary Communism No. 45 (January 2016), http://www.thecommunists.net/worldwide/latin-america/argentina-macri/; for RCIT documents on the present impeachment crisis in Brazil see footnote 70.

[41] Siehe dazu Michael Pröbsting: Cuba’s Revolution Sold Out? The Road from Revolution to the Restoration of Capitalism, RCIT 2013, besonders Kapitel III

[42] Siehe dazu z.B. Theodor Dan: Der Ursprung des Bolschewismus. Zur Geschichte der demokratischen und sozialistischen Idee in Russland nach der Bauernbefreiung, Verlag: J. H. W. Dietz Nachf., Hannover, 1968, S. 255-257

[43] Aufstieg und Fall von SYRIZA wurden vo uns in einer Reihe von Dokumenten und Resolutionen behandelt. Siehe RCIT: Upcoming Elections in Greece: Down with the Pro-Memorandum Parties! Critical Support for LAE (Popular Unity)! 13.9.2015, http://www.thecommunists.net/worldwide/europe/critical-vote-for-lae/; RCIT: Greece: SYRIZA Splits after Tsipras-Government Capitulates to the EU. For a new Workers’ Party with a Revolutionary Program instead of nationalist narrow-minded Left Reformism, 25.8.2015, http://www.thecommunists.net/worldwide/europe/syriza-splits/; RCIT: SYRIZA betrays Greece’s Workers and Poor – “OXI” was not meant as a “YES” to another austerity program! For the organization of mass resistance against the betrayal of the Tsipras government! Left wing in SYRIZA: Fight against the party leaders who are lackeys of the EU-Bosses! 11.7.2015, http://www.thecommunists.net/worldwide/europe/syriza-betrayal/; RCIT: 61.3% Vote OXI in the Greek Referendum: A Victory for the Entire European Working Class! A battle has been won, but the war against the EU and IMF continues! Nationalize the banks and media under workers’ control! 6.7.2015, http://www.thecommunists.net/worldwide/europe/greece-after-referendum/; RCIT: Referendum in Greece on 5 July: Vote OXI! against the EU-Troika! No to any Austerity Program! Break with the EU and IMF! Nationalize the Banks and Media under Workers’ Control! 30.6.2015, http://www.thecommunists.net/worldwide/europe/greece-referendum-oxi/; RCIT: Greece: No to the Surrender of the SYRIZA Leadership! 26.2.2015, http://www.thecommunists.net/worldwide/europe/syriza-surrenders/; RCIT: Greek Elections: SYRIZA Wins … and Forms an Alliance with Reactionary Racists! 27.1.2015, http://www.thecommunists.net/worldwide/europe/greece-syriza-anel/; RCIT: Elections in Greece: Vote SYRIZA but Don’t Trust the Tsipras Leadership! Organize the Struggle in Workplaces, Schools, and on the Streets! Fight for a Workers’ Government! 22.1.2015, http://www.thecommunists.net/worldwide/europe/greece-election-statement/; Michael Pröbsting: After the elections on 17th June: A new phase of the Greek Revolution is beginning! 19.6.2012, www.thecommunists.net/worldwide/europe/greece-after-17-6-elections; Michael Pröbsting: Greece: For a Workers' Government! Critical electoral support for SYRIZA and KKE! Workers: Organize and prepare yourselves for the struggle for power! 6.6.2012, www.thecommunists.net/worldwide/europe/greece-for-a-workers-government; Michael Pröbsting: After SYRIZA’s victory in the Greek elections: The question of a Workers Government and the revolutionary way forward, May 2012, www.thecommunists.net/worldwide/europe/after-the-greek-elections; Michael Pröbsting: Perspectives on the Greek Revolution, 10.11.2011, www.thecommunists.net/worldwide/europe/greece-revolution-or-tragedy

[44] Siehe z.B. Pablo Iglesias: Understanding Podemos, in: New Left Review No. 93 (May June 2015), pp. 7-22

[45] Zum Niedergang der Mittelschicht in Spanien siehe z.B. José Félix Tezanos: Trends Of The Middle Classes’ Decline In The Context Of Economic Crisis And Political Uncertainty: The Case Of Spain

[46] Siehe z.B. César Rendueles and Jorge Sola: Podemos and the Challenges of Political Change in Spain, in: Near Futures Online Issue No. 1 (März 2016) “Europe at Crossroads”; Jordi Mir Garcia: A Democratic Revolution Underway in Barcelona: Barcelona en Comú, in: Near Futures Online Issue No. 1; Pau Marí-Klose and Albert Julià: The ‘enraged’ Spanish Socialist voter: young and highly educated, 07. November 2014, http://www.policy-network.net/pno_detail.aspx?ID=4769&title=The+%E2%80%98enraged%E2%80%99+Spanish+Socialist+voter%3a+young+and+highly+educated; Toni Rodon and María José Hierro: Podemos and Ciudadanos Shake up the Spanish Party System: The 2015 Local and Regional Elections, in: South European Society and Politics (2016); David Rey and Arturo Rodriguez: Municipal and regional elections in Spain: the right wing bites the dust! 1. Juni 2015 http://www.marxist.com/municipal-and-regional-elections-in-spain-the-right-is-crippled-landslide-for-podemos.htm; Laureano Jimenez: Podemos: What is it and where is it going? 11. Februar 2015 http://www.marxist.com/podemos-what-ist-it-and-where-is-it-going.htm; Luke Stobart: Understanding Podemos, November 2014 bis Januar 2015 (Part 1 to 3), http://left-flank.org/2014/11/05/explaining-podemos-1-15-m-counter-politics/, http://left-flank.org/2014/11/14/understanding-podemos-23-radical-populism/, http://left-flank.org/2015/01/02/understanding-podemos-33-commonsense-policies/; David Mathieson: Si, we can! How the left-wing Podemos party is rattling the Spanish establishment, 5. Februar 2015, http://www.newstatesman.com/politics/2015/02/si-we-can-how-left-wing-podemos-party-rattling-spanish-establishment; François Sabado : The experience of Podemos in the Spanish State, its originality, its challenges, 22. Juni 2015, http://www.internationalviewpoint.org/spip.php?article4092; Tom Lewis: Podemos and the Left in Spain, in: International Socialist Review Issue #98, http://isreview.org/issue/98/podemos-and-left-spain; Omar Hassan: Podemos and left populism, Marxist Left Review No.11 Sommer 2016, http://marxistleftreview.org/index.php/no-11-summer-2016/130-podemos-and-left-populism

[47] W.I. Lenin: Der ‘linke Radikalismus’, die Kinderkrankheit im Kommunismus, in: LW Bd. 31, S. 60

[48] Leo Trotzki: Der neue revolutionäre Aufschwung und die Aufgaben der Vierten Internationale. Postskriptum (1936), in: Unser Wort. Halbmonatszeitung der IKD, Jahrgang 4, Nr. 14 (78), Anfang September 1936, S.2f., https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/trotzki/spanien/leo-trotzki-postskriptum-zu-der-neue-revolutionaere-aufschwung-und-die-aufgaben-der-iv-internationale. In einem anderen Dokument hielt Trotzki fest: “In Wirklichkeit ist die Volksfront die Hauptfrage proletarischer Klassenstrategie in dieser Epoche. Sie bietet auch das beste Kriterium für die Differenz zwischen Bolschewismus und Menschewismus. Denn es wird oft vergessen, dass das große historische Beispiel der Volksfront die Februarrevolution von 1917 ist. Vom Februar bis zum Oktober waren die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, die eine sehr gute Parallele zu den „Kommunisten" und den Sozialdemokraten bilden, in engstem Bündnis und in einer dauernden Koalition mit der bürgerlichen Partei der Kadetten, mit denen sie zusammen eine Reihe von Koalitionsregierungen bildeten. Unter dem Zeichen dieser Volksfront befand sich die ganze Masse der Bevölkerung, einschließlich der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte. Freilich nahmen die Bolschewiki an den Räten teil. Aber sie machten nicht die geringsten Konzessionen an die Volksfront. Ihre Forderung lautete, diese Volksfront zu zerbrechen, das Bündnis mit den Kadetten zu zerstören und eine echte Arbeiter- und Bauernregierung zu schaffen.” (Leo Trotzki: Die niederländische Sektion und die Internationale (1936), in: Leo Trotzki, Revolution und Bürgerkrieg in Spanien 1931-39. Band 1. ISP-Verlag, Frankfurt am Main 1986, S. 204f.

[49] W. I. Lenin: Der erste wichtige Schritt (1907), in: LW 12, S. 154f

[50] W.I. Lenin: Der historische Sinn des innerparteilichen Kampfes in Russland (1910), in: LW 16, S. 385

[51] W.I. Lenin: Über die Demonstration anlässlich des Todes Muromzews (1910), in: LW 16, S. 321f

[52] Leo Trotzki: Die permanente Revolution, S. 136

 

Marxismus und die Einheitsfronttaktik heute: V. Die Einheitsfronttatktik und kleinbürgerlich-nationalistischen und populistischen Parteien in der halbkolonialen Welt

 

 

Nach diesem Überblick über die wichtigsten gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten wie auch ihrer Organisationen wollen wir nun die verschiedenen Aspekten, die mit dieser revolutionären Taktik zusammenhängen, diskutieren.

 

Wir haben dargelegt, dass kleinbürgerlich-populistische Parteien in den letzten Jahren zu wichtigen Kräften geworden sind und es daher für RevolutionärInnen wesentlich ist, die Einheitsfronttaktik auf diese Kräfte anzuwenden. Das beinhaltet den Aufruf zu gemeinsamen Aktionen gegen neoliberale Regierungen, imperialistische Aggression usw.

 

Was also ist die Haltung von RevolutionärInnen gegenüber kleinbürgerlich-populistischen Parteien? Und wie soll die Einheitsfronttaktik solchen Parteien gegenüber während Wahlen angewendet werden und wie bei der Formulierung von Regierungslosungen?

 

 

 

“ArbeiterInnenpartei” oder “ArbeiterInnen- und Bauernpartei”?

 

 

 

Während RevolutionärInnen fortschrittliche von kleinbürgerlich-populistischen Parteien geführte Massenkämpfe gegen die herrschende Klasse und den Imperialismus unterstützen, streben sie nach der Schaffung einer ArbeiterInnenpartei, nicht einer klassenübergreifenden Partei. Wiederholt wurde die enorme Wichtigkeit der Verbindung der ArbeiterInnenklasse und den anderen unterdrückten Klassen und Schichten betont. Doch hier handelt es sich um eine Allianz von verschiedenen Klassen und es wäre ein schwerer Fehler, das Proletariat und das Kleinbürgertums zu vermengen. Eine solche Allianz kann außerdem nur zur Befreiung der ArbeiterInnenklasse und des Kleinbürgertums führen, wenn erstere letztere führt und nicht umgekehrt. Wenn die ArbeiterInnenklasse die führende Kraft ist, kann diese Allianz den Weg zum Sozialismus eröffnen. Wenn das Kleinbürgertum die ArbeiterInnenklasse dominiert, wird das Ergebnis eine Niederlage für beide Klassen sein.

 

Die Russische Revolution von 1917 war eine kraftvolle Bestätigung dafür. Zwischen Februar und Oktober dieses Jahres waren die Sowjets und kurz danach die Provisorische Regierung unter Vorherrschaft der kleinbürgerlichen Sozialrevolutionären Partei sowie der Menschewiki, die zu dieser Zeit schon zu einer bürgerlichen ArbeiterInnenpartei geworden war. Die Provisorische Regierung scheiterte nicht nur darin, die Kapitalisten zu enteignen, Russland aus dem Krieg zurückzuziehen und die Armut zu beseitigen, sondern erwies sich als unfähig, das Land der Großgrundbesitzer an die Bauernschaft zu verteilen, d.h. die Bedürfnisse des ländlichen Kleinbürgertums zu befriedigen. Das konnte erst erreicht werden, als die ArbeiterInnenklasse – geführt von der bolschewistischen Partei – im Oktober 1917 die Macht übernahm und die Diktatur des Proletariats gemeinsam mit der besitzlosen Bauernschaft begründete. In der ersten Periode bis zum Sommer 1918 taten sie das in Koalition mit dem linken Flügel der Sozialrevolutionären Partei.

 

Das letzte Jahrzehnt in Lateinamerika zeigte, dass, wenn kleinbürgerlich-populistische Parteien ohne Bündnis mit einer Partei bolschewistischen Typs die Macht erlangen (v.a. weil eine solche Partei gegenwärtig nicht existiert), die populistischen Parteien unausweichlich als Verteidiger des Kapitalismus agieren und letztlich zu bürgerlichen Parteien mit engen Verbindungen zu einem Teil der kapitalistischen Klasse werden. Diese aktuellen Beispiele sind nichts Neues, sondern wiederholen nur, was schon in Bolivien nach der Machtübernahme der MNR von Torres 1952 geschah oder in einer Reihe kleinbürgerlich-nationalistischer Bewegungen in Afrika und Asien, wenn sie nach dem Rückzug der Kolonialmächte und der Anerkennung der formellen Unabhängigkeit der früheren Kolonien in den 1950ern und 1960er Jahren an die Macht gelangten.

 

Es ist ein wesentlicher Grundsatz von MarxistInnen, dass eine revolutionäre Partei einen klaren Klassencharakter aufweisen muss. Sie muss eine Partei mit Wurzeln und Unterstützung in der ArbeiterInnenklasse sein. Das ergibt sich aus der zentralen Position des Proletariats im Produktionsprozess, d.h. weil sie die einzige Klasse ist, die kapitalistischen Wert schafft. Sie ist die einzige Klasse, die Mehrwert hervorbringt (das ist die Basis für den kapitalistischen Profit) und damit Schöpferin des Wohlstands der herrschenden Klasse. Die ArbeiterInnenklasse besitzt die Produktionsmittel nicht als Privateigentum und muss daher ihre Arbeitskraft an die Besitzer der Produktionsmittel verkaufen. Sie ist eine kollektive Klasse, denn eben der Produktionsprozess bringt die Vereinigung der ArbeiterInnen hervor, denn Produktion und Reproduktion gründen auf einer Teilung ihrer gemeinsamen Arbeit. Diese Realität und diese Dynamik unterscheiden das Proletariat von allen anderen unterdrückten Klassen und Schichten wie die Bauernschaft oder das städtische Kleinbürgertums, die sich durch ihren Wunsch, selbst individuell ein kleines Stück Land oder ein Geschäft zu besitzen, auszeichnen, ebenso wie von der lohnabhängigen Mittelschicht.

 

Diese Klassenwidersprüche zwischen dem Proletariat und den Kapitalisten bilden die Grundlage für die wirtschaftliche und politische Organisation ersteren gegen letztere. Marx führte das in seiner Polemik gegen den französischen utopischen Sozialisten Pierre-Joseph Proudhon aus:

 

Die ersten Versuche der Arbeiter, sich untereinander zu assoziieren, nehmen stets die Form von Koalitionen an. Die Großindustrie bringt eine Menge einander unbekannter Leute an einem Ort zusammen. Die Konkurrenz spaltet sie in ihren Interessen; aber die Aufrechterhaltung des Lohnes, dieses gemeinsame Interesse gegenüber ihrem Meister, vereinigt sie in einem gemeinsamen Gedanken des Widerstandes - Koalition. So hat die Koalition stets einen doppelten Zweck, den, die Konkurrenz der Arbeiter unter sich aufzuheben, um dem Kapitalisten eine allgemeine Konkurrenz machen zu können. Wenn der erste Zweck des Widerstandes nur die Aufrechterhaltung der Löhne war, so formieren sich die anfangs isolierten Koalitionen in dem Maß, wie die Kapitalisten ihrerseits sich behufs der Repression vereinigen zu Gruppen, und gegenüber dem stets vereinigten Kapital wird die Aufrechterhaltung der Assoziationen notwendiger für sie als die des Lohnes. Das ist so wahr, dass die englischen Ökonomen ganz erstaunt sind zu sehen, wie die Arbeiter einen großen Teil ihres Lohnes zugunsten von Assoziationen opfern, die in den Augen der Ökonomen nur zugunsten des Lohnes errichtet wurden. In diesem Kampfe - ein veritabler Bürgerkrieg - vereinigen und entwickeln sich alle Elemente für eine kommende Schlacht. Einmal auf diesem Punkte angelangt, nimmt die Koalition einen politischen Charakter an. Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelt. Die Herrschaft des Kapitals hat für diese Masse eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen. So ist diese Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst. In dem Kampf, den wir nur in einigen Phasen gekennzeichnet haben, findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sie sich als Klasse für sich selbst. Die Interessen, welche sie verteidigt, werden Klasseninteressen. Aber der Kampf von Klasse gegen Klasse ist ein politischer Kampf.[1]

 

Er und Engels entwickelten diesen Gedanken im Kommunistischen Manifest weiter:

 

Aber mit der Entwicklung der Industrie vermehrt sich nicht nur das Proletariat; es wird in größeren Massen zusammengedrängt, seine Kraft wächst, und es fühlt sie mehr. Die Interessen, die Lebenslagen innerhalb des Proletariats gleichen sich immer mehr aus, indem die Maschinerie mehr und mehr die Unterschiede der Arbeit verwischt und den Lohn fast überall auf ein gleich niedriges Niveau herabdrückt. Die wachsende Konkurrenz der Bourgeois unter sich und die daraus hervorgehenden Handelskrisen machen den Lohn der Arbeiter immer schwankender; die immer rascher sich entwickelnde, unaufhörliche Verbesserung der Maschinerie macht ihre ganze Lebensstellung immer unsicherer; immer mehr nehmen die Kollisionen zwischen dem einzelnen Arbeiter und dem einzelnen Bourgeois den Charakter von Kollisionen zweier Klassen an. Die Arbeiter beginnen damit, Koalitionen gegen die Bourgeois zu bilden; sie treten zusammen zur Behauptung ihres Arbeitslohns. Sie stiften selbst dauernde Assoziationen, um sich für die gelegentlichen Empörungen zu verproviantieren. Stellenweis bricht der Kampf in Emeuten aus.

 

Von Zeit zu Zeit siegen die Arbeiter, aber nur vorübergehend. Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter. Sie wird befördert durch die wachsenden Kommunikationsmittel, die von der großen Industrie erzeugt werden und die Arbeiter der verschiedenen Lokalitäten miteinander in Verbindung setzen. Es bedarf aber bloß der Verbindung, um die vielen Lokalkämpfe von überall gleichem Charakter zu einem nationalen, zu einem Klassenkampf zu zentralisieren. Jeder Klassenkampf ist aber ein politischer Kampf.” [2]

 

Heißt das, dass nur ArbeiterInnen Mitglieder einer ArbeiterInnenpartei sein können? Natürlich nicht! Mitglieder aller Klassen sind in einer revolutionären Partei willkommen, unter einer Bedingung: sie müssen sich voll mit den politischen Positionen der ArbeiterInnenklasse identifizieren.

 

In unserem Buch zu revolutionären Partei wurde gezeigt, wie die bolschewistische Partei in Russland – die erfolgreichste revolutionäre Partei in der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung – eine Partei war, die sich fast von Beginn an nur auf überwiegend proletarische Mitglieder stützte. Die Partei hatte natürlich auch Bauern und MitstreiterInnen aus der Mittelschicht in ihren Reihen, doch die ArbeiterInnen waren vorherrschend. [3]

 

Als in den 1920er Jahren Stalin die Idee einführte, dass KommunistInnen keine ArbeiterInnenparteien, sondern ArbeiterInnen- und Bauernparteien schaffen sollten, war das eine grundlegende Revision der orthodoxen marxistischen Position. Lenin und Trotzki hatten immer die Notwendigkeit des Aufbaus proletarischer Parteien verteidigt. Das war eine der Hauptdifferenzen zwischen den russischen MarxistInnen und den kleinbürgerlichen Populisten der Sozialrevolutionäre, wie Lenin mehrfach ausführte.

 

Der Kleinbürger einschließlich des Bauern steht natürlich dem Liberalen näher als dem Proletarier, steht ihm näher als Besitzer, als Kleinproduzent. Deshalb wäre im Sinne des Sozialismus die Verschmelzung der Kleinbürger und der Proletarier in einer Partei (was die Sozialrevolutionäre wollen) politisch undenkbar und direkt reaktionär.[4]

 

Die ‚Koalition von Proletariat und Bauernschaft’ darf, nebenbei bemerkt, keinesfalls als Verschmelzung verschiedener Klassen oder als Verschmelzung der Parteien des Proletariats und der Bauernschaft aufgefasst werden. Nicht nur eine Verschmelzung, sondern jedes auf längere Sicht getroffene Abkommen würde für die sozialistische Partei der Arbeiterklasse verderblich sein und den revolutionär-demokratischen Kampf schwächen. Die unvermeidlichen Schwankungen der Bauernschaft zwischen liberaler Bourgeoisie und Proletariat entspringen ihrer Klassenlage, (…)[5]

 

Und in einer Polemik gegen die Sozialrevolutionäre erklärte Lenin 1909:

 

Die Sozialdemokraten behaupteten, das Proletariat und die Bauernschaft seien verschiedene Klassen der kapitalistischen (bzw. halb feudalen, halb kapitalistischen) Gesellschaft; die Bauernschaft bilde eine Klasse von Kleineigentümern, die die Gutsbesitzer und die Selbstherrschaft ‚vereint schlagen’ könne, wenn sie in der bürgerlichen Revolution mit dem Proletarier ’auf einer Seite der Barrikade’ stehe, und die in dieser Revolution in dem einen oder anderen Fall im ‚Bündnis’ mit dem Proletarier handeln könne, dabei aber eine völlig andere Klasse der kapitalistischen Gesellschaft bliebe. Die Sozialrevolutionäre bestritten das. Die Grundidee ihres Programms bestand keineswegs darin, dass es eines ‚Bündnisses der Kräfte’ des Proletariats und der Bauernschaft bedürfe, sondern darin, dass es keine Klassenkluft zwischen diesem und jener gäbe, dass es nicht nötig sei, eine Klassengrenze zwischen ihnen zu ziehen, dass die sozialdemokratische Idee vom kleinbürgerlichen Charakter der Bauernschaft im Unterschied zum Proletariat prinzipiell falsch sei. (…) Es gab ein sozialrevolutionäres Programm, Verehrteste, dessen ganzer Unterschied vom sozialdemokratischen Programm im grundlegenden, theoretischen Teil darauf hinauslief, den kleinbürgerlichen Charakter der Bauernschaft und die Klassengrenze zwischen Bauernschaft und Proletariat zu leugnen. Es gab eine Revolution, Verehrteste, deren grundlegende Lehre darin besteht, dass die Bauernschaft durch ihre offenen Massenaktionen ihre eigene, vom Proletariat verschiedene Klassennatur offenbarte und ihren kleinbürgerlichen Charakter erwies. [6]

 

Dieses Prinzip der marxistischen Parteitheorie wurde in der Geschichte mehrfach bestätigt. Die Sozialrevolutionäre – erst der rechte und später auch der linke Flügel – liefen im Laufe des russischen Bürgerkriegs 1918-21 ins Lager der kapitalistischen Konterrevolution über. Später wandte sich die chinesische Kuomintang gegen die ArbeiterInnen und Bauern und schlachtete zehntausende KommunistInnen ab. Trotzki fasste die Lehren dieser Erfahrung wie folgt zusammen:

 

Wenn die Avantgarde der russischen Proletariats sich der Bauernschaft nicht entgegengestellt hätte, wenn sie keinen unversöhnlichen Kampf gegen deren alles versclingenden kleinbürgerlichen Verschwommenheit geführt hätte, dann hätte sie sich unvermeidlich selbst im kleinbürgerlichen Element aufgelöst – vermittelt durch die sozialrevolutionäre oder irgendeine anderen 'kombinierte Parteie', die sich ihrerseits unvermeidlich ihrer bürgerlichen Führung untergeordnet hätte. Um zu einem revolutionären Bündnis mit der Bauernschaft zu gelangen – das man nicht umsonst bekommt -‚ muß sich die proletarische Avantgarde und damit auch die Arbeiterklasse insgesamt zunächst von den kleinbürgerlichen Volksmassen befreien. Das kann nur durch die Erziehung der proletarischen Partei im Geiste einer unerschütterlichen Unversöhnlichkeit erreicht werden.[7]

 

Er widmete auch der Tatsache Aufmerksamkeit, dass es noch vor Stalin eben die sozialdemokratischen OpportunistInnen waren, die die Idee von “ArbeiterInnen- und Bauernparteien” aufbrachten:

 

Fatal ist, daß auch in dieser für den gesamten Osten so grundlegenden Frage der gegenwärtge Revisionismus nur die Fehler des alten, vorrevolutionären sozialdemokratischen Opportunismus wiederholt. Die Mehrheit der Führer der europäischen Sozialdemokratie hielt den Kampf unserer Partei gegen die Sozialrevolutionäre für einen Fehler und empfahl hartnäckig eine Verschmelzung beider Parteien, weil sie für meinte. Für den russischen „Osten“ sei eine kombinierte Arbeiter- und Bauernpartei genau das richtige. Hätten wir auf diese Ratschläge gehört, hätten wir niemals das Bündnis der Arbeiter und Bauern oder die Diktatur des Proletariats verwirklicht. Die „kombinierte“ Arbeiter- und Bauernpartei der Sozialrevolutionäre wurde bei uns zur Agentur der imperialistischen Bourgeoisie und mußte dazu werden; sie versuchte, ohne Erfolg, jene historische Rolle zu spielen, die auf andere, „eigene“, chinesische Art und – dank der Revisionisten des Bolschewismus – mit Erfolg die Guomindang gespielt hat. Ohne eine schonungslose Verurteilung der Idee von Arbeiter- und Bauernparteien für den Osten gibt es kein Programm der Komintern und kann es keines geben.[8]

 

Zusamengefaßt sind MarxistInnen kategorisch gegen die populistische Konzeption von ArbeiterInnen- und Bauernparteien. Die revolutionäre Partei muss proletarischen Charakter haben oder sie hat keinen. Das Bestehen einer eigenständigen proletarischen Partei ist die Vorbedingung für die Bildung einer Allianz der ArbeiterInnenklasse mit der Bauernschaft und anderen unterdrückten nicht-proletarischen Schichten und eine solche Allianz kann nur erfolgreich sein, wenn sie von der ArbeiterInnenklasse, d.h. ihrer Partei, geführt wird. ArbeiterInnen- und Bauernparteien, d.h. kleinbürgerlich-populistische Parteien sind ein Hindernis für den Befreiungskampf der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten.

 

 

 

Entrismustaktiken in kleinbürgerlich-populistischen Parteien

 

 

 

Was heißt das unter Bedingungen, unter denen keine ArbeiterInnenpartei besteht oder nur eine sehr kleine oder bürokratisch sehr degenerierte, und es andererseits aber kleinbürgerlich-populistische Parteien mit Massenanhang aus der ArbeiterInnenklasse gibt? Natürlich müssen MarxistInnen zur Gründung einer ArbeiterInnenpartei aufrufen (mehr dazu weiter unten). Wie in den Thesen zur Einheitsfront ausgeführt, wäre es völlig sektiererisch für MarxistInnen, sich nur auf die Verurteilung der populistischen Parteien zu beschränken. Sie sollten auch Taktiken gegenüber einer solchen Partei entwickeln. Das bedeutet die Anwendung der Einheitsfronttaktik in verschiedenen Formen. Das schließt – angesichts der nummerischen Schwäche der RevolutionärInnen heute – gemeinsame praktische Aktivitäten des Klassenkampfs unter der Führung solcher Parteien und die Zusammenarbeit mit ihren Mitgliedern mit ein.

 

Unter besonderen Umständen kann es auch heißen, dass RevolutionärInnen in solche Parteien eintreten sollen, um noch enger mit kämpferischen Mitgliedern dieser Parteien zusammenzuarbeiten und sie für eine revolutionäre Perspektive zu gewinnen. Natürlich müssen RevolutionärInnen vorsichtig sein – wie immer bei der Anwendung der Einheitsfronttaktik –, um opportunistische Anpassungen an die vorherrschende kleinbürgerliche Führung der Partei zu vermeiden. Vielmehr müssen sie einen revolutionären Flügel mit einer klaren Plattform schaffen. Sie müssen ihre unabhängige Propaganda und Agitation verbreiten und versuchen, kämpferische ArbeiterInnen und Jugendliche gegen die kleinbürgerliche Führung zu organisieren. Ein solcher Entrismus kann nur eine temporäre Taktik sein, wie Trotzki festhält:

 

Eintritt in eine reformistische, zentristische Partei beinhaltet keine langfristige Perspektive. Es ist nur eine Phase, die unter bestimmten Bedingungen auf eine Episode beschränkt sein kann. (...) rechtzeitig den Angriff der Bürokratie gegen den linken Flügel zu erkennen und uns selbst dagegen zu verteidigen, nicht durch das Machen von Zugeständnissen, Anpassen oder Verstecken-Spielen, sondern durch eine revolutionäre Offensive.[9]

 

Das Ziel ist die Anwendung dieser Taktik zur Gründung einer wirklichen ArbeiterInnenpartei ohne kleinbürgerliche Führung.

 

Während diverse Zentristen diese Taktik ganz allgemein ablehnen, weisen MarxistInnen solchen Dogmatismus zurück. Wie bekannt verwendeten Marx und Engels eine solche Taktik während der Revolution 1848-49 in Deutschland, als sie sich kleinbürgerlich demokratischen Kräften anschlossen. [10]

 

Auch im 20. Jahrhundert haben RevolutionärInnen von dieser Entrismustaktik Gebrauch gemacht. Der Pionier dieser Taktik war der Holländer Hernik Sneevliet. Sneevliet war ein Marxist im linken Flügel der Sozialdemokratie in den Niederlanden und auch ein wichtiger Gewerkschaftsführer. 1913 ging er nach Indonesien, damals niederländische Kolonie, wo er Anführer einer kämpferischen Eisenbahngewerkschaft (VSTP) wurde, die eine Anzahl indonesischer ArbeiterInnen in ihren Reihen zählte. Ein Jahr später gründete er die Indian Social Democratic Association (ISDV). Die ISDV kooperierte – nach der Abspaltung des reformistischen Flügels – mit der indonesisch-nationalistischen Gruppe Insulinde und später mit Sarekat Islam. Letztere war eine kleinbürgerlich-nationalistische und islamistische Massenbewegung mit einem großen Anhang in der städtischen Unterschicht und der Bauernschaft und einer kleinbürgerlichen halbintellektuellen Führung. 1914 hatte sie mehr als 366.000 indonesische Mitglieder. [11]

 

Sneevliet verstand die Wichtigkeit von Sarekat Islam sehr gut und die ISDV begann mit einer Entrismusarbeit in dieser Massenbewegung. Es gelang ihm, die ISDV zu einer Organisation von ein paar hundert Kadern mit einer Mehrheit indonesischer Mitglieder zu machen. Mit der Zeit gewann sie bedeutenden Einfluss innerhalb von Sarekat Islam und gründete einen linken Flügel. Aus der ISDV wurde 1920 die Kommunistische Partei Indonesiens (PKI). Mit dem wachsenden Einfluss der KommunistInnen vollzogen die kleinbürgerlichen religiösen Führer von Sarekat Islam schließlich eine Spaltung. Als Ergebnis dieser erfolgreichen Entrismustaktik wurde die PKI die erste kommunistische Massenpartei Asiens. [12]

 

Sneevliet wurde von der holländischen Kolonialverwaltung 1918 wegen seiner revolutionären Aktivitäten aus Indonesien ausgewiesen. Er spielte weiterhin eine wichtige Rolle in der Arbeit der Kommunistischen Internationale in Asien. Er führte viele Diskussionen mit Lenin vor und während des Zweiten Kongresses der Komintern 1920 und wurde in die wichtige Position des Sekretärs der Kommission des Kongresses zur Nationalen und Kolonialen Frage mit Lenin als Vorsitzenden gewählt. Er war einer der Schlüsselarchitekten (gemeinsam mit Lenin) des kommunistischen Programms der antiimperialistischen Einheitsfronttaktik. 1933 schlossen sich Sneevliet und seine Revolutionär-Sozialistische Partei in den Niederlanden der trotzkistischen Bewegung an und blieben ihr bis 1938 verbunden. [13]

 

Später wandten die KommunistInnen in China – dem Rat Sneevliets, der als Abgesandter der Komintern agierte, folgend – eine ähnliche Taktik an. Die KommunistInnen waren zu dieser Zeit eine sehr kleine Gruppe und mussten Verbindungen zur ArbeiterInnenklasse und den armen Bauernschaft aufbauen und sich dort verankern. Sie traten korrekterweise 1922 in die Kuomintang-Partei ein und arbeiteten dort als revolutionäre Fraktion. Mit dem stalinistischen Schwenk in der Komintern wurden sie jedoch angewiesen, eine revolutionäre Taktik in eine opportunistische, liquidationistische Strategie zu verändern, die im Desaster endete. Daher blieben die KommunistInnen auch nach 1925, als die ArbeiterInnenstreiks und die revolutionären Agrarbewegung massiv zunahmen, innerhalb der Kuomintang und versagten darin, offen für die Schaffung von Sowjets einzutreten. Sie ordneten sich vielmehr dem rechten Flügel der Kuomintang unter Chiang Kai-chek unter, bis letzterer 1927 stark genug war, die revolutionäre Bewegung der ArbeiterInnen und Bauern niederzuschlagen. [14]

 

Trotzki und die Linke Opposition kämpften gegen diese menschewistische Kapitulation der stalinistischen Bürokratie. Sie erklärten, dass die Partei die Kuomintang rechtzeitig hätte verlassen und offen für eine revolutionäre Strategie kämpfen sollen. [15]

 

Trotzki war sich nicht immer sicher, ob der Entrismus der KommunistInnen in die Kuomintang 1922 grundsätzlich falsch war oder nicht und es gibt dazu auch widersprüchliche Erklärungen von ihm. Eine Reihe von Aussagen zeigt an, dass er sie nicht als unzulässige Taktik an sich betrachtete. So schrieb er im September 1926:

 

Die Mitarbeit der KP in der Guomindang war so lange vollkommen richtig, wie die KP eine Propagandagesellschaft war, die sich auf ihre künftigen selbständigen politischen Aktivitäten erst vorbereitete, zugleich aber am laufenden nationalen Befreiungskampf teilnehmen wollte. (…) Damit steht die KP jetzt vor der Aufgabe, von jener Vorstufe, auf der sie sich befunden hat, auf eine höhere Stufe überzugehen. Als nächste politische Aufgabe muss sie jetzt um die direkte selbständige Führung der erwachenden Arbeiterklasse kämpfen, und zwar nicht etwa, um sie aus dem nationalrevolutionären Kampf herauszuführen, sondern um ihr die Rolle sowohl des entschiedensten Kämpfers als auch des politischen Führers (Hegemonen) im Kampf der chinesischen Volksmassen zu sichern. (…) Vor allem aber muss die Partei sich unbedingt ihre vollständige organisatorische Selbständigkeit und die Klarheit ihres politischen Programms und ihrer Taktik im Kampf um Einfluss auf die erwachenden proletarischen Massen sichern. Nur so kann ernsthaft davon gesprochen werden, auch die breiten bäuerlichen Massen Chinas in den Kampf einzubeziehen.[16]

 

Er wiederholte diese Einschätzug 1928.[17] Später, in den 1930er Jahren, als die Bolschewiki-Leninisten mehr Erfahrung mit dem Entrismus gesammelt hatten, betonte Trotzki wieder, dass es nichts grundsätzlich Falsches am temporären Entrismus in eine kleinbürgerlich-populistische Partei gibt.

 

"Der zeitweilige Eintritt in die SFIO, oder selbst die Kuomintang, war für sich genommen nicht falsch; es ist jedoch notwendig nicht nur zu wissen, wie man beitritt sondern auch wie man austritt." [18]

 

"Im Jahre 1922 war es an sich noch kein Verbrechen, in die Guomindang einzutreten, vielleicht noch nicht einmal ein Fehler, zumal im Süden, und vorausgesetzt, es habe in den Reihen der Guomindang damals zahlreiche Arbeiter gegeben, während die junge Kommunistische Partei schwach war und fast ausschließlich aus Intellektuellen bestand. (Traf das 1922 zu?) In diesem Fall wäre der Eintritt eine Episode auf dem Weg zur Unabhängigkeit gewesen, die gewisse Analogien zu Ihrem Eintritt in die Sozialistische Partei aufwiese. Es kommt darauf an, welche Absicht mit dem Eintritt verfolgt wurde und wie anschließend die Politik aussah." [19]

 

Eine solche Entrismustaktik gegenüber kleinbürgerlich-populistischen Parteien kann auch heute legitim sein – unter der Bedingung, dass die Avantgarde der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten sich darauf hinorientieren. Als historische Beispiele für solche Bewegungen seien die FLN in Algerien oder die Black Panther in den USA genannt.

 

 

 

MarxistInnen und kleinbürgerlich-populistische Parteien: Wahltaktik und Regierungslosungen

 

 

 

Ist es zulässg, zur kritischen Unterstützung für kleinbürgerlich-populistische Parteien bei Wahlen aufzurufen? Und wann sollten MarxistInnen dafür aufrufen, dass solche Parteien die Macht ergreifen? Unserer Meinung nach sollen MarxistInnen die Einheitsfronttaktik in Wahlkampagnen wie auch in ihren Regierungslosungen, die solche Parteien bilden oder an denen sie mit Vorbehalten teilnehmen können, anwenden.[20] Die wichtigste Bedingung ist, dass solch kleinbürgerlich-populistische Parteien unter den ArbeiterInnen und Unterdrückten verwurzelt sind und dass sie eine Rolle in Massenkämpfen gegen den Imperialismus und/oder gegen die einheimische herrschende Klasse spielen. Weiters ist die Frage entscheidend, ob es gleichzeitig eine ArbeiterInnenpartei gibt, die die ArbeiterInnenavantgarde um sich scharrt. In solchen Fällen sollen RevolutionärInnen ihre Wahltaktik eher an eine solche Partei als an eine kleinbürgerlich-populistische Partei richten.

 

Es gibt zahlreiche Fälle, in denen keine derartige ArbeiterInnenpartei existiert, und eine radikale populistische Gruppe die Avantgarde der ArbeiterInnen und Unterdrückten anzuziehen in der Lage ist. Beispiele dafür sind die bolivianische MAS in der Periode nach 2003 oder Chavez’ MBR-200 Bewegung in den späten 1990ern. Andere Beispiele sind Julius Malemas EFF in Südafrika, die palästinensische Balad wie auch die Joint List in Israel oder militante Parteien der Tamilen in Sri Lanka wie die TNA.

 

In solchen Situationen sollen MarxistInnen sich ArbeiterInnen und landlosen Bauern anschließen, die diese Parteien wählen. Sie sollten ihnen sagen: “Du glaubst, dass deine Partei eine Verbesserung für deine Lebensbedingungen bringen kann. Du weißt vielleicht, dass wir deine Hoffnung nicht teilen. Wir glauben, dass diese Partei, sobald sie an der Macht ist, nicht den ganzen Weg zurücklegen und einen anhaltenden Sieg für die ArbeiterInnen und Unterdrückten erwirken wird. Sie wird vielmehr einen Kompromiss mit den Kapitalisten und Imperialisten treffen. Du glaubst nicht, was wir sagen: so wähle deine Partei an die Macht, zwing sie dazu, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, wenn du kannst, aber gleichzeitig triff Vorbereitungen und mobilisiere deine Massenorganisationen und Parteien für die unausweichliche Kriegserklärung der Bourgeoisie, wenn deine Partei tatsächlich ernsthafte Maßnahmen ergreift, die das Privateigentum angreifen. Wir werden den Wahlsieg deiner Partei kritisch unterstützen und sie gegen bürgerliche Angriffe verteidigen.

 

Auf Grundlage derselben Methode sollen MarxistInnen auch ihre Losungen in Hinblick auf die Regierungsform, die solch kleinbürgerliche Parteien bilden oder an denen sie teilnehmen können, sorgfältig und genau formulieren. Als zum Beispiel die kleinbürgerliche Partei der Sandinisten FSLN 1979 die nicaraguanische Diktatur Somozas stürzte, bildete sie, statt selbst die Macht zu ergreifen, eine Koalition mit bürgerlich-liberalen Kräften wie den Geschäftsleuten Alfonso Robelo und Violeta Barrios de Chamorro (die Witwe des Zeitungsherausgebers von La Prensa, Pedro Joaquín Chamorro). Unter solchen Bedingungen hätten RevolutionärInnen die Sandinisten aufgerufen, jedwede Koalition mit bürgerlichen Parteien aufzulösen und die Macht selbst in die eigenen Hände zu nehmen. Natürlich ist entscheidend, dass RevolutionärInnen die ArbeiterInnen auch vor Illusionen in kleinbürgerliche Parteien wie die Sandinisten warnen. Zusätzlich zu diesen Warnungen müssen RevolutionärInnen Forderungen an eine solche Regierung stellen, damit sie radikale Sozialreformen umsetzt, die Großgrundbesitzer und die Bourgeoisie enteignet, die Schuldenzahlung an imperialistische Monopole und Großmächte verweigert usw. [21]

 

Ein solcher Zugang basiert auf der Methode, die zuerst von Marx und Engels erarbeitet und später von Lenin und Trotzki systematisiert worden ist.

 

Als in Russland nach der Revolution von 1905 die Wahlen zur ersten Duma stattfanden, riefen die Bolschewiki – gemeinsam mit dem Großteil der Avantgarde der ArbeiterInnenklasse – zu deren Boykott auf. Als der revolutionäre Tsunami 1906 geendet hatte, sprach sich Lenin dafür aus, dass die Partei die Dumawahlen nicht länger boykottieren solle. Er bestand auf diese Politik, obwohl es offensichtlich war, dass das zaristische Regime dieser Einrichtung nur sehr wenige Rechte zugestand und die Wahlen manipulierte und korrumpierte. Gemäß dem Historiker Abraham Ascher, gingen als Ergebnis all dieser Unterdrückung und Manipulation durch das Regime viele ArbeiterInnen und Bauern gar nicht wählen. Nur etwa 19% der Wahlberechtigten (in 67 Städten des europäischen Russlands) nahmen an den Wahlen zur Dritten Duma im Herbst 1907 teil. In der vorangegangenen Wahl von 1906 gab es eine Wahlbeteiligung von 55%. [22]

 

Lenin und die Bolschewiki betonten die Notwendigkeit für SozialdemokratInnen – wie sich MarxistInnen damals nannten –, als unabhängige Partei mit eigenen KandidatInnen zu den Wahlen anzutreten. Besonders dringend war das bei den Wahlen der Arbeiterkurie der Duma. Zu dieser Zeit waren die SozialdemokratInnen schon eine Massenpartei der ArbeiterInnenklasse und die bestimmende Kraft in Russlands Großbetrieben. [23] Lenin betonte auch die Notwendigkeit, gegen die Kadettenpartei zu kämpfen – die Partei des bürgerlichen Liberalismus, die damals eine wichtige Rolle als offizielle Stimme der Opposition gegen das zaristische Regime spielte. Lenin drängte die SoziademokratInnen – trotz der menschewistischen Opposition dagegen –, gegen die liberale Bourgeoisie zu kämpfen, so dass die ArbeiterInnenklasse zur dominanten Kraft der Volksmassen würde und sie zu Revolution führen könne.[24] Konsequenterweise argumentierte Lenin, dass die Dumawahlen dazu genutzt werden sollten, eine Allianz zwischen der ArbeiterInnenklasse mit der landlosen Bauernschaft zu knüpfen.[25] Aus diesem Grund wies er jedes Wahlbündnis oder jeden Wahlblock mit den Kadetten (was die Menschewiki befürworteten) zurück, sondern favorisierte einen Block mit den Parteien, die die besitzlose Bauernschaft repräsentierte (die Trudoviki und die Sozialrevolutionäre).[26] Lenin unterschied also sehr genau zwischen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und beschränkte die systematische Anwendung der Einheitsfronttaktik ausschließlich auf letztere.

 

Lenin erklärte diese Überlegungen in den Parteidiskussionen zu den Taktiken, die in den Wahlen zur Zweiten Duma 1906 angewendet werden sollten:

 

Fassen wir zusammen. Wir müssen die Erfahrungen mit der kadettischen Duma berücksichtigen und die gewonnenen Lehren in die Massen tragen. Wir müssen nachweisen, dass die Duma ein ‚untaugliches’ Werkzeugist, dass eine konstituierende Versammlung erforderlich ist, wir müssen die schwankende Haltung der Kadetten aufzeigen, müssen fordern, dass die Trudowiki das Joch der Kadetten abwerfen, müssen die Trudowiki gegen die Kadetten unterstützen. Wir müssen von vornherein feststellen, dass im Falle von neuen Wahlen ein Wahlabkommen zwischen Sozialdemokraten und Trudowiki notwendig ist.[27]

 

Geht man von den Parteien aus, so gelangt man unwillkürlich zu dem Schluss: auf keinen Fall Abkommen im untersten Stadium, in der Agitation unter den Massen; in den höheren Stadien gilt es alle Kräfte darauf zu richten, bei der Verteilung der Abgeordnetensitze die Kadetten durch ein Teilabkommen der Sozialdemokraten und Trudowiki, die Volkssozialisten durch ein Teilabkommen der Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre zu schlagen.[28]

 

In den Städten, in denen die Arbeiterbevölkerung am meisten konzentriert ist, dürfen wir ohne äußerste Not niemals auf völlig selbständige sozialdemokratische Kandidaturen verzichten. Diese äußerste Not aber liegt nicht vor. Etwas weniger, etwas mehr Kadetten oder Trudowiki (besonders vom Typus der Volkssozialisten!), das hat keine ernsthafte politische Bedeutung, denn die Duma selbst vermag bestenfalls nur eine untergeordnete, zweitrangige Rolle zu spielen. Die politisch entscheidende Bedeutung für den Ausgang der Dumawahlen kommt der Bauernschaft, kommt den Gouvernementsversammlungen der Wahlmänner und nicht den Städten zu. In den Gouvernementsversammlungen der Wahlmänner aber werden wir unser allgemein-politisches Bündnis mit den Trudowiki gegen die Kadetten viel besser und richtiger, und ohne die strenge Prinzipientreue irgendwie zu verletzen, verwirklichen können als im untersten Stadium der Wahlen auf dem Lande.[29]

 

Diese Ideen wurden zur offiziellen Position der Bolschewiki wie auch anderer linker Kräfte innerhalb der Sozialdemokratischen ArbeiterInnenpartei Russlands. In einer offiziellen Resolution für eine Parteikonferenz hieß es zusammengefasst:

 

Die wichtigsten Aufgaben der sozialdemokratischen Wahl- und Dumakampagne bestehen erstens darin, dem Volke klarzumachen, dass die Duma als Mittel zur Verwirklichung der Forderungen des Proletariats und des revolutionären Kleinbürgertums, insbesondere der Bauernschaft, völlig antauglich ist. Zweitens gilt es, dem Volke klarzumachen, dass es unmöglich ist, die politische Freiheit auf parlamentarischem Wege zu erringen, solange die reale Macht in den Händen der Zarenregierung bleibt; gilt es, die Massen von der Notwendigkeit des bewaffneten Aufstands, einer provisorischen revolutionären Regierung und einer konstituierenden Versammlung zu überzeugen, die aus allgemeinen, direkten, gleichen und geheimen Wahlen hervorgeht. Drittens gilt es, Kritik an der ersten Duma zu üben und den Bankrott des russischen Liberalismus aufzuzeigen, insbesondere, wie gefährlich und verhängnisvoll es für die Sache der Revolution wäre, wenn die liberal-monarchistische Kadettenpartei in der Befreiungsbewegung eine überragende und führende Rolle spielte.

 

Als Klassenpartei des Proletariats muss die Sozialdemokratie in der ganzen Wahl- und Dumakampagne unbedingt ihre Selbständigkeit wahren, sie darf auch hier keinesfalls ihre Losungen oder ihre Taktik mit irgendeiner anderen oppositionellen oder revolutionären Partei verschmelzen.

 

Deshalb muss sie auf der ersten Stufe der Wahlkampagne, d. h. vor den Massen, in der Regel unbedingt selbständig auftreten und darf als Kandidaten nur Parteimitglieder aufstellen.

 

Ausnahmen von dieser Regel sind nur im äußersten Fall und nur in Bezug auf Parteien zulässig, die die Hauptlosungen unseres unmittelbaren politischen Kampfes vollauf annehmen, d. h. die Notwendigkeit des bewaffneten Aufstands anerkennen und für die demokratische Republik kämpfen. Dabei dürfen sich solche Abkommen nur auf die Aufstellung einer gemeinsamen Kandidatenliste erstrecken, sie dürfen keinesfalls die Selbständigkeit der politischen Agitation der Sozialdemokratie irgendwie beschränken.

 

In der Arbeiterkurie tritt die Sozialdemokratische Partei unbedingt selbständig auf, ohne Abkommen mit irgendeiner anderen Partei zu treffen.

 

In den höheren Wahlstufen, d. h. in den Versammlungen der Wahlmänner in den Städten, der Bevollmächtigten und der Wahlmänner auf dem Lande, sind Teilabkommen zulässig, sofern sie einzig und allein eine proportionelle Verteilung der Mandate entsprechend der Stimmenzahl der Parteien, die das Abkommen treffen, zum Inhalt haben. Hierbei unterscheidet die Sozialdemokratie unter dem Gesichtspunkt der demokratisehen Konsequenz und Entschiedenheit die folgenden Haupttypen bürgerlicher Parteien: a) Sozialrevolutionäre, PPS und ähnliche republikanische Parteien; b) Volkssozialisten und Trudowiki ähnlicher Art; c) Kadetten. [30]

 

Lenin verteidigte diese Herangehensweise auch bei den Wahlen zur Vierten Duma 1912, als die Bolschewiki die vorherrschende Kraft im Proletariat der größeren Industriegebiete geworden war und folglich die Abgeordnetensitze in der ArbeiterInnenkurie von St. Petersburg, Moskau, Yekaterinoslav (heute Dnjepropetrowsk, Anm.d.Ü.), Charkow, Kostroma und Vladimir Gubernia gewonnen hatte. Lenin erklärte die Wahltaktik der Bolschewiki 1912 folgendermaßen:

 

Es bleibt die zweite städtische Kurie. Hier gibt es nicht wenige proletarische und dem Proletariat nahestehende Wähler: Handelsangestellte, Mieter aus den Kreisen der Arbeiter, Rentenempfänger usw (…) Die Liberalen sind mehr als dreimal so stark wie die Rechten, die fast ebenso stark sind wie die Demokraten. Es ist klar, dass im Allgemeinen hier von irgendeiner Schwarzhundertergefahr keine Rede sein kann. Weiterhin ist es klar, dass hier die Hauptaufgabe der Arbeiterdemokratie gerade der Kampf gegen die Liberalen ist; in der gegenwärtigen Zeit, bei zweifellos allgemeiner Wendung des Landes nach links, was sowohl von den Liberalen als auch den Oktobristen und den Purischkewitsch zugegeben wird, rückt ein solcher Kampf besonders in den Vordergrund. Selbstverständlich müssen die Arbeiterkandidaten im ersten Stadium ausnahmslos selbständig, mit reinen Listen, in den Kampf treten. Im zweiten Stadium jedoch, im zweiten Wahlgang, läuft die Sache in den meisten Fällen auf einen Kampf der Demokraten gegen die Liberalen hinaus. (…) Da die zweite städtische Kurie die wichtigste Kurie mit zweitem Wahlgang ist, wird die Hauptlinie der Arbeiter im zweiten Wahlgang eben sein: mit den Demokraten gegen die Rechten und gegen die Liberalen. (…) Im zweiten Wahlgang soll man in erster Linie in der zweiten städtischen Kurie in den meisten Fällen mit allen Demokraten gegen die Liberalen und gegen die Rechten stimmen; lediglich in zweiter Linie soll man im zweiten Wahlgang einen Block mit der gesamten Opposition gegen die Reaktionäre eingehen. [31]

 

Wie wir in den oben angeführten Zitat aus seinem Buch Der ‘linke Radikalimus – Kinderkrankheit im Kommunismus zeigten, verteidigt Lenin sein Haltung zur Wahltaktik bis zu seinem Tod. Auch Trotzki tat das, wie mit dem längeren Zitat aus dem Übergangsprogramm (siehe oben) gezeigt wurde, und verallgemeinerte die Erfahrungen der Bolschewiki in ihrer Einheitsfronttaktik gegenüber den Menschewiki und den Sozialrevolutionäre, auch nachdem diese schon zu sozialimperialistischen Parteien geworden waren – der relevante Teil davon sei hier zum Nutzen der Leser nochmal wiedergegeben:

 

“Die Forderung der Bolschewiki an die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre ‘Brecht mit der Bourgeoisie, nehmt die Macht in Eure Hände!’ (hatte) für die Massen eine ungeheure erzieherische Bedeutung. Die hartnäckige Weigerung der Menschewiki und Sozialrevolutionäre die Macht zu ergreifen, die in den Julitagen auf so dramatische Weise deutlich wurde, vernichtetet sie endgültig in den Augen des Volkes und bereitete den Sieg der Bolschewiki vor.

 

Die zentrale Aufgabe der Vierten Internationale besteht darin, das Proletariat von seiner alten Führung zu befreien, deren Konservativismus in völligem Gegensatz zu den katastrophalen Umständen des kapitalistischen Verfalls steht und für den historischen Fortschritt das stärkste Hindernis ist. Der Hauptvorwurf der Vierten Internationale gegen die traditionellen Organisationen des Proletariats ist, dass sie sich nicht von der Bourgeoisie lösen wollen, die politisch eine halbe Leiche ist. Unter diesen Bedingungen ist die systematisch an die alte Führung gerichtete Forderung ‘Brecht mit der Bourgeoisie, ergreift die Macht!’ ein äußerst wichtiges Mittel, den verräterischen Charakter der Parteien und Organisationen der Zweiten, Dritten und der Amsterdamer Internationale bloßzustellen.

 

Die Losung der ‘Arbeiter- und Bauernregierung’ ist für uns nur in dem Sinne annehmbar, den sie 1917 bei den Bolschewiki hatte, d.h. als antibürgerliche, antikapitalistische Losung, aber auf keinen Fall in dem ‘demokratischen’ Sinne, den ihr später die Epigonen gegeben haben, indem sie aus ihr statt einer Brücke zur sozialistischen Revolution die Hauptbarriere auf ihrem Wege machten. [32]

 

Nach der Gründung der Kommunistischen Internationale wollten RevolutionärInnen die Erfahrungen der Bolschewiki verallgemeinern. Natürlich gab es in den meisten kolonialen und halbkolonialen Ländern dieser Zeit gar keine Wahlen. Im Fall Mexiko ist jedoch ein Beispiel zu finden, wie die Komintern – in ihrer gesunden Periode vor der Machtergreifung Stalins – dennoch die Einheitsfronttaktik auf dem Gebiet der Wahlen in einem halbkolonialen Land anzuwenden versuchte.

 

Im August 1923 schickte das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI) einen langen Brief an die mexikanische Partei, der von der US-Sektion als Broschüre veröffentlicht wurde. In diesem Brief führt das EKKI die Methode der Einheitsfronttaktik aus und zeigt, wie sie an die konkreten Bedingungen des mexikanischen Klassenkampfs jener Zeit angepasst werden sollte. Es ruft die Massenorganisationen sowohl der ArbeiterInnen wie auch der Bauern (einschließlich deren Parteien und Führungen) auf, gemeinsame Aktionen zur Verteidigung der Interessen der Volksmassen zu unternehmen:

 

Die Einheitsfronttaktik ist der revolutionäre Kampf der Kommunistischen Partei zur Gewinnung der organisierten und unorganisierten Arbeiter- und Bauernmassen für einen gemeinsamen Kampf um gemeinsame Forderungen. Die Kommunistische Partei wendet sich daher offen an die Führungen der reformistischen, syndikalistischen und sogenannten unabhängigen Gewerkschaftsorganisationen und ersucht sie zur Teilnahme an einem gemeinsamen Aktionskomitee. Dasselbe gilt für die Reformisten und die Bauernpartei. Das Ziel des Aktionskomitees ist die organisierte Zentralisierung des Kampfs um konkrete Forderungen. Das Aktionskomitee bindet keine der teilnehmenden Parteien oder Gewerkschaften an seine politische Agitation und Propaganda oder an seine allgemeinen Aktivitäten. Das Recht, jede Partei zu kritsieren, bleibt vollständig erhalten.[33]

 

Weiters analysierte das EKKI den Konflikt zwischen der bürgerlichen Regierung De La Huerta und der kleinbürgerlich-demokratischen Opposition unter Calles. Es warnt davor, dass, wenn Calles an die Macht käme, er ebenfalls die ArbeiterInnen und Bauern betrügen würde. Doch das EKKI drängte auch darauf, dass angesichts der im Volk vorhandenen Massenunterstützung für Calles und der vorhandenen Illusionen in seine kleinbürgerliche Regierung KommunistInnen zur kritischen Wahlunterstützung für ihn aufrufen sollten, kombiniert mit Warnungen und einem an ihn gerichteten Forderungsprogramm. Eine solche Taktik sollte dazu beitragen, die ArbeiterInnen und Bauern von der kleinbürgerlichen Führung wegzubrechen und so der kleinen Kommunistischen Partei – zu dieser Zeit hatte sie etwa 1.500 Mitglieder – zu mehr Einfluss unter den Massen verhelfen zu können. [34]

 

Die erste Aufgabe der Partei muss es sein, klar und deutlich darzulegen, was die gegenwärtige Situation ist und wie sie sich entwickelt. Zweitens muss klar sein, dass es für die revolutionäre Arbeiterbewegung nicht gleichgültig ist, ob Calles oder De La Huerta die Arbeiterklasse verraten, auch wenn beide zum gleichen Ergebnis kommen. Die gesamte Lage ist keine Komödie, auch wenn es so scheint, sondern eine tatsächliche Zwangslage. Sie ist ein Versuch eines Teils der kleinbürgerlichen Demokratie, ihren Kopf über Wasser zu halten und das kann sie nur über den Erhalt politischer Macht. Die Interessen der Arbeiterklasse sind in diesen Kampf genauso betroffen, denn die einzigen Verbündeten, auf die sich das Kleinbürgertum verlassen kann, sind die Arbeiterklasse und die Bauernschaft. Calles muss daher diesen Klassen Zugeständnisse machen. Es ist bereits offensichtlich, dass die große Mehrheit der Arbeiter und Bauern die Kandidatur von Calles unterstützen wird. Wenn sich die ganze Arbeiterklasse an diesem Kampf beteiligt, darf die Kommunistische Partei nicht beiseite stehen und zuschauen; sie muss mit den anderen kämpfen, denn Calles heißt heute für die Massen Schutz vor Reaktion und klerikaler Herrschaft. Doch es ist die Pflicht der Kommunisten, die Illusionen der Massen in die Fähigkeit der Regierung Calles, tatsächlich Schutz zu gewähren, zu bekämpfen. Während der Periode von Obregons Regime partizipierte Calles still an den Angriffen der Regierung auf die Arbeiterklasse. Calles wird sich auf nationaler Ebene so verhalten wie Felipe Carrillo sich auf lokaler Ebene in Yucatan verhalten hat. Er wird die gegen ihn gerichteten Gewerkschaften unterdrücken und die Kommunisten verfolgen; er wird nicht zögern, sie nötigenfalls zu erschießen. Trotzdem muss die Kommunistische Partei an den Wahlen im Namen Calles teilnehmen. Gewiss nicht als begeisterte Anhänger der kommenden Regierung. Diese Taktik ist bloß ein notwendiger Zwischenstop auf dem Weg zu Arbeiter- und Bauernregierung, auf dem Weg zur proletarischen Revolution und der Diktatur des Proletariats. Was sich aus der Regierung Calles heraus entwickelt, wird dem mexikanischen Proletariat hinsichtlich der Ohnmacht des Reformismus, sowie der Machtlosigkeit und Korruptheit der opportunistischen und kleinbürgerlich anarchistischen Phraseologie die Augen öffnen. Die mexikanischen Arbeiter und Bauern werden erkennen, dass es zwei Arten von Politik gibt; eine, die zur Diktatur der Bourgeoisie führt und eine, die zur Hegemonie des Proletariats führt und von der Losung ‘Alle Macht den Arbeitern und Bauern’ repräsentiert wird. Viele ehrliche Arbeiter werden zu den Kommunisten sagen: wenn ihr schon den Verrat von Calles vorhersagt, ist eure Teilnahme am Kampf nur ein Manöver, um Calles zu kompromittieren. Doch die Frage so zu stellen, ist nicht korrekt und undialektisch. Dass Calles sich kompromittieren wird, hängt nicht von uns ab, sondern von seiner opportunistischen Politik der Kompromisse mit der Bourgeoisie. Aber wir zeigen im Gegensatz dazu den einzigen Weg auf, auf dem der Bankrott verhindert werden kann – den Weg der Realisierung der proletarischen Revolution. Aber wird Calles diesem Weg folgen? Wir haben ausreichende Gründe, das nicht nur zu bezweifeln, sondern negativ zu beantworten. Calles, Morones, Felipe Arrillo, Soto y Gema usw. sind die Kerenskis, die Eberts, die Noskes und die Scheidemanns Mexikos. Sie werden sich mit Gompers und seiner ganzen verräterischen Clique vermählen. Doch in unserer Propaganda müssen wir die Sozialisten und Agrarier so weit wie möglich nach links treiben. Wir müssen heute von Calles eine Erklärung zur Entwaffnung der Bauern, die Obregon anregte, fordern; wir müssen Schutz für streikende Arbeiter fordern; Bestrafung der Beamten, die am Mord an den Arbeitern in Vera Cruz und San Angel schuldig sind; einen erbarmungslosen Kampf gegen die Faschisten; die Verordnung der Artikel 27 und 123; Maßnahmen gegen die Wohnungsnot; die Aufteilung von Großgrundbesitz ohne Entschädigung usw.[35]

 

Leo Trotzki und die Vierte Internationale setzten sich nicht detailliert mit der Anwendung der Wahltaktik in halbkolonialen Ländern auseinander. Trotzki wiederholte aber den methodischen Zugang der Komintern, als er im Übergangsprogramm die Notwendigkeit betonte, die Einheitsfronttaktik auf die “Parteien der kleinbürgerlichen Demokratie” anzuwenden, womit er sowohl bürgerliche ArbeiterInnenparteien (Stalinisten, SozialdemokratInnen etc.) als auch kleinbürgerlich-populistische Parteien vom Typ der Sozialrevolutionäre in Russland meinte (siehe das lange Zitat aus dem Übergangsprogramm am Ende des Kapitel II im vorliegenden Buch). Das ist der wirksamste Weg, ArbeiterInnen und Unterdrückte, die noch Illusionen in eine nicht-revolutionäre Partei haben, an “antibürgerliche und antikapitalistische Losungen” heranzuführen.

 

Zusammenfassend sei festgehalten, dass sowohl Lenin wie auch Trotzi die Hauptaufgabe von RevolutionärInnen im Aufbau einer revolutionären ArbeiterInnenpartei sahen. Sie wiesen auch darauf hin, dass RevolutionärInnen versuchen müssen, besitzlose Bauern zu einem Bündnis unter Führung des revolutionären Proletariats zu gewinnen. Dafür müssen RevolutionärInnen die Einheitsfronttaktik anwenden, auch auf dem Gebiet der Wahlen. Sie kann sowohl auf bürgerliche ArbeiterInnenparteien wie auch auf kleinbürgerlich-populistische Parteien (v.a. in Situationen, in denen es keine bedeutende ArbeiterInnenpartei, nicht einmal eine bürgerliche, gibt) angewendet werden. Solche Wahlunterstützung muss Forderungen an diese Parteien beinhalten, so dass während des gemeinsamen Kampfs mit der reformistischen Basis aus ArbeiterInnen und Unterdrückten diese gewarnt werden, damit sie nicht Illusionen in die Wirkungskraft und Beständigkeit ihrer Führungen haben, mit der Hoffnung, dass sie sie sich letztlich uns als die wahren RevolutionärInnen anschließen werden.

 

Die RCIT vertritt den Standpunkt, dass eine solche Methode heute im Gefolge des bedeutsamen und deutlichen Aufstiegs kleinbürgerlich-populistischer Bewegungen und Parteien in der halbkolonialen Welt (aber nicht nur hier!) äußerst nützlich ist. Natürlich kann eine präzise Wahltaktik nur nach konkreter Studie der spezifischen nationalen Umstände formuliert werden. Aus diesem Grund können hier in diesem Dokument nur einige methodische Argumente dafür vorgebracht werden, welche politischen Kräfte möglicherweise für eine revolutionäre Wahlunterstützung in Frage kommen.

 

Wir glauben, dass die frühen Phasen der bolivarischen Bewegungen in Lateinamerika gute Beispiele dafür sind. Mit “frühen Phasen” ist die Periode gemeint, in der sie kleinbürgerlich-populistische Parteien gründen, die sich gegen die neoliberalen Regierungen wenden und die Hoffnungen von Millionen ArbeiterInnen, besitzlosen Bauern und städtische Armut auf sich vereinen. Insbesondere sei Chavez’ MBR-200 in den späten 1990er Jahren und Evo Morales’ MAS im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts genannt, als diese Parteien als Katalysator für den zunehmenden Klassenkampf der ArbeiterInnen und Unterdrückten handelten. Damals war es wichtig, die Volksmassen, die ihre Hoffnungen an die Castro-Chavista-Führungen richteten, zu politisieren und zu radikalisieren. Wie noch unten ausgeführt wird, wäre es für RevolutionärInnen allerdings auf keinen Fall in Frage gekommen, diese Parteien, sobald sie an die Macht gelangt und zu offen bürgerlichen Volksfrontparteien geworden waren, zu wählen.

 

Ein weiteres Beispiel, über das heute südafrikanische RevolutionärInnen diskutieren sollten, ist jenes von Julius Malemas Economic Freedom Fighters EFF in Südafrika. Diese Partei entstand 2012/13 aus einer Spaltung vom ANC – der historisch kleinbürgerlich-nationalistischen Partei der Schwarzen in Südafrika, die den Befreiungskampf gegen das Apartheidregime seit den 1940er Jahren geführt hatte. Der ANC wurde zu einer bürgerlichen Volksfrontpartei, als er zur größten Partei wurde, 1994 die Regierung bildete und in Folge das Land im Interesse der großen Konzerne führte. Julius Malema und die EFF verteidigten 2012 die Minenarbeiter von Marikana und präsentierten sich scheinheilig als “revolutionäre Opposition gegen die ANC-Regierung”. Die vom EFF kolportierten Mitgliederzahlen von über einer halben Million sind sicher übertrieben, doch gelang es dieser Partei zweifelsohne, die Hoffnungen der ArbeiterInnen und Armen auf sich zu ziehen.

 

Sinn Fein in der Republik Irland ist ein weiteres Beispiel für eine kleinbürgerlich-populistische Partei, die vor Kurzem zu einem Vehikel für die Massenproteste der ArbeiterInnenklasse geworden ist, v.a. im Zusammenhang mit der Right2Water-Kampagne. Bei den Wahlen 2016 hätten SozialistInnen in den Bezirken mit gewissem Massenanhang zu kritischer Wahlunterstützung für die KandidatInnen der zentristischen Listen – Anti-Austerity Alliance (hauptsächlich UnterstützerInnen der SP in Irland) und People before Profit (hauptsächlich UnterstützerInen der SWP in Irland) – aufrufen können. In anderen Bezirken wäre es für SozialistInnen zulässig gewesen, für die Unterstützung von Sinn Fein auf Basis oben erwähnter kritischer Wahlunterstützung aufzurufen.

 

 

 

Die Wandlung einer kleinbürgerlich-populistischen Partei zu einer bürgerlichen Partei und die Wahltaktiken

 

 

 

Die Unterscheidung zwischen kleinbürgerlich-populistischen Parteien und offen bürgerlichen Volksfrontparteien erachten wir als bedeutsam. Es gibt allerdings keine chinesische Mauer, die die beiden voneinander trennt: jede kleinbürgerlich-populistische Partei ist eine potenzielle Volksfrontpartei (deswegen werden diese beiden Kategorien so leicht durcheinander geworfen). Die kleinbürgerliche Zusammensetzung – zumindest auf Führungsebene – prädestiniert solche Parteien dazu, ihren Charakter zu verändern und zu offen bürgerlichen Parteien zu werden.

 

Eine derartige Veränderung kann unter verschiedenen Bedingungen erfolgen. Eine dieser Bedingungen ist gegeben, wenn solche Parteien Teil der Regierung eines kapitalistischen Staats werden. In einer solchen Situation kommt die Partei in engen Kontakt mit der bürgerlichen herrschenden Klasse und sie integriert sich in den bürgerlichen Staatsapparat. Üblicherweise führt das nach einiger Zeit zu ihrer Fusion mit einem Teil der Bourgeoisie. In Venezuela wird dieser Sektor Bolivarische Bourgeoisie oder Boliburguesía genannt.

 

Natürlich kann eine solche Fusion mit einem Teil der Bourgeoisie und des Staatsapparats auch stattfinden, noch bevor eine Partei Teil der Regierung wird oder selbst die Macht übernimmt. Es ist einer solchen Volksfrontpartei auch möglich, sich zu spalten (z.B. nach dem Ausschluss aus einer Regierung) und eine Fraktion – vielleicht sogar die Mehrheit der Partei – verändert sich wieder zurück zu einer kleinbürgerlich-populistischen Partei. Beispiele für derlei Spaltungen und Wandlungen sind die Montoneros in Argentinien, die 1974 aus der peronistischen Partei ausgeschlossen wurden sowie die oben erwähnte südafrikanische EFF.

 

Wenn eine solche Partei zu einer offen bürgerlichen Volksfrontpartei wird, ist es für RevolutionärInnen völlig unmöglich, ihr irgendwelche Wahlunterstützung zu geben.

 

Andererseits entbindet der Kampf gegen diese “Grenzübertretung ins bürgerliche Lager” RevolutionärInnen nicht von ihrer Verpflichtung, eine derartige Volksfrontregierung gegen einen konterrevolutionären Putsch zu verteidigen.[36] Lenin erklärte das im August 1917, als die Bolschewiki mit der Notwendigkeit konfrontiert waren, die Volksfrontregierung Kerenski gegen einen rechten Staatsstreich durch die Kräfte um General Kornilov zu verteidigen.

 

Wie jede schroffe Wendung, erfordert auch diese eine Überprüfung und Änderung der Taktik. Und wie bei jeder Überprüfung, muss man außerordentlich vorsichtig sein, um nicht in Prinzipienlosigkeit zu verfallen. Meiner Überzeugung nach verfallen jene in Prinzipienlosigkeit, die (wie Wolodarski) zum Standpunkt der Vaterlandsverteidigung oder (wie andere Bolschewiki) zu einem Block mit den Sozialrevolutionären, zur Unterstützung der Provisorischen Regierung abgleiten. Das ist grundfalsch, das ist Prinzipienlosigkeit. (…) Die Kerenskiregierung dürfen wir selbst jetzt nicht unterstützen. Das wäre Prinzipienlosigkeit. Man wird fragen: Sollen wir etwa nicht gegen Kornilow kämpfen? Natürlich sollen wir das! Aber das ist nicht dasselbe; da gibt es eine Grenze, sie wird von manchen Bolschewiki überschritten, die in ‚Verständigungspolitik’ verfallen, sich vom Strom der Ereignissemitreißen lassen. Wir werden kämpfen, wir kämpfen gegen Kornilow ebenso wie die Truppen Kerenskis, aber wir unterstützen Kerenski nicht, sondern entlarven seine Schwäche. Das ist ein Unterschied. Das ist ein recht feiner, aber überaus wesentlicher Unterschied, den man nicht vergessen darf.

 

Worin besteht nun die Änderung unserer Taktik nach dem Aufstand von Kornilow? Darin, dass wir die Form unseres Kampfes gegen Kerenski ändern. Ohne unsere Feindschaft gegen ihn auch nur um einen Deut zu mildern, ohne ein Wort von dem, was wir gegen ihn gesagt haben, zurückzunehmen, ohne auf die Aufgabe zu verzichten, Kerenski zu stürzen, sagen wir: Man muss der Situation Rechnung tragen, jetzt werden wir Kerenski nicht stürzen, wir werden jetzt an die Aufgabe, den Kampf gegen ihn zu führen, anders herangehen, und zwar werden wir das Volk (das gegen Kornilow kämpft) über Kerenskis Schwäche und über seine Schwankungen aufklären. Das taten wir auch früher, jetzt aber ist das die Hauptsache geworden: darin besteht die Änderung.

 

Ferner besteht die Änderung darin, dass jetzt die verstärkte Agitation für gewisse ‚Teilforderungen’ an Kerenski zur Hauptsache geworden ist: verhafte Miljukow, bewaffne die Petrograder Arbeiter, rufe die Kronstädter, Wiborger und Helsingforser Truppen nach Petrograd, jage die Reichsduma auseinander, verhafte Rodsjanko, erhebe die Obergabe der Gutsbesitzerländereien an die Bauern zum Gesetz, führe über die Brotversorgung und in den Fabriken die Arbeiterkontrolle ein, usw. usf. Und nicht nur an Kerenski, nicht so sehr an Kerenski müssen wir diese Forderungen richten als vielmehr an die Arbeiter, Soldaten und Bauern, die vom Verlauf des Kampfes gegen Kornilow mitgerissen worden sind. Wir müssen sie weiter mitreißen, sie anspornen, den Generalen und Offizieren, die für Kornilow eintreten, das Fell zu gerben; wir müssen darauf bestehen, dass sie die sofortige Übergabe des Bodens an die Bauern fordern ; wir müssen sie auf den Gedanken bringen, dass Rodsjanko und Miljukow verhaftet, die Reichsduma auseinandergejagt, die ‚Retsch’ und andere bürgerliche Zeitungen verboten werden müssen, dass man eine Untersuchung gegen sie einleiten muß. Ganz besonders müssen die ‚linken’ Sozialrevolutionäre in diese Richtung gedrängt werden.[37]

 

Ähnlich erklärte Trotzki im Zusammenhang mit dem Spanischen Bürgerkrieg die Bedeutung der Verteidigung einer bürgerlichen Demokratie mit einer Volksfrontregierung gegen reaktionäre Angriffe, während gleichzeitig dieser Regierung keine politische Unterstützung gewährt wird:

 

"Vor 1934 erklärten wir unermüdlich den Stalinisten, daß auch in der imperialistischen Epoche eine Demokratie weiterhin dem Faschismus vorzuziehen sei: daß nämlich in allen Fällen, wo sie feindlich aufeinander prallen, das revolutionäre Proletariat verpflichtet sei, die Demokratie gegen den Faschismus zu unterstützen. Wir haben jedoch immer hinzugefügt: wir können und müssen die bürgerliche Demokratie nicht mit bürgerlich-demokratischen Mitteln, sondern mit den Methoden des Klassenkampfes verteidigen, die ihrerseits den Weg für die Ersetzung der bürgerliche Demokratie durch die Diktatur des Proletariats ebnen. Fas heißt vor allem, daß die Partei des Proletariats bei der Verteidigung der bürgerlichen Demokratie, selbst mit den Waffen in der Hand, keine Verantwortung für die bürgerliche Demokratie übernimmt, nicht in ihre Regierung eintritt, sondern die volle Freiheit der Kritik und der Aktion gegenüber allen Parteien der Volksfront vorbehält und damit den Sturz der bürgerlichen Demokartie – als nächsten Schritt – vorbereitet." [38]

 

Gleichzeitig betrachtete es Trotzki als prinzipienlos für RevolutionärInnen, für eine Volksfront zu stimmen oder eine Volksfrontpartei dazu aufzurufen, die Macht zu ergreifen.[39] Das gilt auch für Situationen, in denen eine solche Volksfrontpartei oder ihre Kandidaten gegen eine faschistische Liste oder deren Kandidaten bei Wahlen antreten. So zum Beispiel gab es im März 1937 eine Nachwahl um einen Parlamentssitz in Brüssel, in der ein faschistischer Führer sich dem Premier Paul van Zeeland von der Katholischen Partei gegenüber sah. Die belgische Labour Partei und die Kommunistische Partei unterstützten van Zeeland, indem sie keinen eigenen Kandidaten aufstellten. Die Mehrheit der belgischen Sektion der “Bewegung für die Vierte Internationale” – wie sich die TrotzkistInnen damals nannten – entschied gleichfalls, keinen Kandidaten aufzustellen und so van Zeelan indirekt zu unterstützen.

 

Trotzki und das Internationale Sekretariat der Vierten Internationale verurteilten diese Position scharf: Die Haltung der belgischen Fühung (der Sektion, d.Ü.) während der Nachwahlen ist ein schwerer Schlag für das Ansehen der Vierten Internationale und besonders seine belgische Sektion. In dieser Frage stehen wir in vollkommener Überseinstimung mit dem IS und der Pariser 'Lutte ouuriere'. [40]

 

Vor einigen Tagen erhielt ich eine Stellungnahme von Genosse V. bezüglich den Kommunalwahlen. V.'s Argumente gegen eine Teilnahme erscheinen mir von vorn bis hinten als falsch. Wie sie wissen erachtete und erachte ich die Unterstützung unserer Partei für Van Zeeland als einen äußerst ernsthaften und gefährlichen Fehler. [41]

 

Trotzki war nicht nur in imperialistischen Ländern gegen die Wahlunterstützung für eine Volksfrontpartei, sondern auch in halbkolonialen Ländern. Als die mexikanische Gewerkschaftsbürokratie zur Unterstützung für den “fortschrittlich” bürgerlichen Kandidaten Àvila Camacho bei den Präsidentschaftswahlen von 1940 aufrief, wies Trotzki das zurück. Er erklärte diese Unterstützung für einen bürgerlichen Kandidaten für unzulässig: “Gegenwärtig gibt es keine Arbeiterpartei, keine Gewerkschaft, die eine unabhängige Klassenpolitik entwickelt und die in der Lage ist, einen unabhängigen Kandidaten aufzustellen. Unter diesen Umständen besteht unser einzig möglicher Kurs darin, uns auf marxistische Propaganda zu beschränken und die zukünftige unabhängige Partei des mexikanischen proletariats vorzubereiten. [42]

 

Als Diego de Rivera, ein berühmter mexikanischer Maler, der eine Zeitlang Unterstützer der Vierten Internationale war, die Bewegung verließ und die Gründung einer neuen Partei zur Unterstützung eines bürgerlichen Kandidaten bei bevorstehenden Wahlen befürwortete, entgegnete Trotzki:

 

Die Idee, daß man eine Partei “ad hoc" für eine konkrete Situation schaffen kann ist absolut unglaublich und dem Wesen nach opportunistisch. Eine Arbeiterpartei mit einem sogenannten Minimalprogramm ist eo ipso eine bürgerliche Partei. Es ist eine Partei die dazu dient, das Arbeiter eine bürgerliche Politik oder bürgerliche Politiker unterstützen. Eine revolutionär-marxistische Arbeiterpartei kann darüber dikutieren ob es sinnvoll ist oder nicht, in einer konkreten Situation einen der bürgerlichen Kandidaten zu unterstützen. Unter den gegebenen Umständen sind wir der Meinung, daß dies falsch wäre. [43]

 

Zusammenfassend betrachten wir kritische Wahlunterstützung für kleinbürgerlich-populistische Parteien unter bestimmten Bedingungen als zulässig, doch KommunistInnen können niemals Parteien oder KandidatInnen der Bourgeoisie wählen bzw. für deren Machtübernahme stimmen – weder in imperialistischen noch in halbkolonialen Ländern. Revolutionäre MarxistInnen befürworten eine ArbeiterInnen- und Bauernregierung und nicht eine Regierung von ArbeiterInnen, Bauern und Teilen der Bourgeoisie. Letzteres wäre eine Volksfrontregierung. Wahlunterstützung für eine solche Partei wäre kein Schrit in Richtung Klassenunabhängigkeit, sondern vielmehr ein Schritt zurück in die Unterwerfung der ArbeiterInnen und Unterdrückten unter die Bourgeoisie.

 



[1] Karl Marx: Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons “Philosphie des Elends”(1847), in: MEW Bd.4, S. 180f

[2] Karl Marx und Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei (1848), in: MEW Bd.4, S. 470

[3] Siehe auch Michael Pröbsting: Der Aufbau der revolutionären Partei in Theorie und Praxis. Rück- und Ausblick nach 25 Jahren organisierten Kampfes für den Bolschewismus, in: Revolutionärer Kommunismus Nr. 13, S. 12f., https://www.thecommunists.net/home/deutsch/rcit-revolutionare-partei/

[4] W.I. Lenin: Die Bolschewiki und das Kleinbürgertum, in: LW 12, S. 173

[5] W.I. Lenin: Zur Einschätzun der Russischen Revolution (1908), in: LW Bd. 15, S. 46f

[6] W.I. Lenin: Wie die Sozialrevolutionäre aus der Revolution Bilanz ziehen und wie die Revolution den Sozialrevolutionären Bilanz zog (1909), in: LW 15, S. 329f

[7] Leo Trotzki: Die Internationale Revolution und die Kommunistische Internationale. Dritter Teil: Ergebnisse und Perspektiven der chinesischen Revolution. Ihre Lehren für die Länder des Ostens und die gesamte Komintern (1928); in: Trotzki Schriften Band 2.1., Hamburg 1990, S. 384

[8] Ebenda, S. 384f.

[9] Leon Trotsky: Lessons of the SFIO Entry (1935), in: The Crisis of the French Section, New York 1977, S. 125-126 (Unsere Übersetzung)

[10] Siehe dazu die Bücher von David Riazanov: Karl Marx and Frederick Engels, August H. Nimtz: Marx and Engels and Otto Rühle: Karl Marx.

[11] Zu Sarekat Islam siehe z.B. Michael Francis Laffan: Islamic Nationhood and Colonial Indonesia. The umma below the winds, RoutledgeCurzon, London 2003; Tinur Jaylani: The Sarekat Islam Movement: Its Contribution to Indonesian Nationalism, Montreal 1959; Peter Lowensteyn: Indonesia between 1908 and 1928: The Sarekat Islam, http://www.lowensteyn.com/indonesia/sarekat.html

[12] Siehe dazu z.B. Jean Duval: The First Period of the Indonesian Communist Party (PKI): 1914-1926 - An outline, http://www.marxist.com/indonesian-communist-party-pki2000.htm; A. Yu. Drugov: Relations between the Comintern and the Communist Party of Indonesia, in: The Comintern and the East, Progress Publishers, Moscow 1981, pp. 383-409; Herman A.O. de Tollenaere: The Politics of Divine Wisdom. Theosophy and labour, national, and women's movements in Indonesia and South Asia 1875-1947, Leiden 1996 (Part IV: The Labour Movement)

[13] Siehe dazu z.B. Dov Bing: Lenin and Sneevliet: The Origins of the Theory of Colonial Revolution in the Dutch East Indies, in: New Zealand Journal of Asian Studies Vol. 11, No. 1 (Juni 2009), S. 153-177; Tony Saich and Fritjof Tichelman: Henk Sneevliet: A Dutch revolutionary on the world stage, Journal of Communist Studies, Vol. 1, No. 2 (1985), S. 170-193; Tony Saich: The Chinese Communist Party during the Era of the Comintern (1919-1943), Article prepared for Juergen Rojahn, "Comintern and National Communist Parties Project," International Institute of Social History, Amsterdam

[14] Siehe z.B. The Tragedy of the Chinese Revolution, Revolutionary History Vol. 2, No. 4 (1990); Gregor Benton: China’s Urban Revolutionaries. Explorations in the History of Chinese Trotskyism, 1921-1952, New Jersey 1996; Wang Fanxi: Erinnerungen eines chinesischen Revolutionärs 1919-1949, Frankfurt a.M. 1983; siehe auch: Damien Durand: The Birth of the Chinese Left Oopposition, in: Cahiers Leon Trotsky, No. 15 (1983); C. Martin Wilbur and Julie Lien-ying How: Missionaries of Revolution: Soviet Advisers and Nationalist China, 1920-1927 (Studies of the East Asian Institute), Harvard University Press, Harvard 1989; Helene Carrere D'Encausse and Stuart R. Schram: Marxism and Asia: an Introduction with Readings, Allen Lane, London 1969; Rudolf Schlesinger: Die Kolonialfrage in der Kommunistischen Internationale, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt a.M. 1970

[15] Siehe dazu z.B. Leo Trotzki: Die Internationale Revolution und die Kommunistische Internationale. Dritter Teil: Ergebnisse und Perspektiven der chinesischen Revolution. Ihre Lehren für die Länder des Ostens und die gesamte Komintern (1928); in: Trotzki Schriften Band 2.1., Hamburg 1990. Eine andere wichtige Arbeit der TrotzkistInnen jener Zeit ist Victor Serge: Die Klassenkämpfe in der chinesischen Revolution von 1927, Verlag Neue Kritik, 1975

[16] Leo Trotzki: Die Kommunistische Partei Chinas und die Guomindang, in: Trotzki Schriften 2.1, Rasch und Röhring, Hamburg 1990, S. 104ff.

[17] Leon Trotsky: The Opposition’s Errors – Real and Alleged (1928); in: Leon Trotsky: The Challenge of the Left Opposition (1928-29), S. 90

[18] Leon Trotsky: Against False Passport in Politics (1935); in: The Crisis in the French Section (1935-36), New York 1977, S. 116 (Unsere Übersetzung; Hervorhebung im Original)

[19] Leo Trotzki: Brief an Harold Isaacs (1.11.1937), in: Trotzki Schriften 2.2, Rasch und Röhring, Hamburg 1990, S. 889

[20] Es hat sich eine gewisse Tradition entwickelt, alle Einheitsfronten, die kleinbürgerliche oder bürgerliche Organisationen beinhalten (d.h. Organisationen, die keine ArbeiterInneneinheitsfronten sind), als “antiimperialistische Einheitsfront” zu bezeichnen. Diese Tradition hat ihren Ursprung in der Nutzung der Terminologie durch die Komintern in ihren Thesen zur Orient-Frage von 1922. Der Hintergrund dafür war einfach, dass die meisten Länder, die damals im Blickwinkel der Strategie der Komintern lagen, in direkter Konfrontation mit den imperialistischen Mächten standen. Heute gibt es auch eine Reihe demokratischer Kämpfe, die sich gegen eine lokale Diktatur richten, gegen ein rassistisches Gesetz oder gegen einen Kolonialkrieg in imperialistischen Ländern usw. In solchen Fällen erscheint die Verwendung des Begriffs “Demokratische Einheitsfront” angemessener als “Antiimperialistische Einheitsfront”.

[21] Bei der Erarbeitung eines solchen Zugangs haben wir die Position, die unsere Vorgängerorganisation – die Liga für eine Revolutionär Kommunistische Internationale – 1994 in den Einheitsfrontthesen entwickelt hat, weiterentwickelt (veröffentlicht in Trotskyist Bulletin No. 5, Juli 1994). Diese Thesen hatten eine “eurozentrische” Tendenz und nahmen damit nicht ausreichend Bezug auf die Bedingungen des Klassenkampfs in halbkolonialen Ländern. Aus diesem Grund enthielten sie auch keine Diskussion zur Anwendung der Einheitsfronttaktik durch RevolutionärInnen auf kleinbürgerlich-populistische Parteien in der halbkolonialen Welt im Zusammenhang mit Wahlen. Eine ähnliche Tendenz zur Inkonsistenz kann in einem ansonsten exzellenten Artikel von Stuart King gefunden werden: Nicaragua under the Sandinistas, in: Permanent Revolution No. 7, Frühjahr 1988, S. 43-73. King’s Artikel weist eine Losung für eine Alleinregierung der Sandinisten fälschlicherweise zurück.

[22] Siehe z.B. Abraham Ascher: The Revolution of 1905. Authority Restored, Stanford University Press, Stanford 1992, S. 364

[23] Zur Zeit des Fünften Kongresses, 1907, betrug die Mitgliederzahl der Sozialdemokratischen ArbeiterInnenpartei Russlands 150,000.

[24] Die Menschewiki rechtfertigten – in Verteidigung ihres Bündnisses, oder vielmehr ihrer Unterordnung unter die liberale Bourgeoisie – ihren Standpunkt mit dem Verweis auf die Taktik von Marx und Engels während der Revolution von 1848. Lenin antwortete darauf:

Plechanow führte Zitate aus Werken von Marx an über die Notwendigkeit einer Unterstützung der Bourgeoisie. Er hätte lieber Zitate aus der „Neuen Rheinischen Zeitung" anführen sollen, hätte lieber nicht vergessen sollen, auf welche Weise Marx die Liberalen in der Epoche „unterstützte", in der die bürgerliche Revolution in Deutschland in vollstem Gang war. Und man braucht auch überhaupt nicht so weit zurückzugehen, um zu beweisen, was unbestreitbar ist. Auch die alte „Iskra" hat wiederholt über die Notwendigkeit einer Unterstützung der Liberalen - sogar der Adelsmarschälle - durch die Sozialdemokratische Arbeiterpartei geschrieben. In der Periode vor der bürgerlichen Revolution, als die Sozialdemokratie das Volk erst zum politischen Leben erwecken mußte, war das durchaus berechtigt. Jetzt, wo schon die verschiedenen Klassen die Bühne betreten haben, wo einerseits die revolutionäre Bauernbewegung und anderseits der Verrat der Liberalen in Erscheinung getreten sind - jetzt kann keine Rede mehr davon sein, daß wir die Liberalen unterstützen sollten.“ (W. I. Lenin: Schlusswort zum Referat über die Stellung zu den bürgerlichen Parteien (1907), in: LW 12, S. 475)

[25] Eine exzellente Darstellung der Entwicklung von Lenins Gedanken 1906 and 1907 – nach dem Höhepunkt der ersten Russischen Revolution – findet sich in Kapitel 4 von August Nimtz: Lenin's Electoral Strategy from Marx and Engels through the Revolution of 1905. The Ballot, the Streets.

[26] Unter besonderen Umständen erlaubte Lenin 1907 die Bildung eines Blocks mit den Kadetten zur Niederschlagung der Schwarzhunderter, wie die Faschisten jener Zeit genannt wurden. Es wäre aber absolute unrichtig, aus dieser Ausnahme zu schließen, dass Lenins Taktik heute die Einbeziehung bürgerlicher Kandidaten gestatten würde. Im frühen 20. Jahrhundert war die liberale Bourgeoisie – repräsentiert durch die Kadetten – keine herrschende Klasse. Die herrschende Klasse bestand vielmehr in einer Koalition aus der Autokratie, den (halbfeudalen) Großgrundbesitzenden und der oktobristischen (monarchietreuen) Großbourgeoisie. Diese Situation unterscheidet sich natürlich sehr von der heutigen, nachdem die Bourgeoisie in allen Ländern zur herrschenden Klasse geworden ist.

[27] W. I. Lenin: Über den Boykott (1906), in: LW 11, S. 134f

[28] W. I. Lenin: Sozialdemokratie und Wahlabkommen (1906), in: LW 11, S. 275f

[29] W. I. Lenin: Sozialdemokratis und Wahlabkommen (1906), in: LW 11, S. 279

[30] W. I. Lenin: Besondere Meinung der Delegierten der Sozialdemokratie Polens, Lettlands, St. Petersburgs, Moskaus, des zentralen Industriegebiets und des Wolgagebiets, eingebracht auf der gesamtrussischen Konferenz der SDAPR (1906), in: LW 11, S. 292ff.

In einem anderen Artikel zitiert Lenin aus einer Resolution der Bolschewiki: “In der Erwägung: (…) dass sich in breiten Schichten der armen werktätigen städtischen Bevölkerung, die noch nicht auf dem proletarischen Standpunkt stehen und die den Ausgang der Wahlen in der städtischen Kurie beeinflussen können, ein Schwanken bemerkbar macht zwischen dem Bestreben, für die Parteien zu stimmen, die links von den Kadetten stehen, d. h. sich von der Führung der verräterischen liberal-monarchistischen Bourgeoisie zu befreien, und dem Bestreben, sich durch einen Block mit den Kadetten wenigstens einige Trudowikiabgeordnete in der Duma zu sichern; 5. dass sich in den schwankenden Trudowikiparteien das Bestreben bemerkbar macht, einen Block mit den Kadetten zu rechtfertigen, falls sie einen oder jedenfalls nicht mehr als zwei von den sechs Sitzen der Hauptstadt erhalten, damit zu rechtfertigen, dass die Sozialdemokraten unter keinen Umständen bereit seien, Abkommen mit den nichtsozialdemokratischen Schichten der armen städtischen Bevölkerung gegen die liberale Bourgeoisie einzugehen — beschließt die Konferenz: 1. dem St.-Petersburger Komitee der Partei der Sozialrevolutionäre und dem Komitee der Trudowikigruppe unverzüglich mitzuteilen, dass das Petersburger Komitee der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands bereit ist, ein Abkommen mit ihnen zu treffen, unter der Bedingung, dass sie keine Abkommen mit den Kadetten eingehen; 2. die Bedingungen des Abkommens lauten: völlige Selbständigkeit der das Abkommen schließenden Parteien im Hinblick auf Losungen, auf Programme und auf die Taktik überhaupt. Die sechs Dumamandate werden folgendermaßen verteilt: zwei Mandate stehen der Arbeiterkurie zu, zwei den Sozialdemokraten, ein Mandat den Sozialrevolutionären und eins den Trudowiki;“ Er fügt seiner Zusammenfassung mit eigenen Worten hinzu: „Wenn man diese Resolution betrachtet, treten drei Hauptpunkte hervor: 1. unbedingte Ablehnung aller Abkommen mit den Kadetten; 2. unerschütterliche Entschlossenheit der Sozialdemokraten, unter allen Umständen mit selbständigen Listen aufzutreten, und 3. Zulässigkeit von Abkommen mit den Sozialrevolutionären und den Trudowiki. (W. I. Lenin: Die Wahlkampagne der Arbeiterpartei in St. Petersburg (1906), in: LW 11, S. 430f)

In einem weiteren Artikel für die Neue Zeit (das theoretische Journal der deutschen Sozialdemokratie) fasste Lenin die methodischen Differenzen zwischen den Bolschewiki und den Menschewiki wie folgt zusammen:

Mit dieser Frage stehen die grundlegenden Meinungsstreitigkeiten der russischen Sozialdemokraten in engstem Zusammenhang. Der eine Flügel (die sogenannte ‚Minderheit’, die Menschewiki) hält die Kadetten und die Liberalen für die fortschrittliche städtische Großbourgeoisie, im Gegensatz zum rückständigen ländlichen Kleinbürgertum (zu den Trudowiki). Hieraus folgt, dass die Bourgeoisie als die treibende Kraft der Revolution angesehen und eine Politik der Unterstützung der Kadetten proklamiert wird. Der andere Flügel (die sogenannte ‚Mehrheit’, die Bolschewiki) hält die Liberalen für Vertreter der Großindustrie, die aus Furcht vor, dem Proletariat nach einer möglichst raschen Beendigung der Revolution streben und auf Kompromisse mit der Reaktion ausgehen. Die Trudowiki hält dieser Flügel für die revolutionäre kleinbürgerliche Demokratie und ist der Ansicht, dass diese geneigt ist, eine radikale Stellung in der für die Bauernschaft so überaus wichtigen Frage des Bodenbesitzes, d. h. der Konfiskation des Großgrundbesitzes, einzunehmen. Hieraus ergibt sich die Taktik der ‚Mehrheit’. Sie lehnt eine Unterstützung der verräterischen liberalen Bourgeoisie, d. h. der Kadetten, ab und sucht das demokratische Kleinbürgertum dem Einfuss der Liberalen zu entziehen; sie will den Bauer und den städtischen Kleinbürger von den Liberalen losreißen und sie hinter dem Proletariat als der Avantgarde in den revolutionären Kampf führen. Die russische Revolution ist ihrem gesellschaftlichwirtschaftlichen Gehalt nach eine bürgerliche, aber ihre treibende Kraft ist dennoch nicht die liberale Bourgeoisie, sondern das Proletariat und die demokratische Bauernschaft. (…) Unter dem ‚Linksblock’ hat man das Wahlbündnis der Sozialdemokraten mit den Parteien der kleinbürgerlichen Demokratie zu verstehen (in erster Linie mit den ‚Trudowiki’, wenn wir diese Bezeichnung im weitesten Sinne verstehen und wenn wir dem linken Flügel dieser Gruppe die Sozialrevolutionäre hinzurechnen). Dieses Bündnis richtete sich sowohl gegen die Rechte als auch gegen den Liberalismus.“ (W. I. Lenin: Die Dumawahlen und die Taktik der russischen Sozialdemokratie (1907), in: LW 12, S. 194f.)

[31] W. I. Lenin: Der zweite Wahlgang in Russland und die Aufgaben der Arbeiterklasse (1912), in: LW 17, S. 558ff

[32] Leo Trotzki: Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der IV. Internationale. Das Übergangsprogramm; Frankfurt/Main 1974, S. 32f

[33] Strategy of the Communists. A Letter from the Communist International to the Mexican Communist Party (21 August 1923), published by the Workers Party of America, Chicago 1923, S. 12 (Unsere Übersetzung)

[34] Zur frühen Geschichte der Kommunistischen Partei Mexikos siehe z.B. Boris Goldenberg: Kommunismus in Lateinamerika, Verlag W. Kohlhammer, Berlin 1971, S. 168-185

[35] Strategy of the Communists. A Letter from the Communist International to the Mexican Communist Party, S. 10-11 (Unsere Übersetzung)

[36] Die RCIT hat sich in einer Reihe von Dokumenten mit diesem Thema auseinandergesetzt. Siehe z.B. RCIT: It is Time to Break with a Wrong Method! Open Letter to the Members of the Liaison Committee of Communists, July 2015, http://www.thecommunists.net/rcit/open-letter-to-lcc/; Zum Putsch in Brasilien siehe Fußnote 70.

Zum Putsch in Ägypten siehe: RCIT: Egypt: Military Dictatorship Sentences Former President Morsi to Death! Down with the Butcher General al-Sisi! For a Revolutionary Constitutional Assembly! 17.5.2015, http://www.thecommunists.net/worldwide/africa-and-middle-east/egypt-morsi-death-sentence/; RKOB: Egypt: Down with the Military Dictatorship of al-Sisi! Report (with Photos and Videos) from a Rally in Solidarity with the Resistance in Egypt on 01.03.2015, http://www.thecommunists.net/worldwide/africa-and-middle-east/report-egypt-demo-1-3-2015/; RCIT: General Sisi – The Butcher of the Egyptian People – Sentences another 683 People to Death, 1.5.2014, http://www.thecommunists.net/worldwide/africa-and-middle-east/egypt-mass-death-sentences/; RCIT: Egypt: Mobilize International Solidarity against General Sisi’s Machinery of Repression! 28.3.2014, http://www.thecommunists.net/worldwide/africa-and-middle-east/stop-repression-in-egypt/; RCIT: Egypt: Down with General Sisi’s pro-Army Constitution! Boycott the Referendum!, 12.1.2014, http://www.thecommunists.net/worldwide/africa-and-middle-east/boycott-egypt-referendum/; RCIT: Tasks of the Revolution in Egypt, 2. Juli 2013, http://www.thecommunists.net/worldwide/africa-and-middle-east/tasks-of-egypt-revolution/; RCIT: Egypt: Down with the Military Coup d’État! Prepare Mass Resistance! 8. Juli 2013, http://www.thecommunists.net/worldwide/africa-and-middle-east/egypt-down-with-military-coup-d-etat/; Yossi Schwartz: Egypt: The U.S. Support for the Military Coup and the Left’s ignorance Notes on the role of US imperialism in the military’s coup d'état and the failure of the Egypt left, 11. Juli 2013, http://www.thecommunists.net/worldwide/africa-and-middle-east/egypt-us-support-for-military-coup/; Michael Pröbsting: The Military’s Coup d'État in Egypt: Assessment and Tactics. A reply to the criticism of the WIVP and the LCC on the meaning of the Military’s Coup d'État and the slogan of the Revolutionary Constituent Assembly, 17.7.2013, http://www.thecommunists.net/worldwide/africa-and-middle-east/egypt-meaning-of-coup-d-etat/; Yossi Schwartz: Egypt: Mobilize Resistance against the reactionary military regime! Down with the army’s puppet-government! No political support for Morsi and the Muslim brotherhood! For independent working class mobilization with a revolutionary perspective! 27.7.2013, http://www.thecommunists.net/worldwide/africa-and-middle-east/egypt-no-to-military-regime/; Michael Pröbsting: The Coup d'État in Egypt and the Bankruptcy of the Left’s “Army Socialism”. A Balance Sheet of the coup and another Reply to our Critics (LCC, WIVP, SF/LCFI), 8.8.2013, http://www.thecommunists.net/worldwide/africa-and-middle-east/egypt-and-left-army-socialism/; RCIT: Egypt: International Solidarity against the Army Crackdown! 14. August 2013, http://www.thecommunists.net/worldwide/africa-and-middle-east/egypt-international-solidarity/; Yossi Schwartz: Israel and the Coup in Egypt. Israel’s primary concerns regarding Egypt are the possible fall of the military regime or a descent into civil war, 21. August 2013, http://www.thecommunists.net/worldwide/africa-and-middle-east/israel-and-egypt-coup/

Zum Putsch in Thailand siehe:

RCIT: Thailand: Smash the Developing Military Coup! No Trust in the pro-Thaksin Pheu Thai PartyLeadership! Mobilize the Working Class and Poor Peasants to Defeat the “Yellow Shirts”, Army Command, and Monarchy! 21.5.2014, http://www.thecommunists.net/worldwide/asia/thailand-coup/; Michael Pröbsting: Thailand: How Should Socialists Fight Against the Military Coup? A Critique of the Statement “Oppose the coup regime!” by several Asian Left Organizations, 27.5.2014, http://www.thecommunists.net/worldwide/asia/thailand-coup-critique/; Michael Pröbsting: Thailand: Shall Socialists Defend the Government Against the Military Coup? Reply to a Neo-Bordigist Polemic of the “Liaison Committee of Communists”, 24.5.2014, http://www.thecommunists.net/worldwide/asia/thailand-coup-reply/; Thailand: Defeat the looming reactionary Coup D’état! Mobilize the Working Class and Poor Peasants as an independent force against the “Yellow Shirts”, Army Command and Monarchy! 4.12.2013, http://www.thecommunists.net/worldwide/asia/thailand-looming-coup-d-%C3%A9tat/; Michael Pröbsting: Thailand: CWI’s Disgraceful Support for the Bosses’ “Yellow Shirts”, RCIT, 15.1.2014, http://www.thecommunists.net/worldwide/asia/cwi-on-thailand/

[37] W. I. Lenin: An das Zentralkomitee der SDAPR (1917), in: LW Bd. 25, S. 292-295 (Hervorhebung im Original)

[38] Leo Trotzki: Ist in Spanien ein Sieg möglich? (1937), in: Leo Trotzki, Revolution und Bürgerkrieg in Spanien 1931-39. Band 1. ISP-Verlag, Frankfurt am Main 1986, S. 249

[39] Siehe dazu auch unsere Antwort auf die GenossInnen der TPR in Argentinien, die Christina Kirchner zur Machtübernahme aufriefen: Michael Pröbsting: Argentina: How to Fight, and how not to Fight, against the Macri Government (Reply to the TPR). Remarks on the TPR's pro-Kirchnerist Slogan “Bring Christina Back NOW!”, 19.02.2016, http://www.thecommunists.net/worldwide/latin-america/tpr-christina-slogan/

[40] Leon Trotsky: Opinions and Information (1937), Writings of Leon Trotsky Supplement 1934-40, S. 736 (Unsere Übersetzung)

[41] Leon Trotsky: To the Congress of the Revolutionary Socialist Party of Belgium (1938), Writings of Leon Trotsky 1937-38, S. 368 (Unsere Übersetzung)

[42] Leon Trotsky: Clave and the Election Campaign (1939), Writings of Leon Trotsky 1938-39, S. 176 (Unsere Übersetzung)

[43] Leon Trotsky: Statement of the Pan-American Committee, April 5, 1939, Writings of Leon Trotsky 1938-39, S. 296 (Unsere Übersetzung)

 

Marxismus und die Einheitsfronttaktik heute: VI. Traditionelle reformistische Parteien, neue ArbeiterInnenpartei und Wahltaktiken

 

 

In diesem Kapitel geht es um die Taktiken im Kampf für eine neue ArbeiterInnenpartei – sowohl in Ländern, in denen überhaupt keine ArbeiterInnenpartei existiert als auch in Ländern mit einer oder mehreren reformistischen ArbeiterInnenparteien. Dabei werden wir die Bedingungen, unter denen RevolutionärInnen entsprechende Losungen vorantreiben können, diskutieren. Ebenso werden wir Überlegungen zu den Wahltaktiken gegenüber traditionellen reformistischen Parteien – d.h. sozialdemokratische und stalinistische – unter den gegenwärtigen Bedingungen darlegen.

 

 

 

Kampf für eine Neue ArbeiterInnenpartei in der gegenwärtigen Periode

 

 

 

Betreffend die Taktik zur Neuen ArbeiterInnenpartei schrieben wir in unseren Thesen:

 

In Ländern, in denen keine Arbeiterparteien (auch keine reformistischen) existieren oder in denen die bestehenden bürgerlichen Arbeiterparteien bereits derartig degeneriert sind, dass sie relevante Teile der Avantgarde abstoßen, rufen Revolutionäre die Arbeiteravantgarde und die Massenorganisationen zum Aufbau einer neuen Arbeiterpartei auf. Dabei sind auch Zwischenschritte denkbar wie die Unterstützung von Revolutionären für Allianzen in diese Richtung oder die Gründung von neuen Organisationen besonders unterdrückter Schichten (z.B. Migrantenorganisationen), die dann auch eventuell bei Wahlen antreten können.[1]

 

Wir haben erklärt, dass der Aufruf zu einer ArbeiterInnenpartei eine besondere Anwendung der Einheitsfronttaktik ist, die von kleinen kommunistischen Kräften in Ländern, in denen es keine bürgerliche ArbeiterInnenpartei mit Massenunterstützung gibt, angewendet wird. In solchen Ländern können RevolutionärInnen größere ArbeiterInnenorganisationen (z.B. Gewerkschaften) auffordern, das Feld der Politik zu betreten und eine unabhängige ArbeiterInnenpartei zu gründen. Eine solche Partei muss von bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kräften völlig unabhängig sein. In den USA etwa rufen wir die Gewerkschaften dazu auf, mit der Demokratischen Partei zu brechen und eine Labor Party zu gründen. Dieselbe Taktik lässt sich in Argentinien gegenüber den peronistisch dominierten Gewerkschaften anwenden oder in Südafrika, wo COSATU an die Volksfrontregierung des ANC gebunden ist. Sie ist auch in Ägypten anwendbar, wo unabhängige Gewerkschaften von bürgerlichen PolitikerInnen dominiert werden. Grundsätzlich ist diese Taktik für die Mehrheit der Länder der Welt geeignet.

 

Eine solche ArbeiterInnenpartei darf nicht davor zurückschrecken, bei Wahlen gegen bürgerliche und kleinbürgerliche Kräfte anzutreten. RevolutionärInnen sollten gegen die “natürliche” Neigung opportunistischer ArbeiterInnenführerInnen, zu zögern und die Konfrontation mit solchen Parteien bei Wahlen zu scheuen, ankämpfen.

 

In Perioden intensivierten Klassenkampfs kann diese Taktik erfolgreich sein, wie in gewissem Ausmaß in den letzten Jahren in Südafrika zu sehen war. Hier spaltete sich NUMSA, die größte Einzelgewerkschaft, von COSATU ab, nachdem letztere die Regierung trotz des Massakers von Marikana und der Sparpolitik der Regierung weiter unterstützte. In Folge gründete die NUMSA-Führung die “Einheitsfront”, die eine politische Bewegung verkörpert, allerdings noch keine Partei, die zu Wahlen antritt.

 

Ein weiteres Beispiel für eine solche ArbeiterInnenpartei ist die PT in Brasilien, die von Lula in den späten 1970er Jahren in der Zeit der Militärdiktatur gegründet und geführt wurde. Später degenerierte sie leider zu einer reformistischen Partei.

 

Der Aufruf zu einer Neuen ArbeiterInnenpartei ist in solchen Ländern eine geeignete Taktik, in denen es keine ArbeiterInnenpartei gibt. Natürlich gibt es mehr Gelegenheiten zur Anwendung dieser Taktik in der Agitation in Zeiten des intensivierten Klassenkampfs. Daher erachten wir sie in der nächsten Zeit als eine besonders wichtige Taktik, angesichts der Beschleunigung der politischen, ökonomischen und sozialen Widersprüche in der historischen Periode, die 2008 begonnen hat.

 

RevolutionärInnen kämpfen gegen die Gefahr der reformistischen Degeneration einer solchen neuen ArbeiterInnenpartei. Sie tun das, indem sie ein revolutionäres Programm vertreten, d.h. ein volles Übergangsprogramm als Programm dieser Partei vorschlagen. Sie werden eine revolutionäre Tendenz innerhalb einer solchen Partei bilden und durch Enthüllung des Verrats der ReformistInnen und ZentristInnen im aktuellen Kampf um die Führung der Partei ringen. Das kann geschehen, indem eine Reihe an geeigneten Minimal- und Übergangsforderungen gestellt werden, die die ArbeiterInnen und Unterdrückten gegen den kapitalistischen Klassenfeind vereinen und mobilisieren können. Auf einer solchen Basis sollen RevolutionärInnen die Taktik der Einheitsfront mit anderen Kräften gegen den gemeinsamen Feind gemäß dem Prinzip “getrennt marschieren, vereint schlagen” anwenden.

 

Doch RevolutionärInnen dürfen keine UltimatistInnen sein. Mit anderen Worten, sie treten nicht in eine ArbeiterInnenpartei ein, präsentieren ihr Programm und verlassen die Partei, wenn es abgewiesen wird. Eine derart sektiererische Taktik würde nur den reformistischen Kräften dienen, die ihre Partei kontrollieren wollen. KommunistInnen müssen versuchen, die Basismitglieder der ArbeiterInnen und Jugend des linken Flügels innerhalb der Partei zu gewinnen, indem sie konkrete Kampagnen vorschlagen, die den Klassenkampf und die politische Entwicklung der Partei in eine kämpferische sozialistische Richtung vorantreiben.

 

Natürlich wird die Partei früher oder später an einem Kreuzungspunkt landen: entweder entwickelt sie sich in eine revolutionäre Richtung und wird eine wirklich sozialistische Partei oder sie degeneriert bürokratisch und wird zu einer reformistischen Kraft. Wenn sich RevolutionärInnen als zu schwach erweisen, die reformistische Degeneration einer solchen Partei aufzuhalten, sind sie verpflichtet, sich abzuspalten.

 

Während die ArbeiterInnenparteitaktik ursprünglich für Länder entwickelt wurde, in denen es keine reformistische ArbeiterInnenpartei gibt, so kann sie heute auch in Ländern angewendet werden, in denen eine solche existiert. Warum? Die Antwort liegt in der massiven Degeneration der traditionellen reformistischen Parteien in den letzten Jahren. Wie oben erwähnt, hat die Periode der neoliberalen Globalisierung die Degeneration der sozialdemokratischen und stalinistischen Parteien beschleunigt. Sie hat sie nach rechts gestoßen; sie hat die Verbindungen zwischen der Bürokratie und der Bourgeoisie verstärkt; sie hat den Einfluss der Mittelklasse erhöht und die Bande zur ArbeiterInnenklasse geschwächt.

 

Auch gab es eine massive Verbürgerlichung der ex-stalinistischen Parteien. Einerseits hat sich dieser Prozess nicht so schnell vollzogen wie beim sozialdemokratischen Zwilling. Der Grund dafür liegt einfach darin, dass sie zu einem weit geringeren Grad in die Exekutive des kapitalistischen Staates eingebunden waren, d.h. sie waren weniger oft Teil einer Regierung. Andererseits hatte eine Reihe dieser Parteien auch weniger Wurzeln in der ArbeiterInnenklasse. Jedenfalls konnten wir in den letzten Jahren den wachsenden Einfluss kleinbürgerlicher Intellektueller in solchen Parteien erleben (z.B. das Netzwerk Transform der Partei der Europäischen Linken)

 

Das heißt in den meisten Fällen nicht, dass diese reformistischen Parteien aufgehört haben, bürgerliche ArbeiterInnenparteien zu sein. Für die meisten stimmt, dass sie von einer Bürokratie mit engen Verbindungen zu Unternehmern und Managern beherrscht werden, doch sie halten auch immer noch wichtige Beziehungen zur ArbeiterInnenklasse, meistens über ihre enge Vernknüpfung mit den Gewerkschaften. MarxistInnen müssen eine konkrete Prüfung jeder derartigen traditionellen reformistischen Partei vornehmen und in jedem Fall beurteilen, ob sie den Rubikon überschritten hat und damit aufgehöt hat, eine bürgerliche ArbeiterInnenpartei zu sein und so zu einer offen bürgerlichen Partei bzw. genauer einer Volksfrontpartei geworden ist oder nicht.

 

In Europa ist etwa die Losung für eine neue ArbeiterInnenpartei vor allem in Italien bedeutsam. Die Wandlung der Kommunistischen Partei Italiens PCI zur Partito Democratico ist ein Beispiel für eine solche Entwicklung. In diesem Fall wurde die PCI in den frühen 1990ern erst zu den Democratici di Sinistra (Demokraten der Linken) und später über die Fusion mit anderen, offen bürgerlichen Parteien, zur Partito Democratico. Das ist ein klassischer Fall von Rückentwicklung von einer bürgerlichen ArbeiterInnenpartei zu einer volksfrontlerischen oder offen bürgerlichen Partei. Während ursprünglich eine linksreformistische Partei in Form der Partito della Rifondazione Comunista unter Fausto Bertinotti existierte (sie spaltete sich von der PCI ab, als diese zu einer Volksfrontpartei wurde), diskreditierte sich diese Partei völlig durch ihre Teilnahme an neoliberalen Regierungen und konnte folglich in den letzten Jahren bei Wahlen nicht einmal einen einzigen Sitz im Parlament gewinnen.

 

Auch gegenteilige Entwicklungen können nicht ausgeschlossen werden – zumindest zeitweilig. Unter bestimmten Umständen können solche Parteien sogar eine vorläufige Verjüngung erfahren (siehe z.B. die britische Labour Party unter Corbyn). [2] Nichtsdestotrotz treibt die “Neoliberalisierung” der Sozialdemokratie das Wegbrechen wesentlicher Bereiche der ArbeiterInnenavantgarde und der proletarischen Massen voran. Gleichzeitig ist das Bewusstsein dieser proletarischen Teile nicht ausreichend fortgeschritten, sich einer revolutionären Organisation anzuschließen. In solchen Fällen müssen RevolutionärInnen die Taktik der Neuen ArbeiterInnenpartei anwenden und einen Aufruf an jene Teile der Avantgarde und der ArbeiterInnenklasse zur Gründung einer neuen ArbeiterInnenpartei richten, die mit den traditionellen reformistischen Parteien brechen wollen, aber noch kein revolutionäres Klassenbewusstsein haben.

 

Eine solche Taktik sollte nicht mit der opportunistischen Taktik verwechselt werden, die verschiedene Linksreformisten und Zentristen anwenden, die die Gründung einer pluralistischen reformistischen Partei befürworten. Es ist natürlich wahrscheinlich, dass innerhalb einer solchen neuen Partei in der ersten Phase reformistische, zentristische wie auch revolutionäre Tendenzen auftreten. Wir Bolschewiki-Kommunisten sind keine Sektierer und fürchten die Anwendung der Einheitsfronttaktik auch unter solchen Umständen nicht.

 

Doch Zentristen betrachten eine solche Partei als Lösung per se, als permanents Modell für eine “pluralistische linke Partei”. Sie glauben, dass dieser Parteitypus für längere Zeit bestehen kann. Als Ergebnis befürworten sie kein revolutionäres Kampfprogramm, sondern schlagen ein “realistischeres” linksreformistisches Programm vor. Anstatt gegen die auftauchenden reformistischen Bürokraten anzukämpfen, kooperieren sie mit ihnen oder leben mit ihnen in “friedlicher Koexistenz”.

 

Im Gegensatz zu einem solchen opportunistischen Zugang würden wir als Bolschewiki-Kommunisten innerhalb einer solchen Partei arbeiten, indem wir offen unser unabhängiges Programm darlegen. Während wir mit anderen Kräften innerhalb der Partei zusammenarbeiteten, würden wir kompromisslos gegen reformistische und zentristische Tendenzen ankämpfen. Wir würden versuchen, die Mehrheit der Partei geduldig davon zu überzeugen, eine revolutionäre Perspektive zu übernehmen. Wenn das scheiterte und die Partei zu einem verknöcherten reformistischen Gebilde würde, würden RevolutionärInnen die Konsequenzen ziehen und sich von der Partei abspalten und dabei versuchen, die kämpferischen ArbeiterInnen und Unterdrückten der Partei mitnehmen und mit ihnen eine wahrhaft revolutionäre Partei zu gründen.

 

Die gegenwärtige Periode, die sich durch den Niedergang traditionell reformistischer Parteien auszeichnet, ist ein fruchtbarer Boden für MarxistInnen um die der Losung für neue ArbeiterInnenparteien vorzubringen; aus dem wachsenden Wunsch bedeutender Teile des Proletariats nach einer neuen Alternative zu diesen neoliberalisierten Parteien kann hier Vorteil gezogen werden. Die Agitation für eine solche neue Alternative missachtet aber auch keineswegs jene Teile der Avantgarde und der ArbeiterInnenklasse, die noch den traditionellen reformistischen Parteien anhängen. Doch es kann keinen Zweifel geben, dass RevolutionärInnen in der aktuellen Periode des Umbruchs eine Perspektive entwickeln müssen, die auf die Gründung einer neuen ArbeiterInnenpartei und einer neuen ArbeiterInneninternationale hinausläuft.

 

Der bedeutsame Anstieg und das Wachstum neuer politischer Formationen auf Grundlage reformistischer oder populistischer Kritik am neoliberalen Kapitalismus und der Verteidigung der Rechte der ArbeiterInnen im Besonderen und der demokratischen Rechte im Allgemeinen ist hinreichende Rechtfertigung der Taktik der RCIT für den Aufruf einer neuen ArbeiterInnenpartei. Beispiele für diese Tendenz sind das enorme Wachstum der SYRIZA in Griechenland, die Wahlerfolge zentristischer Kräfte wie auch von Sinn Feín bei den Wahlen in Irland und die spektakuläre Entwicklung der erst vor zwei Jahren gegründeten Podemos. Während in formeller Hinsicht SYRIZA und Sinn Feín keine neuen Parteien darstellen, so waren sie doch bis vor wenigen Jahren nur kleine Kräfte, die jetzt jedoch wegen des Niedergangs der traditionellen reformistischen Parteien zu wachsen begonnen haben.

 

Natürlich sollte niemand – wie oben erwähnt – Illusionen in diese neuen reformistischen oder populistischen Parteien haben. Letztlich werden sie die ArbeiterInnenklasse und die Unterdrückten verraten, entweder sobald sie die Möglichkeit haben, in eine Regierung einzutreten oder wenn sie die Führungsrolle in einem Massenkampf übernehmen. Aus diesem Grund müssen RevolutionärInnen die Massen im Vorhinein bezüglich der wahren Natur der Führungen in diesen Parteien warnen. Doch gleichzeitig dürfen MarxistInnen die Politisierung und Radikalisierung von Teilen der ArbeiterInnenklasse und der Jugend nicht ignorieren, die gereade ihren Ausdruck in der Unterstützung für diese neuen Parteien finden. Jedes sektiererische Abseitsstehen in diesem Prozess würde nur die Isolation der RevolutionärInnen garantieren. Darum kann kritische Wahlunterstützung für solche Parteien, zusätzlich zum Entrismus unter bestimmten Umständen, in der gegenwärtigen Periode ein legitimes Instrument für MarxistInnen sein.

 

 

 

Engels, Lenin und Trotzki zur Taktik der ArbeiterInnenpartei

 

 

 

Die Taktik der ArbeiterInnenpartei wurde zuerst von Marx und Engels entwickelt. Im 19. Jahrhundert gab es bekanntlich Länder, in denen das Wachstum der Gewerkschaftsbewegung nicht Hand in Hand mit der Gründung unabhängiger ArbeiterInnenparteien ging.[3] Die bekanntesten darunter waren Britannien und die USA. In Britannien bildeten die Gewerkschaften eine politische Allianz mit der offen bürgerlichen Liberal Party. Erst nach Jahrzehnten brachen sie mit den Liberalen und suchten eine unabhängige politische Vertretung. Zuerst gründeten sie 1900 das reformistische Labour Representation Committee und dann 1906 die Labour Party.

 

Marx und Engels meinten, dass es für die ArbeiterInnenklasse notwendig sei, ihre politische Unterordnung unter die Parteien der Bourgeoisie zu überwinden und ihre eigenen Parteien zu gründen. Dadurch würde ein wichtiger Schritt in ihrer Entwicklung eines politischen Klassenbewusstseins gemacht werden. Marx und Engels unterstützten also jeden praktischen Schritt hin zur Gründung einer unabhängigen ArbeiterInnenpartei, auch wenn dieser Prozess in den Köpfen vieler TeilnehmerInnen mit reformistischen Illusionen befrachtet war.

 

Im Jahr 1886 schrieb Engels in einem Brief an Friedrich Adolph Sorge:

 

Die faulste Seite der Knights of Labor war ihre politische Neutralität, die auf reine Mogelei der Powderlys etc. hinausläuft; dieser ist aber die Spitze abgebrochen durch die Haltung der Massen bei den Novemberwahlen und namentlich in New York. Der erste Schritt, worauf es in jedem neu in die Bewegung eintretenden Land ankommt, ist immer die Konstituierung der Arbeiter als selbständige politische Partei, einerlei wie, solange es nur eine distinkte Arbeiterpartei ist. Und dieser Schritt ist geschehn, viel rascher als wir erwarten durften, und das ist die Hauptsache. Dass das erste Programm dieser Partei noch konfus und äußerst mangelhaft, dass sie den Henry George als Fahne aufgesteckt, das sind unvermeidliche Übelstände, aber auch nur vorübergehende. Die Massen müssen Zeit und Gelegenheit haben, sich zu entwickeln, und die Gelegenheit haben sie erst, sobald sie eine eigne Bewegung haben – einerlei in welcher Form, sobald es nur ihre eigne Bewegung ist -, in der sie durch ihre eignen Fehler weitergetrieben werden, durch Schaden klug werden.[4]

 

Später verallgemeinerten Lenin und die Kommunistische Internationale diese Taktik. Lenin selbst schrieb 1907:

 

Wenn Engels die Wichtigkeit einer selbständigen Arbeiterpartei, selbst einer solchen mit schlechtem Programm, nachdrücklich betont, so deshalb, weil es sich um Länder handelt, in denen es bis dahin auch nicht die Spur einer politischen Selbständigkeit der Arbeiter gab, in denen sich die Arbeiter in der Politik am meisten von der Bourgeoisie ins Schlepptau nehmen ließen und immer noch nehmen lassen.[5]

 

Später, nach der Gründung der Kommunistischen Internationale, wollte Lenin diese Taktik weiter verallgemeinern. Auf dem Zweiten Weltkongress 1920 traf er den US-Delegierten Louis C. Fraina und fragte nach seiner Meinung zur Anwendbarkeit der Taktik der ArbeiterInnenpartei in den USA. Fraina wies diese Idee zurück und Lenin drängte nicht weiter darauf.[6] Doch Lenin trieb voran, dass die Komintern dieses Thema genauer diskutierte. Er warf diese Frage in den Diskussionen rund um den Dritten Kongress 1921 auf und, im Jahre 1922, sprachen sich die Komintern und die amerikanische Partei – jetzt unter dem Namen Workers’ Party, da der Name “Kommunistische Partei” in Amerika für illegal erklärt worden war – für die Taktik der ArbeiterInnenpartei als besondere Form der Einheitsfront in den USA aus.[7]

 

Dieser korrekte Zugang wurde im selben Jahr in einer Broschüre – “For a Labor Party” - von der Workers’ Party veröffentlicht und vom Komintern-Delegierten in den USA, John Pepper, geschrieben. Sie stellt die Position der Komintern zu dieser Frage dar. Sie rief die AFL – der US-Gewerkschaftsbund – auf, eine solche ArbeiterInnenpartei aufzubauen:

 

Die Dezember-Konferenz schuldet es der amerikanischen Arbeiterbewegung, eine große unabhängige politische Partei der Arbeiter zu gründen – die Labor Party. Wenn diese Labor Party wachsen soll, muss sie auf den Gewerkschaften aufbauen. Wenn die neue Labor Party nicht in einem Sumpf ohne Prinzipien versinken soll, muss sie dem linken Flügel der Arbeiterklasse, der Communist Workers Party und der Proletarian Party offenstehen. Die Labor Party muss ein klassenbewusstes Programm annehmen. Ein Programm, das nicht die Interessen der Kapitalisten vertritt, sondern nur die Interessen der Arbeiter. Ein Programm, das klar das Ziel vor Augen hat: Die Abschaffung der Lohnsklaverei, die Errichtung einer Arbeiterrepublik und ein kollektivistisches Produktionssystem. Früher oder später wird eine Labor Party ein solches Programm unausweichlich beschließen. Sie sollte das im Moment ihrer Geburt tun.[8]

 

Vor dem Hintergrund der stalinistischen Degeneration der Komintern sollte Pepper und die Führung der Workers’ Party die prinzipiengeleitete Anwendung der Taktik der ArbeiterInnenpartei bald durch eine opportunistische Taktik des Aufbaus einer klassenübergreifenden Farmer- and Labor-Party ersetzen. Dieses Experiment endete im völligen Bankrott. [9]

 

Später entwickelte Trotzki die Taktik der ArbeiterInnenpartei zu ihrer reinsten revolutionären Form. In einer Diskussion mit den Führern der SWP – der US-amerikanischen trotzkistischen Partei – erklärte Trotzki, was er als den richtigen Zugang zur Frage der ArbeiterInnenpartei betrachtete.

 

Frage: Wie bringst Du das mit der ursprünglichen Aussage in Einklang, daß wir nicht für die Organisierung einer reformistischen Labor Party eintreten können? Ich möchte mir darüber klar werden, was unser Genosse konkret tut, wenn seine Gewerkschaft der LNPL angeschlossen ist, und er als Delegierter in die Labor Party entsandt wird. Dann kommt die Frage auf, wie man sich in den Wahlen verhalten soll, und man schlägt vor: „Laßt uns La Guardia unterstützen.“ Wie stellt sich die Sache unseren Genossen konkret dar?

 

Trotzki: Wir befinden uns also auf einem Gewerkschaftstreffen, um den Anschluß an die LNPL zu diskutieren. Ich werde in der Gewerkschaft sagen: Zunächst einmal ist die Vereinigung der Gewerkschaften auf einer politischen Ebene ein Fortschritt. Es besteht die Gefahr, daß sie unseren Feinden in die Hände fällt. Ich schlage daher zwei Maßnahmen vor: 1) daß wir nur Arbeiter und Farmer zu Vertretern haben, daß wir nicht von sogenannten parlamentarischen Freunden abhängig sind; 2) daß unsere Vertreter sich an unser Programm halten, und zwar an dieses Programm hier. Dann skizzieren wir konkrete Pläne zur Arbeitslosigkeit, zum Militärhaushalt etc. Dann sage ich: Wenn Ihr mich als Kandidaten vorschlagt, kennt Ihr also mein Programm. Wenn Ihr mich als Euren Vertreter entsendet, werde ich in der LNPL, der, Labor Party, für dieses Programm kämpfen. Wenn die LNPL beschließt, für La Guardia zu stimmen, werde ich entweder unter Protest zurücktreten oder bleiben und protestieren: „Ich kann nicht für La Guardia stimmen. Ich habe mein Mandat.“ Wir erhalten reiche neue Möglichkeiten für Propaganda.

 

Die Auflösung unserer Organisation ist völlig ausgeschlossen. Wir machen absolut klar, daß wir unsere Organisation haben, unsere Presse usw. usf. Es ist eine Frage des Kräfteverhältnisses. Genosse Dunne sagt, wir können in den Gewerkschaften noch nicht für die Unterstützung der SWP eintreten. Warum? Weil wir zu schwach sind. Und wir können den Arbeitern nicht sagen: Wartet, bis wir mehr Autorität bekommen haben und mächtiger geworden sind. Wir müssen in die Bewegung eingreifen, so, wie sie ist ...

 

Frage: Wenn es keine Bewegung für eine Labor Party gäbe und wir dagegen wären, eine solche zu schaffen, wie würde dies das Programm selbst berühren? Es wäre immer noch unser Übergangsprogramm. Ich verstehe es nicht, wenn Du sagst, wir können nicht für eine reformistische Partei eintreten, aber wir sind Befürworter und Vorkämpfer von Bewegungen für eine Labor Party, um den Willen der Arbeiter politisch durchzusetzen.

 

Trotzki: Es wäre absurd zu sagen, daß wir für eine reformistische Partei eintreten. Wir sagen den Führern der LNPL: „Ihr macht aus dieser Bewegung ein rein opportunistisches Anhängsel der Demokraten. “ Es geht um die pädagogische Herangehensweise. Wie können wir sagen, daß wir für die Schaffung einer reformistischen Partei eintreten? Wir sagen, Ihr könnt Euren Willen nicht durch eine reformistische, sondern nur durch eine revolutionäre Partei durchsetzen. Die Stalinisten und die Liberalen wollen aus dieser Bewegung eine reformistische Partei machen, aber wir haben unser Programm, wir machen daraus eine revolutionäre ...

 

Cannon: Wie kann man eine revolutionäre Labor Party erklären? Wir sagen: Die SWP ist die einzige revolutionäre Partei, sie hat das einzige revolutionäre Programm. Wie kann man dann den Arbeitern erklären, daß die Labor Party auch eine revolutionäre Partei ist?

 

Trotzki: Ich würde nicht sagen, daß die Labor Party eine revolutionäre Partei ist, sondern daß wir alles tun werden, um dies zu ermöglichen. Auf jeder Versammlung würde ich sagen: Ich bin ein Vertreter der SWP. Ich halte sie für die einzige revolutionäre Partei. Aber ich bin kein Sektierer. Ihr versucht gerade, eine große Arbeiterpartei zu schaffen. Ich werde Euch helfen, schlage aber vor, daß Ihr über ein Programm für diese Partei nachdenkt. Ich habe dazu die und die Vorschläge. Das würde ich herausstellen. Unter diesen Bedingungen wäre es ein großer Schritt nach vorn. Weshalb nicht offen sagen, was ist? Ohne jegliche Tarnung, ohne jegliche Diplomatie. [10]

 

 

 

Die traditionellen reformistischen Parteien und Wahltaktiken heute

 

 

 

Wie in unseren Thesen zur Einheitsfront dargestellt hat die RCIT immer die Taktik der kritischen Wahlunterstützung für reformistische Parteien, wie sie von Lenin und Trotzki entwickelt wurde, verfolgt. Wiederholt haben wir erklärt, dass, wenn die kommunistischen Kräfte gering sind, sie die Taktik der kritischen Unterstützung für Parteien der ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten in ihren Verbindungen mit nicht-kommunistischen Massen nutzen sollen.

 

Unsere Methode der kritischen Wahlunterstützung beinhaltet die Aufstellung eines Programms unmittelbarer und gewisser Übergangsforderungen, die sich an die brennendsten Bedürfnisse der Masse richten. Die Absicht ist, ArbeiterInnen im Kampf zu mobilisieren und eine reformistische Partei zu zwingen, diese oder jene Handlung im Interesse der ArbeiterInnen umzusetzen. Solche Forderungen müssen immer mit der Losung für die Organisierung der ArbeiterInnen und Unterdrückten einhergehen und auf die Errichtung von Aktionskomitees, zusammengesetzt aus einfachen ArbeiterInnen am Arbeitsplatz und aus den Stadtteilen, die nicht unter Kontrolle der Bürokratie stehen, fokussieren. Das ist ganz wesentlich, weil erstens Massenmobilisierungen der einzige Weg sind, um die reformistische Bürokratie zu zwingen, auch nur begrenzt fortschrittliche Aktionen zu setzen. Und zweitens können solche Losungen den Boden für ArbeiterInnen aufbereiten, für diese Forderungen unabhängig zu kämpfen, wenn ihre bürokratischen Führungen sich dazu weigern.

 

In unserer Vorläuferorganisation erklärten wir die Taktik der kritischen Wahlunterstützung in den Thesen zum Reformismus folgendermaßen:

 

Beide Elemente der kritischen Unterstützung – Forderungen an die Reformisten und Organisierung des unabhängigen Kampfes zur Verwirklichung deser Forderungen – sind entscheidend, weil die Regierung einer bürgerlichen Arbeiterpartei (d.h. eine bürgerliche Arbeiterregierung) unweigerlich ein Werkzeug des Kapitals gegen die Arbeiterklasse sein wird. Die Organisierung des unabhängigen Kampfes ist lebenswichtig, um Niederlage und Demoralisierung bei den Massen zu verhindern, wenn sich der reformistische Verrat in der Praxis herausstellt. Gleichzeitig werden die Kommunisten ihr eigenes Programm vorbringen und es den reformistischen Losungen entgegenstellen, auch dort, wo kein Kommunist kandidiert. Um die Arbeiter für eine revolutionäre Alternaitve zu gewinnen, muss man offen aussprechen (auch für die Dauer der Einheitsfront), wie diese Alternative aussieht.

 

Die Taktik der kritischen Wahlunterstützung beruht allein auf der Existenz der organischen Verbindung von bürgerlicher Arbeiterpartei und Arbeiterklasse. Sie hängt keineswegs vom Programm oder von den Versprechungen der Reformisten ab. Kommunistische Agitation und Propaganda für die Wahlunterstützung dürfen keiner Interpretation im Sinne einer Unterstützung für Reformisten als strategisches “kleineres Übel” im Vergleich zu den offen bürgerlichen Parteien Raum geben. (…) Der Zweck, Reformisten an die Regierung zu bringen, ist genau der, sie einem Test zu unterziehen und zu beweisen, dass sie (genau wie die offen bürgerlichen Parteien) die Klassenherrschaft und die Staatsmacht der Bourgeoisie erhalten und verteidigen wollen und dass sie deswegen die Arbeiterklasse angreifen.[11]

 

Leider glauben eine Reihe von Zentristen und Ultralinken, dass kritische Unterstützung für reformistische Parteien, die wiederholt die ArbeiterInnenklasse verraten haben, im Widerspruch zu den marxistischen Prinzipien stehen würde. Das ist völlig falsch. Tatsächlich erklärte Lenin schon vor langer Zeit, dass die Frage nicht die ist, ob wir, die KommunistInnen, die betrügerische Natur des Reformismus erkennen, sondern ob die Massen der ArbeiterInnenklasse das verstehen. In seinem bekannten Buch Der linke Radikalismus – eine Kinderkrankeit von 1920 riet Lenin den britischen KommunistInnen, der reformistischen Labour Party kritische Wahlunterstützung zukommen zu lassen:

 

Wenn wir nicht eine revolutionäre Gruppe, sondern die Partei der revolutionären Klasse sind, wenn wir die Massen mitreißen wollen (und tun wir das nicht, so laufen wir Gefahr, einfach Schwätzer zu bleiben), so müssen wir erstens Henderson oder Snowden helfen, Lloyd George und Churchill zu schlagen (richtiger gesagt sogar: jene zwingen, diese zu schlagen, denn die ersteren fürchten ihren eigenen Sieg!); zweitens der Mehrheit der Arbeiterklasse helfen, sich durch eigene Erfahrung davon zu überzeugen, dass wir recht haben, d. h. sich von der völligen Untauglichkeit der Henderson und Snowden, von ihrer kleinbürgerlichen und verräterischen Natur, von der Unvermeidlichkeit ihres Bankrotts zu überzeugen; drittens den Zeitpunkt näher rücken, zu dem es möglich sein wird, auf Grund der Enttäuschung der Mehrheit der Arbeiter über die Henderson mit ernsten Aussichten auf Erfolg die Regierung der Henderson mit einem Schlage zu stürzen (…)." [12]

 

Zu dieser Zeit waren die KommunistInnen in Britannien eine sehr kleine Kraft mit nur ein paar hundert Mitgliedern und nicht in einer gemeinsamen Partei vereinigt.[13] Nichtsdestotrotz bzw. genau aus diesem Grund rief Lenin seine GenossInnen dazu auf, sich an die Masse der ArbeiterInnenklasse mit einer Taktik zu wenden, die ihr gegenwärtiges, nicht-kommunistisches, reformistisches Bewusstsein ansprach:

 

Wir würden Wahlagitation treiben, Flugblätter zugunsten des Kommunismus verbreiten und in allen Wahlkreisen, in denen wir keinen eigenen Kandidaten aufstellen, empfehlen, für den Labouristen und gegen den Bourgeois zu stimmen. Genossin Sylvia Pankhurst und Genosse Gallacher irren, wenn sie darin einen Verrat am Kommunismus oder einen Verzicht auf den Kampf gegen die Sozialverräter sehen. Im Gegenteil, dadurch würde die Sache der kommunistischen Revolution ohne Zweifel gewinnen.

 

Den englischen Kommunisten fällt es jetzt sehr oft schwer, an die Masse auch nur heranzukommen, sich bei ihr auch nur Gehör zu verschaffen. Wenn ich als Kommunist auftrete und erkläre, dass ich dazu auffordere, für Henderson und gegen Lloyd George zu stimmen, so wird man mich gewiss anhören. Und ich werde nicht nur in populärer Weise erklären können, warum die Sowjets besser sind als das Parlament und die Diktatur des Proletariats besser ist als die Diktatur Churchills (die durch das Aushängeschild der bürgerlichen ‚Demokratie’ verdeckt wird), sondern ich werde auch erklären können, dass ich Henderson durch meine Stimmabgabe ebenso stützen möchte, wie der Strick den Gehängten stützt; dass in dem Maße, wie sich die Henderson einer eigenen Regierung nähern, ebenso die Richtigkeit meines Standpunkts bewiesen wird, ebenso die Massen auf meine Seite gebracht werden und ebenso der politische Tod der Henderson und Snowden beschleunigt wird, wie das bei ihren Gesinnungsgenossen in Russland und in Deutschland der Fall war." [14]

 

Später trat Trotzki auch weiterhin für die Anwendung einer solchen Methode gegenüber reformistischen Massenparteien ein. Er betonte, dass KommunistInnen ihre kritische Unterstützung für Reformisten nicht deswegen geben, weil diese ein besseres Programm oder eine bessere Politik als offen bürgerliche Parteien hätten oder weil sie das “kleinere Übel” wären. Er argumentierte, dass KommunistInnen die Einheitsfronttaktik auf dem Gebiet der Wahl allein wegen der organischen Verbindungen zwischen den Reformisten und der ArbeiterInnenklasse anwenden sollen. Aus demselben Grund kritisierte er die zentristische ILP in Britannien, als diese für eine kritische Wahlunterstützung nur für jene Kandidaten der Labour Party aufrief, die sich gegen die imperialistischen Sanktionen gegen Italien nach seiner Invasion in Abessinien 1935 aussprachen.

 

"FRAGE: Handelte die ILP korrekt, als sie denjenigen Kandidaten der Labour Party, die für die Sanktionen waren, die Unterstützung versagte?

 

ANTWORT: Nein. Wirkliche Wirtschaftssanktionen führen zu militärischen Konsequenzen, zum Krieg. Die ILP selbst hat das gesagt. Sie hätte alle LP-Kandidaten unterstützen sollen, d.h. überall, wo die ILP nicht selbst kandidierte. Im 'New Leader' (Neuer Führer) las ich, dass eure Londoner Gruppe übereinkam, nur solche Labour Party-Kandidaten zu unterstützen, die gegen die Sanktionen waren. Auch das ist nicht korrekt. Die LP hätte nicht kritisch unterstützt werden sollen, weil sie für oder gegen Sanktionen war, sondern weil sie die Arbeitermassen repräsentiert. ( ... ) Die Kriegsgefahr ändert nichts daran, dass die Labour Party eine Arbeiterpartei ist, im Unterschied zur Regierungspartei. Sie ändert auch nichts daran, dass die Labour Party-Führung ihre Versprechen nicht halten kann und das Vertrauen der Massen missbrauchen wird. In Friedenszeiten werden die Arbeiter Hungers sterben, wenn sie sich auf die Sozialdemokratie verlassen; im Krieg werden sie aus demselben Grunde an Kugeln sterben. Revolutionäre unterstützen den Reformismus niemals mit der Begründung, er könne an der Regierung die grundlegenden Forderungen der Arbeiter erfüllen. ( ... ) Nein, im Krieg wie im Frieden muss die ILP den Arbeitern sagen: 'Die LP wird euch täuschen und verraten, aber ihr glaubt uns nicht. Gut, wir werden mit euch gemeinsam diese Erfahrung durchmachen, aber wir werden uns auf keinen Fall mit dem Labour Party-Programm identifizieren." [15]

 

Trotzki wiederholte Lenins Rat, das politische Bewusstsein von RevolutionärInnen nicht mit dem der Masse der ArbeiterInnenklasse zu verwechseln.

 

"Es wird die Meinung vertreten, die Labour Party habe sich bereits durch vergangene Untaten an der Regierung und durch ihre momentane reaktionäre Plattform genügend entlarvt, z.B. durch ihre Entscheidung in Brighton. Für uns - ja! Aber nicht für die Massen, die acht Millionen, die Labour gewählt haben!" [16]

 

Genau weil RevolutionärInnen zur Wahlunterstützung für reformistische Parteien nicht wegen ihres Programms, sondern wegen ihres Verhältnisses zur ArbeiterInnenklasse aufrufen, rufen wir üblicherweise nicht zur Wahlunterstützung für kleine reformistische oder zentristische Listen auf. Ihr nicht-revolutionäres Programm gibt uns keinen Grund sie zu unterstützen und wegen ihrer fehlenden Verbindungen zur Massenbasis in der ArbeiterInnenklasse würde eine solche Taktik RevolutionärInnen nicht helfen, sich nicht-revolutionären ArbeiterInnen und Unterdrückten anzunähern. Folglich würde jede Unterstützung für solche KandidatInnen nur als Unterstützung für ihre Politik fehlinterpretiert werden, etwas das KommunistInnen nie tun würden.

 

Wir haben immer darauf bestanden, dass es unsiinig ist zu glauben, dass die Illusionen der ArbeiterInnen in reformistische Parteien schnell überwunden werden können. Das gilt v.a. angesichts des Fehlens einer großen revolutionären Partei. Die Langlebigkeit dieser Illusionen in reformistische Parteien ist mit den historischen Wurzeln der sozialdemokratischen und stalinistischen Parteien in der ArbeiterInnenklasse verbunden. Daher verschwinden diese Illusionen nicht automatisch, wenn solche Parteien in eine Regierung eintreten.

 

So war das einige Jahrzehnte lang nach dem Zweiten Weltkrieg, doch in den letzten 10-15 Jahren haben wichtige Veränderungen stattgefunden. Wie schon erwähnt sind die meisten reformistischen Parteien weiterhin bürgerliche ArbeiterInnenparteien, doch es gab signifikante Brüche mit diesen Parteien von Teilen der ArbeiterInnenklasse. Diese Brüche führten entweder zur Bildung neuer Parteien oder zu Fusionierungen mit anderen, kleineren reformistischen Parteien. In anderen Fällen spiegelt sich diese Entwicklung nur in einem höheren Anteil an Nichtwählern wieder.

 

Wie weiter oben erwähnt, bedeutet die Erhebung der Losung für eine neue ArbeiterInnenpartei nicht notwendigerweise, dass RevolutionärInnen die Taktik der kritischen Wahlunterstützung für die traditionellen reformistischen Parteien aufgeben sollen. Die Rolle von RevolutionärInnen ist es, in ArbeiterInnen das Bedürfnis zum Aufbau einer neuen Partei zu erwecken. Solange dieser Prozess nicht sichtbar wird, ist es immer noch nützlich, unsere Wahltaktik an ArbeiterInnen zu richten, die – wenngleich verdrossen – weiterhin für die traditionell refomistischen Parteien als das “kleinere Übel” stimmen.

 

Wir hielten daher in unseren Thesen fest, dass im Allgemeinen “In der Regel bedeutet dies, dass die kritische Wahlunterstützung für nicht-revolutionäre Arbeiterparteien ein legitimes Mittel ist, um so den klassenbewussten Arbeitern zu helfen, ihre Illusionen in die reformistische Führung zu verlieren.[17]

 

Gleichzeitig müssen wir in Rechnung stellen, dass der Niedergang der reformistischen Parteien und ihre wachsende Diskreditierung angesichts ihrer Spar-, Kriegs- und rassistischen Politik, die sie im Zuge ihrer Regierungsbeteiligung umssetzen, immer mehr solcher Brüche mit Teilen der Klassenbasis nach sich zieht. Aus diesem Grund müssen RevolutionärInnen sorgfältig prüfen, unter welchen Bedingungen die fortschrittlichen Teile der ArbeiterInnenklasse die reformistische Partei als Werkzeug zum Widerstand gegen die Angriffe der Bourgeoisie betrachten und wann das nicht mehr der Fall ist und diese ArbeiterInnen sich von der reformistischen Partei abwenden.

 

Letztere Situation ist besonders wahrscheinlich, wenn eine bürgerliche ArbeiterInnenpartei Teil der Regierung ist und als Peitsche oder Exekutor in der Umsetzung schwerer Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse agiert – Sparprogramme, imperialistische Kriege, rassistischer Hass, Angriffe auf demokratische Rechte usw. Eine solche Situation entstand zum Beispiel in Frankreich, als Holland 2015 den Ausnahmezustand ausrief oder in Österreich 2016, als die Regierung – geführt von der Sozialdemokratischen Partei – scharfe Gesetze gegen Flüchtlinge erließ. Ähnliche Situationen bestanden im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends in Britannien, als die von Blair geführte Labour Party zur stärksten Unterstützerin von Bushs imperialistischer Kriegsoffensive im Nahen Osten wurde.

 

Unter solchen Umständen wäre es für RevolutionärInnen falsch, zur Wahlunterstützung für diese reformistischen Parteien aufzurufen. Hier ist vielmehr das Ziel, sich an die Avantgarde der ArbeiterInnen, die bereits mit ihnen gebrochen hat, zu wenden. In solchen Fällen sollen MarxistInnen entweder zur kritischen Unterstützung einer anderen Partei aufrufen, die die Hoffnungen fortschrittlicher ArbeiterInnen und Unterdrückter besser ausdrückt oder, wenn eine solche Partei nicht bei den Wahlen antritt, für ungültige Stimmen aufrufen.

 

Folgendes Beispiel soll unseren Zugang illustrieren. Die österreichische Sektion der RCIT rief bei den Wiener Gemeinderatswahlen im Oktober 2015 zu kritischer Wahlunterstützung für die Sozialdemokratische Partei SPÖ auf. Unsere Position gründete sich – zusätzlich zu den traditionellen Verbindungen der SPÖ zur organisierten ArbeiterInnenklasse – darauf, dass einige Wochen vor der Wahl wichtige Teile der Avantgarde und der ArbeiterInnenklasse rund um diese Partei aktiv wurden. Die Gründe für den Schwenk hin zur SPÖ waren einerseits die Angst vor einem Sieg der rechten rassistischen FPÖ und andererseits die Positionierung der SPÖ als eine Partei, die Flüchtlinge im deutlichen Gegensatz zu der fremdenfeindlichen Position der rechten Rassisten willkommen hieß. Unsere Einschätzung wurde in der Wahl bestätigt, die der SPÖ mehr als 39% der Stimmen brachte.

 

Doch bei der österreichischen Präsidentschaftswahlen im April 2016 riefen wir nicht mehr zu kritischer Unterstützung des SPÖ-Kandidaten auf. Und das deswegen, weil in der Periode, die den Wahlen vom Oktober 2015 gefolgt war, die SPÖ in ihrer Politik diametral umgeschwenkt ist und – als führende Partei in der Koalitionsregierung – eine offen rassistische, gegen die Flüchtlinge gerichtete, Politik eingeführt hat. Folglich wandten sich die Avantgarde und ein großer Teil früherer SPÖ-Wählern von der Partei ab und der SPÖ-Kandidat erhielt nur 11% der Stimmen – ein historisches Tief für diese Partei. [18]

 

Nebenbei soll festgehalten werden, dass die österreichische Sektion der RCIT gewisse erfolgreiche Erfahrungen in der Anwendung der Einheitsfronttaktik gegenüber sozialdemokratischen AktivistInnen verbuchen kann. Zum Beispiel gewann unsere Sektion im Herbst 2014 die Mehrheit der AktivistInnen aus der größten und am stärksten proletarisch ausgerichteten Ortsgruppe der sozialdemokratischen Jugendorganisation in Wien. [19]

 

Mit anderen Worten müssen RevolutionärInnen ihre Wahltaktik in Beziehung zu einem sorgfältigen Studium der politischen Entwicklung der Avantgarde der ArbeiterInnenklasse und ihrer Bereitschaft, mit den traditionellen reformistischen Parteien zu brechen, setzen. Das ist besonders in einer Situation beschleunigter Klassenwidersprüche relevant, wenn die Chance für einen Bruch von Teilen der ArbeiterInnenklasse mit den traditionellen reformistischen Parteien höher ist.

 

Andererseits müssen RevolutionärInnen auch das dynamische Verhältnis der ArbeiterInnenklasse und der reformistischen Parteien genau analysieren, denn unter besonderen Umständen können sich die fortschrittlichen Teile der ArbeiterInnenklasse wieder unter dem Banner der Sozialdemokratie oder des Stalinismus versammeln, im Versuch, eine Verteidigungslinie gegen rechte neoliberale Angriffe zu bilden.

 



[1] RCIT-Thesen zur Einheitsfronttaktik, These 61

[2] Es muss festgehalten werden, dass dieser Schwenk nach links von "besonderer Art" ist, wie man in der gegenwärtigen Welle von Ausschlüsen von AntizionistInnen und KritikerInnen Israels, einschließlich des früheren Bürgermeisters von London wie auch Parlamentsangehörigen, erkennen kann. Siehe dazu z.B. UK: Defend Nazeem Shah and Ken Livingstone against the Pro-Zionist Labour Leadership! Statement of RED LIBERATION (Socialists Active in the Labour Party), 30. April 2016, http://www.thecommunists.net/worldwide/europe/defend-shah-livingstone/; Britain: Defeat Zionism in the Labour Party, Statement by RED LIBERATION, 30. März 2016, http://www.thecommunists.net/worldwide/europe/zionism-labour-party/

[3] Eine der besten Übersichten über die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung stammt von Julius Braunthal: Geschichte der Internationale, 3 Bände, J.H.W. Dietz Nachf., Hannover 1961–1971

[4] Friedrich Engels: Brief an Friedrich Adolph Sorge, 29. November 1886, in: MEW Bd. 36, S. 578f.

[5] W.I. Lenin: Vorwort zur russischen Übersetzung des Buches “Briefe und Auszüge aus Briefen von Joh. Phil. Becker, Jos. Dietzgen, Friedrich Engels, Karl Marx u.a. an F.A. Sorge und andere” (1907), in: LW Bd. 12, S. 363

[6] Siehe Theodore Draper: The Roots of American Communism (1957), Elephant Paperbacks, Chicago 1989, S. 253

[7] Siehe Theodore Draper: The Roots of American Communism, S. 280; siehe auch Theodore Draper: American Communism and Soviet Russia. The Formative Period, The Viking Press, New York 1960, S. 36

[8] Workers Party of America: For a Labor Party: Recent Revolutionary Changes in American Politics: A Statement of the Workers Party, 15. Oktober 1922, New York, 1922, S. 47

[9] Siehe dazu Leon Trotsky: The First Five Years of the Communist International, Vol. I (1924), Author’s 1924 Introduction, New Park Publications, London 1973, S. 12-14; siehe auch Leon Trotsky: The Third International After Lenin (1928), Pathfinder Press, New York 1970, S. 120-123; zum historischen Hintergrund siehe auch die Einführung zum Buch "James P. Cannon and the Early Years of American Communism. Selected Writings and Speeches, 1920-1928", Prometheus Research Library, New York City 1992, S. 21-25

[10] Leo Trotzki: Der Kampf für eine Labor Party in den USA (1938), in: Leo Trotzki: Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale. Das Übergangsprogramm, Arbeiterpresse Verlag, Essen 1997, S. 33-35

[11] Bewegung für eine revolutionär kommunistische Internationale: Thesen zum Reformismus – Die bürgerliche Arbeiterpartei (1987), S. 28f

[12] W.I. Lenin: Der ‘linke Radikalismus’ – die Kinderkrankheit im Kommunismus, in: LW Bd. 31, S. 72

[13] Siehe dazu z.B. Michael Woodhouse and Brian Pearce: Essays on the History of Communism in Britain, New Park Publications, London 1975

[14] W.I. Lenin: Der ‘linke Radikalismus’ – die Kinderkrankheit im Kommunismus, in: LW Bd. 31, S. 75

[15] Leon Trotsky: Once again the ILP (November 1935), in: Trotsky Writings 1935-36, S. 198-199 (Unsere Übersetzung)

[16] Leon Trotsky: Once again the ILP (November 1935), in: Trotsky Writings 1935-36, S. 199 (Unsere Übersetzung)

[17] RCIT-Thesen zur Einheitsfronttaktik, These 60

[18] Siehe dazu die folgenden Stellungnahmen der österreichischen Sektion der RCIT: Österreich: In der Stichwahl: Jetzt Massenproteste organisieren und erneut ungültig wählen, 29.4.2016, http://www.thecommunists.net/home/deutsch/bp-stichwahl-2016-austria/; Österreich: Wahlaufruf zu den Bundespräsidentschaftswahlen 2016: Ungültig wählen, Widerstand organisieren! 21.4.2016, http://www.thecommunists.net/home/deutsch/bp-wahl-2016-austria/; Wien Wahlen 2015: Sieg und Niederlage im selben Zuge, 13.10.2015, http://www.thecommunists.net/home/deutsch/wahlanalyse-2015/

[19] ROTER WIDERSTAND: Erfolgreiche Gründung einer neuen ArbeiterInnenorganisation! Bericht (mit Fotos und Videos) der Revolutionär-Kommunistischen Organisation BEFREIUNG, 10.11.2014, https://www.rkob.net/wer-wir-sind-1/rkob-aktiv-bei/gruendung-roter-widerstand/

 

Marxismus und die Einheitsfronttaktik heute: VII. Revolutionäre Taktik und kleinbürgerlich-populistische Parteien in imperialistischen Ländern

 

 

 

In diesem Kapitel behandeln wir die Einschätzung eines recht neuen Phänomens, das in den letzten Jahren ans in Erscheinung getreten ist – dem Aufkommen kleinbürgerlich-populistischer Parteien in imperialistischen Ländern. Wir meinen damit nicht Parteien wie Respect, die in einem hohen Ausmaß der (kleinbürgerliche) politische Ausdruck des Widerstands von MigrantInnen und nationalen und ethnischen Minderheiten sind. Wir meinen vielmehr Parteien wie Podemos in Spanien, die wir bereits kurz im Kapitel IV beschrieben haben.

 

 

 

Sollen MarxistInnen zu kritischer Wahlunterstützung für Podemos in Spanien aufrufen?

 

 

 

In unseren Thesen zur Einheitsfronttaktik stellten wir fest, dass eine kritische Wahluntertützung auch bei "neuen kleinbürgerlich-populistischen Parteien in imperialistischen Ländern" angewendet werden können. [1] An diesem Punkt diskutierten und bestätigten wir die Anwendbarkeit einer solchen Taktik hinsichtlich Parteien wie Respect (mehr dazu weiter unten im Kapitel VIII). Hier soll diskutiert werden, ob eine solche Taktik auch für neue kleinbürgerlich-populistische Parteien wie Podemos in Spanien legitim ist.

 

Wie oben beschrieben ist Podemos eine neue Partei, die aus der großen Indignados-Bewegung hervorgegangen ist, die 2011 eine starke Rolle gespielt hat. Sie erfährt große Unterstützung in der Mittelschicht, die sich wachsender Arbeitslosigkeit und sozialen Abstieg ausgesetzt sieht. Sie hat auch bedeutende Unterstützung in Teilen der ArbeiterInnenklasse. Das zeigt sich nicht nur in der sozialen Zusammensetzung der Unterstützenden, sondern auch in ihrer politischen Agenda. So räumt Podemos sozialen Themen wie Mindestlohn, Wohnungsmieten und persönlichen Schulden einen hohen Stellenwert ein.

 

Wir behaupten, dass es den Prinzipien von MarxistInnen entspricht, in der gegenwärtigen Lage zu kritischer Wahlunterstützung für Podemos aufzurufen. Podemos spiegelt sowohl den fortschrittlichen Protest von Teilen der unteren Mittelklasse wider, die sich in Richtung Einheit mit der ArbeiterInnenklasse bewegen, wie auch den Protest der mit den hochbürokratisierten und verräterischen offiziellen Führungen (PSOE, die Führungen von UGT und CCOO) unzufriedenen ArbeiterInnen. Diese Merkmale von Podemos wurden durch das rasche Wachstum seiner Mitgliederzahlen in kürzester Zeit – bis zu fast 400.000 Mitgliedern seit der Parteigründung 2014 -, ihre Massendemonstrationen mit mehr als 100.000 Menschen im Jänner 2015 wie auch dem Wachstum von Ortsgruppen in Arbeiterbezirken noch unterstrichen. Außerdem erhält die Partei bedeutende Wahlunterstützung aus der ArbeiterInnenklasse.

 

Es stimmt, dass es gleichzeitig zwei bürgerliche ArbeiterInnenparteien gibt – die sozialdemokratische PSOE und die ex-stalinistische IU. Doch die PSOE wird weitgehend (und korrekterweise) als Partei der herrschenden Klasse betrachtet. Als Ergebnis dessen haben sich die dynamischsten Teile der ArbeiterInnenklasse von der PSOE wegbewegt. Für eine solche Partei zu kritischer Wahlunterstützung aufzurufen, wenn gleichzeitig andere Parteien vorhanden sind, die die Dynamik des kämpferischen Proletariats tatsächlich widerspiegeln, wäre feiger rechter Opportunismus.

 

Im Gegensatz zur PSOE hat sich die IU historisch nicht mit dem herrschenden kapitalistischen System verbündet, sie war nie Teil einer nationalen Koalititonsregierung. Über ihre Verbindungen mit der CCOO bleiben gewisse organische Beziehungen zur ArbeiterInnenklasse, wenngleich diese in den letzten Jahren schwächer geworden sind (parallel zur ebenfalls erfolgten Schwächung der Gewerkschaften selbst). Die IU wendet sich mehr an kämpferische Teile der ArbeiterInnenklasse als die PSOE. Deshalb war die kritische Wahlunterstützung für IU in den letzten Jahren eine zulässige Taktik.

 

Doch die IU konnte die steigende Zahl kämpferischer ArbeiterInnen und Angehöriger aus der unteren Mittelschicht nicht ansprechen und fuhr bei Wahlen substanzielle Verluste ein. In den letzten Wahlen (Dezember 2015) erhielt die IU nur 2,7% der Stimmen. Das kann sich künftig aber auch wieder ändern.

 

Natürlich sollte es keinen Zweifel geben, dass der Fall Podemos eine Ausnahme ist. Im Allgemeinen richten MarxistInnen ihre Wahltaktik in imperialistischen Ländern entweder an ArbeiterInnenparteien oder kleinbürgerliche Parteien, die unterdrückte Schichten (nationale Minderheiten, MigrantInnen) repräsentieren. In Spanien erleben wir die Kombination einer Reihe von Faktoren, die eine Situation schaffen, in der kritische Wahlunterstützung für Podemos legitim ist. Diese Faktoren beinhalten: das Aufkommen der mächtigen Indignados-Bewegung 2011; das Scheitern der IU, radikalisierte Teile der ArbeiterInnen und der Mittelschicht anzusprechen; und parallel dazu der erfolgreiche Aufbau von Podemos als Partei, die die Wünsche dieser Schichten nach radikalem Wandel reflektiert.

 

Außerdem ist es wichtig zu verstehen, dass Parteien wie Podemos ein instabiles Übergangsphänomen sind. Ihr kleinbürgerlicher Charakter und das Fehlen institutionalisierter Verbindungen zu den etablierten Massenorganisationen machen es unwahrscheinlich, dass der Charakter von Podemos so bleibt, wie er derzeit ist. Es ist viel eher wahrscheinlich, dass die Partei entweder einen Schwenk nach rechts vollzieht und so viele ihrer aktiven Mitglieder verliert oder eine Spaltung durchmacht, in der ein Flügel weiter nach links zieht. Eine Spaltung steht bei den bereits gegebenen Uneinigkeiten zwischen der aktuellen Mehrheit um Pablo Iglesias und einer Reihe von Minderheiten keineswegs außer Frage – die wichtigsten davon sind der von den mandelistischen “Anticapitalistas” Teresa Rodríguez und Miguel Urbán geführte Flügel und jener um den Post-Marxisten und Anti-Globalisierungs-Intellektuellen Ínigo Errejón. [2]

 

 

 

Die TrotzkistInnen und die Farmer-Labor Party (FLP) in den USA in den 1930er Jahren

 

 

 

Wir sind uns dessen vollkommen bewusst, dass unsere Taktik bezüglich Podemos eine Erneuerung der marxistischen Taktik in imperialistischen Ländern darstellt. Doch wir denken, dass es zu unserer Taktik historische Vorläufer gibt.

 

Wir schon erklärt, betrachteten Lenin und die Bolschewiki es als legitim, den Sozialrevolutionären, die sich auf die landlose Bauernschaft stützten, aber auch in Teilen der ArbeiterInnenklasse Zulauf genoss, kritische Wahlunterstützung zukommen zu lassen.[3] Wie die Bolschewiki mehrfach erklärten, war Russland zu dieser Zeit ein, wenngleich rückständiges, imperialistisches Land.[4] Man kann dagegen einwenden, dass das kein nützliches Beispiel ist, denn Russland vor 1917 hatte seine bürgerlich-demokratische Revolution noch nicht abgeschlossen und wies immer noch halbfeudale Wirtschaftsstrukturen und einen absolutistischen Staatsapparat auf.

 

Wir weisen also auf ein anderes Beispiel hin: die Farmer-Labor Party (FLP) in den USA. Die FLP stellte in einigen Staaten (z.B. Minnesota) eine Partei mit Masseneinfluß dar. Sie setzte sich aus einer Reihe von Bauernorganisationen zusammen – wie der Non-Partisan League, eine Organisation armer Bauern – wie auch aus lokalen Gewerkschaften. In Minnesota gewann die FLP wiederholt – von 1918 bis 1942 – Wahlen für eine Reihe von US-Kongressabgeordneten wie auch Senatoren. Außerdem wurden Kandidaten der FLP zwischen 1931 und 1939 auch zu Gouverneuren von Minnesota gewählt (Floyd B. Olson, Hjalmar Petersen und Elmer A. Benson).

 

Kurz, die FLP war keine ArbeiterInnenpartei, sondern eher eine “Bauern- und ArbeiterInnenpartei”, d.h. eine klassenübergreifende Partei oder mit anderen Worten, eine kleinbürgerlich-populistische Partei.

 

Unter gewissen Umständen repräsentierte diese populistische Partei einen wichtigen Bruch der ArbeiterInnen und Kleinbauern mit den zwei dominanten kapitalistischen Parteien – den Demokraten und den Republikanern. Unter desen Bedingungen entwickelten die US-TrotzkistInnen in den 1930er Jahren besondere Taktiken gegenüber der FLP. Diese Taktik umfasste einen Aufruf zu kritischer Wahlunterstützung für diese Partei wie auch der Entrismus in die FLP und die Bildung einer revolutionären Fraktion von innen heraus. [5] Farrell Dobbs schreibt in einem Buch über den Kampf der LKW-Fahrer (Teamster):

 

Konfrontiert mit diesen einzigartigen Umständen, entwickelte die Kommunistische Liga von Amerika (wie sich die trotzkistische Organisation damals nannte, M.P.) eine besondere Methode für die politische Arbeit in Minnesota und entschied, dass FLP-Kandidaten um öffentliche Ämter kritische Unterstützung gewährt werden könne. Das bedeutete, dass sie in Wahlkämpfen und gegen ihre kapitalistischen Gegner unterstützt wurden; doch solche Unterstützung bei den Wahlen wurde von Kritik am reformistischen Programm der FLP und der Politik, die die gewählten Abgeordeten verfolgten, begleitet.[6]

 

Eine weitere Konkretisierung dieses Zugangs war Trotzkis Befürwortung einer ArbeiterInnen- und Bauernregierung in den USA, die er als Übergangslosung formulierte, um eine Brücke zu reformistischen und populistischen ArbeiterInnen und Bauern zu bilden: “Für eine Regierung Lewis, Green und LaFollete.” Die beiden ersten waren die zentralen Gewerkschaftsführer und letzterer war ein Populist, der eine starke AnhängerInnenschaft unter den Kleinbauern hatte. Trotzki erklärte diese Losung folgendermaßen:

 

"…man kann dieses Programm nur durch eine Arbeiter- und Bauernregierung verwirklichen. Diese Losung müssen wir populär machen.

 

Frage: Soll diese auch als Übergangsprogramm eingebracht werden, oder ist sie ein Pseudonym für die Diktatur des Proletariats?

 

Trotzki: In unserem Bewusstsein führt sie zur Diktatur des Proletariats. Wir sagen den Arbeitern und Bauern: Ihr wollt Lewis als Präsidenten – gut, das hängt von seinem Programm ab. Lewis und Green und La Follette als Vertreter der Bauern? Auch das hängt vom Programm ab. Wir versuchen das Programm zu konkretisieren, präziser zu machen, dann bedeutet die Arbeiter- und Bauernregierung eine Regierung des Proletariats, die die Bauern führt." [7]

 

Zusammenfassend müssen RevolutionärInnen unter besonderen Umständen die Einheitsfronttaktik – einschließlich Wahlunterstützung und Entrismus – kleinbürgerlich-populistischen Parteien sogar in imperialistischen Ländern gewähren, wie es die US-TrotzkistInnen in den 1930ern taten.

 

 

 

Zum Vergleich: die Grünen in den 1980ern und 1990er Jahren

 

 

 

Kann man gewisse Parallen zu den Grünen Parteien ziehen, die in den 1980er Jahren und danach in Deutschland, Österreich und anderen Ländern entstanden sind? Natürlich gibt es Parallelen. Die Grünen entwickelten sich in den frühen 1980er Jahren aus der Umwelt- und aus der Friedensbewegung. Wir haben – in unseren Vorläuferorganisationen – die Grünen in ihren Anfängen immer als kleinbürgerliche Parteien charakterisiert. Während sie weitgehend fortschrittliche kleinbürgerliche Organisationen waren – ursprünglich wurden sie in Deutschland und Österreich von ehemaligen Maoisten und anderen Linken stark dominiert -, hatten sie nie Verbindungen zur ArbeiterInnenbewegung. Sie hatten auch keine Orientierung auf die brennenden ökonomischen Probleme der ArbeiterInnenklasse: Löhne, Mieten, Sozialleistungen; nichts davon spielte in der Politik der Grünen eine Rolle.

 

Wie wir in früheren Analysen festgehalten haben, wandelten sich die Grünen – nach ihrer anfänglich “radikalen” Periode – von fortschrittlich kleinbürgerlichen Parteien zu offen bürgerlich liberalen Parteien. Seither waren sie in vielen Ländern Teil zahlreicher regionaler und nationaler Koalitionsregierungen.

 

Die Frage, die für uns an diesem Punkt von Interesse ist, ist folgende: wäre es für MarxistInnen legitim gewesen, den Grünen in ihrer Anfangsperiode in den 1980er Jahren, als sie sich als fortschrittlich kleinbürgerliche Parteien gründeten, kritische Wahlunterstützung zu gewähren?

 

Unsere Antwort ist klar und unzweifelhaft: NEIN. Per definitionem gibt es viele Variationen kleinbürgerlicher Parteien. Außer den rechten chauvinistischen Parteien gibt es auch verschiedene Formen kleinbürgerlicher Protestparteien wie die sogenannten “Piraten”. In Italien gibt es die Fünf Sterne-Bewegung, geführt vom bekannten Komödianten Beppe Grillo – eine populistische Partei, die Angriffe auf das korrupte Parlamentssystem mit rassistischen Positionen und einer Allianz im Europäischen Parlament mit der britischen rechten rassistischen UKIP verknüpft. Kritische Wahlunterstützung für eine dieser Parteien wäre für MarxistInnen völlig prinzipienlos, da sie überhaupt keine fortschrittliche politische Mobilisierung des Kleinbürgertums und der Mittelschicht oder gar der ArbeiterInnenklasse darstellen.

 

So war das auch bei den Grünen Parteien in den 1980er Jahren, wie sich in ihrer politischen Agenda (Ignorieren brennender sozialer und ökonomischer Themen der ArbeiterInnenklasse) sowie auch in ihrer WählerInnenbasis zeigte. Während sie auf Universitäten und in Bezirken der Mittelschicht gewisse Erfolge einfahren konnten, lagen sie in den ArbeiterInnenbezirken mit ihren Ergebnissen immer weit unter dem Durchschnitt ihrer Wahlergebnisse.

 

Es gibt auch eine objektive sozial-ökonomische Basis für diese unterschiedliche Entwicklung (verglichen mit Podemos). Als die Grünen entstanden und als fortschrittlich kleinbürgerliche Partei wuchsen, hatte die Mittelklasse in ihrer Mehrheit eine blühende Zukunft vor sich. Heute, angesichts der 2008 begonnenen historischen Krise des Kapitalismus, hat sich das dramatisch geändert. Heute sehen sich bedeutende Teile der Mittelschicht Arbeitslosigkeit und beträchtlichem sozialem Abstieg gegenüber. Es ist daher nicht überraschend, dass Podemos Teile der unteren Mittelschicht ebenso wie ArbeiterInnen mit Themen wie Mindestlohn, Wohnkosten und Schulden als Zentrum ihrer Politik anspricht.

 

Zusammengefasst: im Allgemeinen weist die RCIT Wahlunterstützung für kleinbürgerliche Parteien in imperialistischen Ländern zurück. Der Fall Podemos ist eine Ausnahme aufgrund besonderer Umstände der neuen historischen Periode und der politischen Konstellation in Spanien (Indignados-Bewegung, Scheitern der IU in der Anziehung radikalisierter Teile der Arbeiterinnen und der unteren Mittelschicht usw.).

 



[1] RCIT-Thesen zur Einheitsfronttaktik, These 63

[2] Siehe dazu z.B. François Sabado: Podemos – eine neue Bewegung, Referat auf einer Veranstaltung der „Société Louise Michel“ (Mai 2015 in Paris)

[3] Gemäß einer ausgezeichneten Studie zur sozialen Zusammensetzung der S.R. waren fast 50% der ParteiaktivistInnen Arbeiter oder Handwerker. (Maureen Perriea: The social composition and structure of the socialist‐revolutionary party before 1917, in: Soviet Studies Vol. 24, Issue 2, 1972, S. 241)

[4] Mit dem Wesen des russischen Imperialismus haben wir uns in diversen Schriften auseinandergesetzt. Siehe z.B. verschiedene Arbeiten von Michael Pröbsting: Lenin’s Theory of Imperialism and the Rise of Russia as a Great Power. On the Understanding and Misunderstanding of Today’s Inter-Imperialist Rivalry in the Light of Lenin’s Theory of Imperialism. Another Reply to Our Critics Who Deny Russia’s Imperialist Character, August 2014, http://www.thecommunists.net/theory/imperialism-theory-and-russia/; Russia as a Great Imperialist Power. The formation of Russian Monopoly Capital and its Empire – A Reply to our Critics, 18. März 2014, in: Revolutionary Communism No. 21, http://www.thecommunists.net/theory/imperialist-russia/; Russia and China as Great Imperialist Powers. A Summary of the RCIT’s Analysis, 28 March 2014, in: Revolutionary Communism No. 22, http://www.thecommunists.net/theory/imperialist-china-and-russia/; More on Russia and China as Great Imperialist Powers. A Reply to Chris Slee (Socialist Alliance, Australia) and Walter Daum (LRP, USA), 11. April 2014, in: Revolutionary Communism No. 22, http://www.thecommunists.net/theory/reply-to-slee-on-russia-china/

[5] Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der FLP in Minnesota, den Gewerkschaften wie auch der Arbeit der TrotzkistInnen ist zu finden in Farrell Dobbs’ vier Bänden: Teamster Rebellion, Teamster Power, Teamster Politics und Teamster Bureaucracy (alle veröffentlicht bei Pathfinder Press zwischen 1972 und 1977). Siehe auch Kristoffer Smemo: The Politics of Labor Militancy in Minneapolis, 1934-1938; University of Massachusetts 2014.

[6] Farrell Dobbs: Teamsters Politics, Monad Press, New York 1975, S. 64, siehe auch S. 110-111

[7] Leo Trotzki: Der Kampf für eine Labor Party in den USA (1938), in: Leo Trotzki: Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale. Das Übergangsprogramm, Arbeiterpresse Verlag, Essen 1997, S. 33. Trotzki wiederholte diesen Gedanken in einer anderen Diskussion mit US-amerikanischen GenossInnen am 29. Juli 1938. (Siehe Leo Trotzki: “Für eine Arbeiter- und Bauernregierung”, in: Leo Trotzki: Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale, Arbeiterpresse Verlag, Essen 1997, S. 197)

 

Marxismus und die Einheitsfronttaktik heute: VIII. Die Einheitsfronttaktik und der Befreiungskampf der nationalen Minderheiten und MigrantInnen in den imperialistischen Ländern

 

In unseren Thesen haben wir herausgearbeitet, dass es oft der Fall ist, dass kleinbürgerlich-nationalistische Kräfte eine einflussreiche Rolle unter nationalen oder ethnischen Minderheiten und MigrantInnen in imperialistischen Ländern spielen. Um ein paar Beispiele zu nennen: die Black Panthers in den USA der späten 1960er und frühen 1970er Jahren; die zahlreichen Kräfte, die sich heute in der #BlackLiveMatters-Bewegung engagieren; die puertoricanischen Nationalisten in den USA; Sinn Feín und die IRA in Nordirland während ihres Kampfs gegen die britische Besatzung bis 1998; Herri Batasuna im Baskenland; und Candidatura d’Unitat Popular CUP in Katalonien in Spanien.

 

Zunehmende Mobilisierung nationaler/ethnischer Minderheiten und MigrantInnen zu demokratischen Fragen

 

Unsere traditionelle Position war, kleinbürgerlich nationalistischen Kräften, die in Konfrontation zum imperialistischen Staat standen, kritische Unterstützung zu geben. Deshalb rief unsere Vorläuferorganisation in Britannien, Workers Power, traditionell zu Unterstützung für Sinn Feín und die IRA auf, die an der Spitze des irischen nationalen Befreiungskampfs gegen die britische Besatzung standen. Diese Anwendung der Einheitsfronttaktik beinhaltete auch eine kritische Unterstützung für Sinn Feín bei Wahlen.[1] Natürlich wurde diese Taktik beendet, als die Führung von Sinn Feín/IRA um Gerry Adams vor dem britischen Imperialismus mit der Unterzeichnung des Good Friday Agreements 1998 kapitulierte.

Angesichts der Bedeutung des Befreiungskampfs der unterdrückten Nationen – d.h. der nationalen und ethnischen Minderheiten (einschließlich MigrantInnen) - in imperialistischen Ländern ist es klar, dass ein solcher Zugang verallgemeinert werden muss. Der wachsende Anteil von MigrantInnen in der ArbeiterInnenklasse der imperialistischen Länder, das Ansteigen des Rassismus, der Ausbau des Polizeistaats und bonapartistischer Regierungsformen, die darauf folgenden Angriffe auf demokratische Rechte – all das garantiert, dass der Kampf gegen nationale Unterdrückung (wie auch für demokratische Rechte ganz allgemein) zu einem Schlüsselthema des politischen Kampfs im frühen 21. Jahrhunderts wurdr. Wie wir in unserer Broschüre zur Bedeutung der Theorie der permanenten Revolution in imperialistischen Ländern ausführten, erleben wir heute ein rapides Wachsen der Bedeutung der demokratischen Frage.

Während im 19. Jahrhundert die Demokratie noch durch den vorkapitalistischen Adel, die absolutistische Bürokratie und die opportunistische Bourgeoisie unterdrückt oder bedroht war, wird sie heute durch das imperialistische Monopolkapital und seine Lakaien in den halbkolonialen Ländern bedroht. Heute gibt es keine halb-feudalen Produktionsweisen in den imperialistischen Ländern, doch das heißt keineswegs, dass wir es mit einem 'puren' Kapitalismums zu tun fätten. Was wir vielmehr sehen, ist ein niedergehender, faulender imperialistischer Kapitalismus. Ein solches System schafft neue Widersprüche und verschärft die schon lang bestehenden. Mit der Beschleunigung der reaktionären Offensive der imperialistischen Bourgeoisie werden auch die unmittelbaren und demokratischen Forderungen zu einem zunehmend wichtigen Teil des Programms der permanenten Revolution innerhalb der imperialistischen Länder.[2]

Trotzkis Stellungnahme zur durch und durch reaktionären Rolle des Imperialismus ist höchst bedeutsam: “Während der Imperialismus in den alten kapitalistischen Mutterländern die Demokratie zerstört, hemmt er in der selben Zeit die Entwicklung der Demokratie in den zurückgebliebenen Ländern.” [3]

Wie bereits erwähnt haben kleinbürgerliche Nationalisten unterdrückter Nationen in den letzten Jahren in Spanien eine wichtige Rolle gespielt. Eine weitere wichtige Entwicklung war die politische Bewegung von migrantischen ArbeiterInnen (meist Latinos) in den USA, die für Rechte für illegale MigrantInnen kämpfen. Diese Bewegung resultierte zwischen März und Mai 2006 in Massenproteste mit einem Generalstreik am 1. Mai desselben Jahres als Höhepunkt. [4]

Eine der wichtigsten politischen Bewegungen in Europa während der letzten 15 Jahre war die Anti-Kriegsbewegung, die mit dem Irakkrieg 2003 zu einem riesigen Massenphänomen geworden ist. Zu dieser Zeit nahmen Millionen von MigrantInnen – vor allem solche mit muslimischem Hintergrund – an Massendemonstrationen teil. Später gab es weiter Massenproteste mit einem hohen Anteil muslimischer MigrantInnen. Sie konzentrierten sich meist auf die Solidarität mit Palästina während der Gazakriege 2008/09, 2010 (der israelische Angriff auf die Gaza-Freiheitsflotte), 2012 und 2014. Dazu kommen zahlreiche Aktionen von Migrantenorganisationen in Solidarität mit der Arabischen Revolution (v.a. für Syrien und Ägypten). Weiters haben MigrantInnen wie auch nationale und ethnische Minderheiten in den letzten 15 Jahren eine wichtige Rolle in der Mobilisierung gegen Polizeigewalt und Rassismus gespielt.

Alle diese Mobilisierungen zeigten die Bedeutung von Migrantenorganisationen für demokratische und antiimperialistische Kämpfe in Europa und Nordamerika.

 

Die Erfahrung der österreichischen Sektion der RCIT

 

Somit war es für MarxistInnen Pflicht, bei diesen Organisationen die Einheitsfronttaktik anzuwenden. Die österreichische Sektion der RCIT tut dies seit vielen Jahren. Wir haben immer aktiv an Aktivitäten gegen imperialistische Kriege wie auch in Solidarität mit Palästina und der Arabischen Revolution teilgenommen. Im Gegensatz zu allen Zentristen weisen wir einen arroganten sozialimperialistischen Zugang zu den MigrantInnen und deren Organisationen, die von den Zentristen als “rückständig” vererachtet werden, zurück. Diese Zentristen vergessen, wie rückständig im politischen Sinn des Wortes die Linke in ihrer nahezu vollständig weißen Mittelschichtszusammensetzung und ihrer Anpassung an sozialimperialistisch kleinbürgerliche Vorurteile ist![5] Wir nennen dieses Phänomen den “Aristokratismus” der reformistischen und zentristischen Linken. Nebenbei bemerkt ignorierte nicht nur die österreichische Linke immer diese Mobilisierungen gegen imperialistische Kriege und die Solidarität mit Palästina und der Arabischen Revolution, sondern auch die türkische und kurdische migrantische Linke. [6]

Die Kombination unserer anti-zionistischen Positionen, unserer Solidarität mit der Arabischen Revolution und unserer praktischen Orientierung auf die untere Schicht der ArbeiterInnenklasse (einschließlich der MigrantInnen) hat seitens der meisten Teile der reformistischen und zentristischen Linken wie auch seitens des bürgerlichen Staats eine starke Feindschaft gegen unsere Organisation hervorgerufen. Das hat einerseits zu Versuchen des Staats geführt, Führer der österreichischen Sektion zu verfolgen – z.B. die Versuche, Johannes Wiener (2012/13) und Michael Pröbsting (2016) vor Gericht zu stellen – wie auch versuchte körperliche Angriffe auf uns bei Demonstrationen durch zionistische Mitglieder sozialdemokratischer und stalinistischer Jugendorganisationen sowie auch aus dem autonomen Milieu. [7]

Auch wurde an der Universität Wien eine verleumderische akademische Schrift, geschrieben von einem früheren Mitglied der Studentenorganisation der Kommunistischen Partei, veröffentlicht – mit dem Titel: “Kindermörder Israel! Antizionismus und Antisemitismus in sozialistischen und antiimperialistischen Gruppen in Österreich anhand der Beispiele RKOB und (Neue) Linkswende”. [8]

Natürlich erlebten wir eine Reihe von Hürden in unserer Arbeit. Als KommunistInnen sahen wir uns anfänglich Misstrauen seitens der MigrantInnen und einer Feindschaft seitens ihrer Führungen gegenüber. Doch wir nahmen regelmäßig als aktive Kraft an ihren Mobilisierungen teil und konnten so das Misstrauen vieler MigrantInnen überwinden. Wir mussten mehrere kühne Manöver und Konfrontationen mit verschiedenen Führern von Migrantenorganisationen durchstehen, die uns nicht auf ihren Demonstrationen und Kundgebungen öffentlich sprechen lassen wollten. Doch allmählich gelang es uns, uns einen Ruf in einigen Migrantengemeinschaften zu erarbeiten, was zu Einladungen zu ihren Veranstaltungen führte und sogar dazu, dass wir nun oft gebeten werden, dort zu sprechen. Gleichzeitig haben wir in unserer Propaganda unsere politische Kritik an verschiedenen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kräften, die in eben diesen MigrantInnengemeinschaften starken Einfluss haben, nicht verschleiert.

Wir wollen ein Beispiel zur Verbesserung unserer Position in einer Reihe von Migrantengemeinden anführen: Am 2. Februar 2015 fand in Wien eine Massendemonstration gegen eine kleine Kundgebung rechter Rassisten statt, die von einer breiten Allianz fast aller Zentristen und Linksreformisten initiiert worden war. Die führenden Kräfte unter ihnen – sozialdemokratische Jugend- und Studentenorganisationen wie auch Stalinisten – waren sich einig, die österreichische Sektion der RCIT unter keinen Umständen mit einem Redner auf dieser Demonstrationen zuzulassen. Zu ihrem Pech mussten sie den großen muslimischen Migrantenorganisationen das Rederecht für zwei Redner einräumen. Zum Erstaunen und zur Bestürzung der Zentristen und Linksreformisten nominierten die muslimischen Migrantenorganisationen einen jungen ägyptischen Bruder und … Michael Pröbsting, den internationalen Sekretär der RCIT, als ihre Redner! Die muslimischen Organisationen waren sich natürlich darüber im Klaren, dass Genosse Pröbsting ein Kommunist und ein Atheist ist, doch durch unsere Solidaritätsarbeit zu antirassistischen und antiimperialistischen Themen in den letzten 15 Jahren haben wir uns einen Ruf als ernsthafte AktivistInnen erarbeitet. [9]

Als einige Migrantenorganisationen 2015 für die Gemeinderatswahlen im Wien eine Liste bildeten, luden uns einige davon ein, uns auch auf die Liste zu setzen. Letztendlich scheiterte das Projekt, weil ein paar bürgerliche Migrantenführer diese Liste dominieren konnten und das Projekt weg von einer kämpferischen demokratischen Orientierung hin zu einer liberal-opportunistischen trieben. Daher nahmen wir an diesem Projekt nicht teil.[10] Nichtsdestotrotz zeigt auch diese Entwicklung, welchen Respekt wir über die Jahre erworben haben.

Wir glauben, dass RevolutionärInnen grundsätzlich die Bildung neuer politischer Kräfte, die den Kampf von MigrantInnen gegen Rassismus und für ihre Rechte zu ihrem Thema machen, ermutigen und unterstützen sollen. Außerdem sollen RevolutionärInnen zu einem solchen Prozess hinsichtlich der brennendsten Themen im Kampf der Unterdrückten eine revolutionäre Perspektive beitragen. Sie sollten auch versuchen, die Liste zu erweitern, um fortschrittliche Teile der ArbeiterInnenbewegung, die MigrantInnen als gleichberechtigte PartnerInnen akzeptieren können, dafür zu gewinnen.

All diese Erfahrungen zeigen, dass es für KommunistInnen tatsächlich möglich ist, eine systematische Einheitsfrontarbeit mit Migrantenorganisationen zu engagieren. Unsere Orientierung auf diese Teile der ArbeiterInnenklasse half uns sogar bei der Gewinnung einer beträchtlichen Anzahl von MigrantInnen für unsere Organisation.

Eine solche Orientierung ist für uns als Bolschewiki-Kommunisten zentral, denn wir erachten es als äußerst wichtig, eine Organisation aufzubauen, die nicht nur für die Interessen der ArbeiterInnenklasse kämpft, sondern auch mit den ArbeiterInnen und durch die ArbeiterInnen. Wenn wir über ArbeiterInnen sprechen, meinen wir natürlich nicht die obere privilegierte Schicht – die Arbeiteraristokratie -, sondern vielmehr die große Mehrheit der Klasse, d.h. die “Masse der proletarischen Elemente”, wie die Komintern es ausdrückte.

Mit anderen Worten, eine wahrhaft revolutionäre Organisation muss sich auf die unteren und mittleren Schichten der ArbeiterInnenklasse orientieren, bei denen in imperialistischen Ländern die MigrantInnen einen entscheidenden Teil ausmachen. Wir haben mehrfach die Notwendigkeit für eine solche Orientierung und die Unterstützung dafür in den Schriften der marxistischen Klassiker erklärt.[11] Hier beschränken wir uns auf ein Zitat von Leo Trotzki:

Die amerikanischen Arbeiterparteien, Gewerkschaften usw. zeichnen sich durch einen aristokratischen Charakter aus. Dies ist die Grundlage für den Opportunismus. Der Facharbeiter, der sich in der kapiatlsitischen Gesellschaft heimisch fühlt, hilft der Bourgeoisie die Schwarzen und die unqualifizierten Arbeiter nieder zu halten. Unsere Partei ist vor einer Degeneration nicht gefeit wenn sie Platz bietet für die Intellektuellen, die Halbintellektuellen, die Facharbeiter und die jüdischen Arbeiter, die für sich ein geschlossenes Milieu darstellen, das von der wirklichen weitgehend isoliert ist. Unter diesen Bedingungen kann sich unsere Partei nicht entwickeln – sie wird degenerieren. Wir müssen diese große Gefahr immer vor unseren Augen haben. Ich habe viele Male vorgeschlagen, daß jedes Mitglied unserer Partei, v.a. die Intellektuellen und Halbintellektuellen, die sagen wir in einer Zeit von sechs Monaten nicht in der Lage sind einen Arbeiter als Parteimitglied zu gewinnen, in den Status eines Sympathisanten zurückgestuft werden sollten. Wir können das gleiche hinsichtlich der Negerfrage sagen. Die alten Organisationen, angefangen mit der AFL, sind Organisationen der Arbeiteraristokratie. Unsere Partei ist Teil dieses Milieus und nicht jenes der ausgebeuteten Massen, unter denen die Neger die am meisten ausgebeuteten Elemente darstellen. Die Tatsache, daß unsere Partei bislang sich nicht der Negerfrage zugewandt hat, ist ein äußerst beunruhigendes Symptom. Wenn die Arbeiteraristokratie die Basis für den Opportunismus ist, eine der Ursachen für die Anpassung an die kapitalistische Gesellschaft, dann sind die am meisten Unterdrückten und Benachteiligten das dynamischste Milieu der Arbeiterklasse. Wir müssen zu den bewußten Teilen der Neger sagen, daß sie aufgrund der geschichtlichen Entwicklung dazu berufen sind, einen Avantgarde der Arbeiterklasse zu werden. Was sind die Hindernisse der oberen Schichten? Es sind die Privilegien, der Komfort, der sie daran hinder Revolutionäre zu werden. So etwas existiert nicht für die Neger. Was kann eine gewisse Schicht dazu bringen, mehr Mut und Opferbereitschaft zu zeigen? Es findet sich unter den Negern. Wenn es uns in der SWP nicht gelingt, Zugang zu dieser Schicht zu finden, dann sind wir nichts wert. Die permanente Revolution und all das wäre nur eine Lüge.[12]

 

Britannien: Respect als kleinbürgerlich-populistische Partei mit einer starken Basis unter den nationalen/ethnischen Minderheiten und MigrantInnen

 

Ein ausführlicheres Beispiel dieser möglichen Entwicklungen ist die Respect-Partei in Britannien unter George Galloway. Wie bereits erwähnt gelang es dieser kleinbürgerlich-populistischen Partei – in einigen Wahlbezirken –, bedeutende Unterstützung in Migrantengemeinden und bei nationalen und ethnischen Minderheiten zu gewinnen. Leider ignorierte unsere Vorläuferorganisation in Britannien, Workers Power, die Bedeutung von Respect als radikalen politischen Ausdruck des demokratischen und antiimperialistischen Kampfs von einigen der am stärksten unterdrückten Teilen der ArbeiterInnenklasse. Folglich verweigerte sie dieser Partei kritische Wahlunterstützung und versäumte es auch, Entrismusarbeit innerhalb von Respect in Betracht zu ziehen. Das war natürlich ein Fehler. Unserer Meinung nach ist es gerechtfertigt, Kandidaten von Respect in Bezirken, in denen sie Wurzeln in den Massen haben, kritische Wahlunterstützung zu gewähren. Folglich rief die RCIT in Britannien für den Respect-Führer George Galloway als Kandidaten von Bradford West in den Parlamentswahlen 2015 zu kritischer Wahlunterstützung auf.

Es ist zwecklos, im Nachhinein zu diskutieren, ob eine Entrismustaktik in Respect in den ersten Jahren nach seiner Gründung 2004 korrekt gewesen wäre. Eine solche Entscheidung hängt notwendigerweise von vielen konkreten Umständen ab. Doch es wäre für RevolutionärInnen sicher nicht prinzipienlos gewesen, dies zu tun, denn es hätte dabei helfen können, engere Verbindungen zu MigrantInnen und nationalen und ethnischen Minderheiten zu erhalten.

 

Ein nützlicher Vergleich: Trotzki zu Organisationen der schwarzen Minderheit in den USA

 

Unsere Darlegungen einer revolutionären Strategie gegenüber Migrantenorganisationen und die Anwendung der Einheitsfronttaktik knüpfen an den trotzkistischen Zugang zum Befreiungskampf der schwarzen Minderheit in den USA an. In ihrer entwickeltsten Form fanden Trotzkis Ideen ihren Ausdruck in seinen Diskussionen mit dem schwarzen Revolutionär C.L.R. James, die im Sommer 1939 stattfanden.

In diesen Diskussionen erarbeiteten C.L.R. James und Trotzki einige Gedanken dazu, wie die US-amerikanische Sektion der Vierten Internationale Initiative ergreifen könnte, um eine Massenorganisation für die Schwarzen zu gründen. Sie berücksichtigten die politische “Rückständigkeit” der Massen der Schwarzen als Ergebnis ihrer historischen Unterdrückung. Trotzki merkte an:

"Euer Projekt wäre so etwas wie eine vor-politische Schule. Woraus ergibt sich die Notwendigkeit? Hier gibt es zwei grundlegende Faktoren: die große Massen der Neger sind so rückständig und so unterdrückt, das ist es jederzeit als Neger fühlen. Wir müssen die Möglichkeit finden, die Gefühl einen politisch-organisatorischen Ausdruck zu verleihen. Man kann einwenden, daß wir in Deutschland oder in England nicht solche halb-politischen, halb-gewerkschaftlichen oder halb-kulturellen Organisationen haben. Darauf antworten wir, daß wir uns an die wirklichen Massen der Neger in den USA anpassen müssen." [13]

Er erachtete es auch für möglich, einen Kandidaten einer schwarzen nicht-revolutionären Organisation bei den Wahlen zu unterstützen, selbst wenn ein solcher Kandidat Mitglied einer bürgerlichen Partei ist (wie der Demokratischen Partei):

Es ist die Frage einer anderen Organisation, für die wir keine Verantwortung übernehmen so wie sie nicht für unsere Organisation verantworlich sind. Wenn diese Organisation einen Kandidaten aufstellt und wir als Partei der Meinung sind, daß wir unseren eigenen Kandidaten in Opposition dazu aufstellen sollen, so haben wir jedes Recht dazu. Wenn wir schwach sind und die Organisation nicht dazu bewegen können, einen Revolutionär aufzustellen und sie stellen einen schwarzen Demokraten auf, dann können wir sogar unseren Kandidaten zurückziehen mit einer konkreten Erklärung, daß wir davon absehen, den Schwarzen (nicht aber den Demokraten) zu bekämpfen. Wir erachten es als einen wichtigen Faktor, wenn ein Schwarzer gegen einen Weißen kandidiert, selbst wenn sie Mitglieder der gleichen Partei sind, für den Kampf der Schwarzen für Gleichberechtigung und in einem solchen Fall können wir ihm kritische Wahlunterstützung gewähren. Ich denke, daß man dies unter bestimmten Bedingungen tun kann.[14]

Wir glauben, dass Trotzkis Betrachtungen für die heutige marxistische Strategie bezüglich Migrantenorganisationen in imperialistischen Ländern höchst relevant sind. Solchen Organisationen muss man sich auf Basis einer Einheitsfront nähern, um sie zu gemeinsamen Kämpfen zu bewegen – v.a. gegen Rassismus und staatliche Unterdrückung wie auch für Solidaritätsaktivitäten (z.B. mit der Arabischen Revolution und dem palästinensischen Befreiungskampf). Eine solche Strategie ist für RevolutionärInnen entscheidend, um die untersten und am meisten unterdrückten Schichten der ArbeiterInnenklasse in den imperialistischen Metropolen enger an sich zu ziehen.

 

Exkurs: Lenin zur Rolle der Partei als Avantgarde aller unterdrückten Klassen

 

Es gibt unter vielen MarxistInnen ein weitverbreitetes Missverständnis, dass RevolutionärInnen nur am Kampf der ArbeiterInnen interessiert sein sollten, aber nicht an dem anderer unterdrückter Klassen. Ein solcher Gedanke ist ein völliger Widerspruch zu den Lehren der marxistischen Klassiker.

Die ganze Konzeption des Marxismus basiert auf dem Verständnis, dass der Kapitalismus nicht nur ein Wirtschaftssystem mit Politik, Gesellschaft, Ideologie usw. als Anhängsel ist. Vielmehr interagieren diese Aspekte und beeinflussen einander, wobei natürlich – wie schon Friedrich Engels betonte – der entscheidende letztlich die Ökonomie ist.

Wir sehen die ökonomischen Bedingungen als das in letzter Instanz die geschichtliche Entwicklung Bedingende an. (…) Nun sind hier aber zwei Punkte nicht zu übersehen: a) Die politische, rechtliche, philosophische, religiöse, literarische, künstlerische etc. Entwicklung beruht auf der ökonomischen. Aber sie alle reagieren auch aufeinander und auf die ökonomische Basis. Es ist nicht, dass die ökonomische Lage Ursache, allein aktiv ist und alles andere nur passive Wirkung. Sondern es ist Wechselwirkung auf Grundlage der in letzter Instanz stets sich durchsetzenden ökonomischen Notwendigkeit.” [15]

Folglich verstehen MarxistInnen, dass der Klassenkampf nicht nur auf wirtschaftlicher Ebene existiert, sondern auch auf allen anderen Ebenen – politisch, ideologisch, kulturell usw. Engels strich das im Vorwort von 1874 zu seinem Buch Der deutsche Bauernkrieg heraus:

Man muss den deutschen Arbeitern nachsagen, dass sie die Vorteile ihrer Lage mit seltnem Verständnis ausgebeutet haben. Zum erstenmal, seit eine Arbeiterbewegung besteht, wird der Kampf nach seinen drei Seiten hin – nach der theoretischen, der politischen und der praktisch-ökonomischen (Widerstand gegen die Kapitalisten) – im Einklang und Zusammenhang und planmäßig geführt. In diesem sozusagen konzentrischen Angriffe liegt gerade die Stärke und Unbesiegbarkeit der deutschen Bewegung.[16]

Ein derartiger Zugang ist nur gewährleistet, wenn RevolutionärInnen alle Widersprüche der kapitalistischen Klassengesellschaft miteinbeziehen und sie in eine umfassende revolutionäre Strategie integrieren. Das war auch der Gedanke hinter Trotzkis Übergangsprogramm, wie die deutschen Bolschewiki-Leninisten in einem der vorbereitenden Dokumente zum Gründungskongress der Vierten Internationale festhielten. [17]

Lenin betonte, dass RevolutionärInnen die Unterdrückung anderer Klassen durch die herrschende Klasse nicht übersehen dürfen, sondern auch dagegen kämpfen und mit dem proletarischen Befreiungskampf verbinden müssen. Er verurteilte diese reduktionistischen Ökonomen scharf, die alle nicht-proletarischen Klassen als “reaktionär” charakterisierten.

Das Proletariat muss die Bildung selbständiger politischer Arbeiterparteien anstreben, deren Hauptziel die Ergreifung der politischen Macht durch das Proletariat zwecks Aufbau der sozialistischen Gesellschaft sein muss. Die anderen Klassen und Parteien soll das Proletariat keineswegs als ‚eine reaktionäre Masse’ betrachten: es muss im Gegenteil am gesamten politischen und gesellschaftlichen Leben teilnehmen, die fortschriftlichen Klassen und Parteien gegen die reaktionären unterstützen, jede revolutionäre Bewegung gegen die bestehende Ordnung unterstützen, der Verteidiger jeder unterdrückten Völkerschaft oder Rasse, jeder verfolgten Glaubenslehre, des rechtlosen Geschlechts usw. sein.“ [18]

Daraus erwächst für BolschewistInnen die Verpflichtung, nicht nur im Proletariat systematische Propaganda und Agitation zu betreiben, sondern auch in den anderen unterdrückten Klassen und Schichten.

Man kann nicht genug betonen, dass das noch nicht Sozialdemokratismus ist, dass das Ideal eines Sozialdemokraten nicht der Sekretär einer Trade-Union, sondern der Volkstribun sein muss, der es versteht, auf alle Erscheinungen der Willkür und Unterdrückung zu reagieren, wo sie auch auftreten mögen, welche Schicht oder Klasse sie auch betreffen mögen, der es versteht, an allen diesen Erscheinungen das Gesamtbild der Polizeiwillkür und der kapitalistischen Ausbeutung zu zeigen, der es versteht, jede Kleinigkeit zu benutzen, um vor aller Welt seine sozialistischen Überzeugungen und seine demokratischen Forderungen darzulegen, um allen und jedermann die welthistorische Bedeutung des Befreiungskampfes des Proletariats klarzumachen. “ [19]

Lenin gab ein paar konkrete Beispiele für solche Kämpfe nicht-proletarischer unterdrückter Schichten:

Die Rede war von der möglichen und notwendigen Teilnahme der verschiedenen Gesellschaftsschichten am Sturz der Selbstherrschaft und diese ‘aktive Tätigkeit der verschiedenen oppositionellen Schichten’ können wir nicht nur, sondern müssen wir unbedingt leiten, wenn wir die ‘Avantgarde’ sein wollen. Dass unsere Studenten, unsere Liberalen usw. ‘Auge in Auge unserem politischen Regime gegenüberstehen’, dafür werden nicht nur sie selber sorgen, wer dafür sorgen wird, das werden vor allem und in erster Linie die Polizei und die Beamten der absolutistischen Regierung sein. Aber ‘wir’ müssen, wenn wir fortgeschrittene Demokraten sein wollen, dafür sorgen, dass die Leute, die eigentlich nur mit den Zuständen an der Universität oder in den Semstwos usw. unzufrieden sind, auf den Gedanken von der Untauglichkeit des gesamten politischen Regimes gestoßen werden. Wir müssen die Aufgabe auf uns nehmen, einen solchen allseitigen politischen Kampf unter Leitung unserer Partei zu organisieren, damit alle oppositionellen Schichten diesen Kampf und diese Partei nach Maßgabe ihrer Kräfte unterstützen können und es auch wirklich tun. Wir müssen aus den Praktikern der Sozialdemokratie politische Führer heranbilden, die imstande sind, diesen allseitigen Kampf in all seinen Erscheinungsformen zu leiten, die imstande sind, im gegebenen Moment sowohl den rebellierenden Studenten und unzufriedenen Semstwoleuten als auch den empörten Sektenanhängern, den benachteiligten Volksschullehrern usw. usf. ‘ein positives Aktionsprogramm zu diktieren’.” [20]

Natürlich würden sich RevolutionärInnen heute nicht mit “den Zemstvo-Leuten” befassen, sondern stattdessen mit unterdrückten Nationalitäten, dem Kampf der Frauen usw. Ebenso sind die Beispiele Lenins auch relevant für z.B. die Proteste kleinbürgerlicher UniversitätsstudentInnen, unterdrückter religiöser Minderheiten wie die muslimischen MigrantInnen in Europa usw.

Lenin prangerte die ökonomistischen Kritiker an, die die Unterstützung für Proteste nicht-proletarischer unterdrückter Schichten ablehnen, weil das angeblich den revolutionären Klassenkampf verwässern würde:

Müssen wir es aber übernehmen, eine wirklich vom ganzen Volk ausgehende Entlarvung der Regierung zu organisieren, worin drückt sich dann der Klassencharakter unserer Bewegung aus? (…) Eben darin, dass wir, die Sozialdemokraten, diese vom ganzen Volk ausgehende Entlarvung organisieren; darin, dass alle durch die Agitation aufgerollten Fragen in streng sozialdemokratischem Geiste, ohne die geringste Nachsicht gegen beabsichtigte und unbeabsichtigte Entstellungen des Marxismus erläutert werden; darin, dass diese allseitige politische Agitation von einer Partei geführt wird, die zu einem untrennbaren Ganzen vereinigt: sowohl den Ansturm gegen die Regierung im Namen des ganzen Volkes als auch die revolutionäre Erziehung des Proletariats bei gleichzeitiger Wahrung seiner politischen Selbständigkeit, sowohl die Leitung des ökonomischen Kampfes der Arbeiterklasse als auch die Ausnutzung jener spontanen Zusammenstöße des Proletariats mit seinen Ausbeutern, die immer neue Schichten des Proletariats aufrütteln und für uns gewinnen![21]

Manche stellen dem entgegen, dass dieser Zugang Lenins nur für rückständige kapitalistische Länder gilt, die noch keine bürgerlich-demokratische Revolution erfahren haben. Auch das ist kompletter Unsinn. Lenins Haltung war sehr eindeutig, dass MarxistInnen Unterdrückung abseits der ökonomischen Ebene oder von nicht-proletarischen Schichten in imperialistischen Ländern nicht ignorieren dürfen.

Wir haben bereits in unserer Broschüre zur demokratischen Frage in imperialistischen Ländern erwähnt, wie die imperialistische Bourgeoisie den Chauvinismus, Militarismus und Bonapartismus in der gegenwärtigen Periode beschleunigt und dabei besonderes Augenmerk auf den Kampf um demokratische Rechte legt.

Lenin selbst wies darauf hin: „Der politische Überbau über der neuen Ökonomik, über dem monopolistischen Kapitalismus (Imperialismus ist monopolistischer Kapitalismus) ist die Wendung von der Demokratie zur politischen Reaktion. Der freien Konkurrenz entspricht die Demokratie. Dem Monopol entspricht die politische Reaktion. ‚Das Finanzkapital will nicht Freiheit, sondern Herrschaft’, sagt Rudolf Hilferding völlig richtig in seinem ‚Finanzkapital’. Die ‚Außenpolitik’ von der Politik schlechthin zu trennen oder gar die Außenpolitik der Innenpolitik entgegenzustellen ist grundfalsch, unmarxistisch, unwissenschaftlich. Sowohl in der Außenpolitik wie auch gleicherweise in der Innenpolitik strebt der Imperialismus zur Verletzung der Demokratie, zur Reaktion. In diesem Sinne ist unbestreitbar, dass der Imperialismus ‚Negation’ der Demokratie überhaupt, der ganzen Demokratie ist, keineswegs aber nur einer demokratischen Forderung, nämlich der Selbstbestimmung der Nationen.[22]

In seinem Entwurf für eine Resolution zur Agrarfrage für den Zweiten Kongress der Komintern 1920 betonte Lenin, dass RevolutionärInnen den Kampf der kleinen Bauern nicht nur in den kolonialen und halbkolonialen Ländern, sondern auch in den imperialistsichen unterstützen müssen.

Die werktätigen und ausgebeuteten Massen auf dem Lande, die das städtische Proletariat in den Kampf führen oder jedenfalls für sich gewinnen muss, sind in allen kapitalistischen Ländern durch die folgenden Klassen vertreten:

Erstens durch das Landproletariat (…)

Zweitens durch die Halbproletarier oder Parzellenbauern, d. h. durch diejenigen, die sich ihren Lebensunterhalt erwerben teils durch Lohnarbeit in kapitalistischen Landwirtschafts- und Industriebetrieben, teils durch Arbeit auf ihrem eigenen oder einem gepachteten Stückchen Land, das ihnen nur einen Teil der von ihrer Familie benötigten Lebensmittel abwirft (…).

Drittens durch die Kleinbauernschaft, d. h. die kleinen Landwirte, die Eigentümer oder Pächter von so kleinen Grundstücken sind, dass sie gerade die Bedürfnisse ihrer Familie und ihrer Wirtschaft decken, ohne fremde Arbeitskraft anzuwenden (…)

Zusammengenommen bilden die drei genannten Gruppen in allen kapitalistischen Ländern die Mehrheit der Landbevölkerung. Daher ist der Erfolg der proletarischen Umwälzung nicht nur in den Städten, sondern auch auf dem flachen Lande völlig gesichert (…)

…nämlich dass die unerhört geduckte, zersplitterte, niedergedrückte, in allen selbst den fortgeschrittensten Ländern zu halbbarbarischer Lebenshaltung verurteilte Landbevölkerung aller drei obengenannten Kategorien, die wirtschaftlich, sozial und kulturell am Sieg des Sozialismus interessiert ist, das revolutionäre Proletariat erst nach dessen Eroberung der politischen Macht entschlossen zu unterstützen vermag, erst nach dessen entschiedenerAbrechnung mit den Großgrundbesitzern und Kapitalisten, erst nachdem diese niedergehaltenen Menschen in der Praxis gesehen haben werden, dass sie einen organisierten Führer und Beschützer haben, der genügend Stärke und Festigkeit besitzt, ihnen zu helfen, sie zu leiten und ihnen den richtigen Weg zu zeigen.[23]

Lenins Ansatz wurde in den Resolutionen zur Agrarfrage von der Komintern sowohl am Zweiten als auch am Vierten Kongress aufgenommen.[24] Das bedeutete einen wichtigen Bruch mit der Tradition der Zweiten Internationale bis zu ihrem Zusammenbruch 1914, denn diese ignorierte die arme Bauernschaft in Westeuropa und konnte sie somit auch nicht als Verbündete für das Proletariat gewinnen.[25]

Trotsky führte diese Herangehensweise weiter, wie im nächsten Beispiel, im Aktionsprogramm für Frankreich, geschrieben 1934, zu sehen ist:

"Der proletarische Staat muss in gleicher Weise von den ausgebeuteten Bauern getragen werden wie von den Arbeitern in Stadt und Land. Unser Programm beantwortet die Bedürfnisse der großen ländlichen Massen genauso wie jene der Arbeiterklasse.[26]

Natürlich ist die Bauernschaft seitdem sowohl nummerisch als auch hinsichtlich ihres gesellschaftlichen Gewichts in den alten imperialistischen Ländern deutlich kleiner geworden. Heute spielt die Bauernschaft keine zentrale Rolle im Klassenkampf dieser Regionen.[27] Stattdessen tut es die untere Schicht der entlohnten Mittelklasse. Dazu kommen die wichtigen Kämpfe der besonders unterdrückten Schichten – Frauen, MigrantInnen, Jugend, nationale Minderheiten usw. -, von denen viele Teile der ArbeiterInnenklasse sind. Was wir mit den Verweisen auf die Arbeiten von Lenin und Trotzki zu zeigen versuchen, ist, dass MarxistInnen sich nicht auf die Vorantreibung des Kampfs nur bei den ArbeiterInnen beschränken, sondern auch Proteste nicht-proletarischer Klassen gegen die Bourgeoisie unterstützen, um sie als Verbündete für das Proletariat zu gewinnen. Das gilt nicht nur für die halb-kolonialen Länder, sondern auch für imperialistische Staaten. Natürlich unterscheiden sich diese Verbündeten heute von jenen aus der Zeit Lenin und Trotzkis. Doch die grundlegenden Themen haben sich nicht geändert.

Die Herangehensweise von MarxistInnen zu diesem Thema unterscheidet sich fundamental von dem diverser LinksreformistInnen: die linken SozialdemokratInnen, die Partei der Europäischen Linken usw. wollen ein Bündnis mit der Mittelschicht, in dem sich das Proletariat dem kleinbürgerlichen Programm der intellektuellen VertreterInnen der Mittelschicht unterordnet. Daher enden die Linksreformisten unausweichlich bei der Errichtung einer Volksfront, in der die ArbeiterInnenklasse – über die Führung der Mittelklasseintellektuellen – der Bourgeoisie unterworfen ist.

Im Gegensatz dazu wollen Bolschewiki-KommunistInnen auch eine Allianz mit der Mittelschicht, aber eine, in der das Proletariat die vorherrschende Rolle innehat. Sie wollen die Unterschicht der Mittelschicht gewinnen, indem sie den proletarischen Kampf gegen die Bourgeoisie vorantreiben und auch gegen kleinbürgerliche Ideen der intellektuellen VertreterInnen der Mittelschicht ankämpfen.



[1] Siehe dazu z.B. Workers Power: The British Left and the Irish War, London 1983; Matt Docherty: Irish republicanism at an impasse, in: Trotskyist International No. 11 (1993)

[2] Michael Pröbsting: The Struggle for Democracy in the Imperialist Countries Today. The Marxist Theory of Permanent Revolution and its Relevance for the Imperialist Metropolises, August 2015, in: Revolutionary Communism No. 39, S. 12, http://www.thecommunists.net/theory/democracy-vs-imperialism/

[3] Leo Trotzki: Marxismus in unserer Zeit (1939), Wien 1987, S. 20

[4] Siehe dazu u.B. Kent Paterson: May Day Ten Years Later: Reflections on the Legacies of Immigrant Spring, 1 May 2016, http://www.cipamericas.org/archives/18667; Pamela Constable: Latinos Unite to Turn Fear Into Activism – Pr. William Policy on Illegal Immigrants Prompts Call for Boycott, Other Actions, Washington Post, 28. Juli 2007

[5] Beiläufig sei erwähnt, dass Lenin ähnliche Angriffe von den Menschewiki erfuhr. Letztere kritisierten die Bolschewiki für ihre Orientierung auf die “rückständige” arme Bauernschaft – als die vorrangigen Verbündeten des Proletariats –, anstatt eine Allianz mit der liberalen städtischen Bourgeoisie anzustreben, die sie als “gebildeter” und “fortschrittlicher” betrachteten. Was weder die alten noch die jungen Menschewiki verstanden, ist das marxistische Prinzip, dass der wichtigste Punkt in der Beurteilung des Charakters einer sozialen Schicht oder Klasse nicht ihre kulturelle Ansichten oder ihre ideologischen Vorurteile sind, sondern ihre objektive Klassenposition in der kapitalistischen Gesellschaft. Letzteres ist dafür entscheidend, ob und wie eine Schicht in Konfrontation mit der herrschenden Klasse gerät. Und gerade das ist der Punkt, der für MarxistInnen relevant ist und nicht die ideologischen Phrasen, die benutzt werden, um sich selbst und andere zu täuschen.

[6] Während die PKK eine dominante Rolle bei den kurdischen Massen spielt, hat die türkische Linke unter den türkischen MigrantInnen nur schwachen Rückhalt.

[7] Siehe dazu z.B. Erster Mai: Gemeinsamer Widerstand gegen rassistische Angriffe. Lautstarke, kämpferische, internationalistische Demonstration trotz rassistischer Übergriffe, Bericht (mit Fotos und Videos) über die multinationale, internationalistische Demonstration am Ersten Mai 2016 in Wien von der Revolutionär-Kommunistischen Organisation BEFREIUNG, https://www.rkob.net/wer-wir-sind-1/rkob-aktiv-bei/erster-mai-2016/; Stoppt die strafrechtliche Verfolgung von Michael Pröbsting und der Palästina-Solidarität! Der Staat Österreich muss das Verfahren gegen Michael Pröbsting einstellen! April 2016, https://www.thecommunists.net/home/deutsch/solidaritaet-proebsting/; Sieg! Verfahren gegen RKOB-Sprecher und Palästina-Solidaritätsaktivisten Johannes Wiener eingestellt! Israelitische Kultusgemeinde erleidet Rückschlag bei ihrem Angriff auf Meinungsfreiheit und Palästina-Solidarität, 10.1.2013, https://www.rkob.net/international/nordafrika-und-arabischer-raum/verfahren-gegen-wiener-eingestellt/

[8] Tina Sanders: „Kindermörder Israel! Antizionismus und Antisemitismus in sozialistischen und antiimperialistischen Gruppen in Österreich anhand der Beispiele RKOB und (Neue) Linkswende“; siehe auch das Interview mit der Autorin: Die Linkswende in antisemitische Stereotype – Ein Gespräch mit Tina Sanders, 25. März 2016, http://www.semiosis.at/2016/03/25/die-linkswende-in-antisemitische-stereotype/

[9] Siehe dazu Erfolgreiche Großdemonstration verhinderte Marsch der PEGIDA-Hetzer. Bericht über eine sehr erfolgreiche Intervention der RKO BEFREIUNG, 4.2.2015, https://www.rkob.net/wer-wir-sind-1/rkob-aktiv-bei/anti-pegida-2-2-2015/

[10] Siehe RKO BEFREIUNG tritt bei den Wiener Wahlen 2015 an! Erklärung des Zentralkomitees der Revolutionär-Kommunistischen Organisation BEFREIUNG, 4. September 2015, https://www.rkob.net/wien-wahl-2015/wien-wahl-antritt-2015/

[11] Siehe z.B. Michael Pröbsting: Revolutionärer Parteiaufbau in Theorie und Praxis. Rück- und Ausblick nach 25 Jahren organisierten Kampfes für den Bolschewismus, RCIT, Wien 2014, in: Revolutionärer Kommunismus Nr. 13, S. 20-22, sowie in: Revolutionärer Kommunismus Nr. 14, S. 17-20 und S. 22-25.

[12] Leo Trotzki: Plans for the Negro Organisation (1939); in: Leo Trotsky: On Black Nationalism and Self-Determination, S. 62 (Unsere Übersetzung)

[13] Leon Trotsky: A Negro Organization (1939); in: Leo Trotsky: On Black Nationalism and Self-Determination, S. 53 (Unsere Übersetzung)

[14] Leon Trotsky: Plans for the Negro Organisation (1939); in: Leo Trotsky: On Black Nationalism and Self-Determination, S. 68 (Unsere Übersetzung)

[15] Friedrich Engels: Engels an W. Borgius, 25. Januar 1894, in: MEW Bd. 39, S. 206 (Hervorhebung im Original)

[16] Friedrich Engels: Ergänzung zur Vorbemerkung zu “Der deutsche Bauernkrieg” (1874), in: MEW Bd. 7, S. 541

[17] Wir verweisen auf das ausgezeichnete Dokument “Thesen zum Aufbau der IV. Internationale”. Dieses Dokument, geschrieben von einem der Führer der Vierten Internationale, Walter Held, wurde auf einer Konferenz der Emigrierten der „Internationalen Kommunisten Deutschlands“ (IKD) am 23. August 1937 diskutiert und verabschiedet und von ihrer monatlich erscheinenden Zeitung „Unser Wort“ veröffentlicht (No. 1 (85), Januar 1938). Trotzki bezog sich auf diesen Text als ein vorbereitendes Dokument für die Konferenz (siehe Leo Trotzki: Discussions with Trotsky: I – International Conference, March 20, 1938, in: Trotsky Writings 1937-38, S.283). Trotz seines Reichtums an Ideen wurde dieses Dokument nie großflächig in deutscher Sprache verbreitet. (Es wurde in einem Sammelband, herausgegeben von Günther Hillmann, publiziert: Selbstkritik des Kommunismus, Rowohlt Verlag, Hamburg 1967, pp. 143-154.) Wir veröffentlichten es vor einigen Jahren neu in unserem theoretischen Journal. (Unter der Fahne der Revolution No. 4, http://www.thecommunists.net/publications/farev-4/)

[18] W. I. Lenin: Protest russischer Sozialdemokraten (1899), in: LW Bd. 4, S. 170f

[19] W. I. Lenin: Was tun? (1902), in: LW Bd. 5, S. 423. Lenin hält im gleichen Buch fest: “Die Hauptsache aber ist natürlich Propaganda und Agitation unter allen Schichten des Volkes (…) Wir müssen es auch verstehen, Versammlungen von Vertretern aller Bevölkerungsklassen zu veranstalten, die nur einen Demokraten hören wollen. Denn der ist kein Sozialdemokrat, der in der Praxis vergisst, dass ‘die Kommunisten überall jede revolutionäre Bewegung unterstützen’, dass wir daher verpflichtet sind, vor dem ganze Volke die allgemein demokratischen Aufgaben darzulegen und hervorzuheben, ohne auch nur einen Augenblick unsere sozialistischen Überzeugungen zu verheimlichen. Der ist kein Sozialdemokrat, der in der Praxis seine Pflicht vergisst, bei der Aufrollung, Zuspitzung und Lösung jeder allgemein demokratischen Frage allen voranzugehen.” (W. I. Lenin: Was tun? (1902), in: LW Bd. 5, S. 425)

[20] W. I. Lenin: Was tun? (1902), in: LW Bd. 5, S. 428. Ein paar Seiten später fügt Lenin hinzu: “Wir wären nur in Worten ‘Politiker’ und Sozialdemokraten (wie es sehr, sehr oft in Wirklichkeit der Fall ist), wenn wir uns nicht der Aufgabe bewusst wären, alle Erscheinungen der Unzufriedenheit auszunutzen, alle Körnchen eines wenn auch erst aufkeimenden Protestes zu sammeln und zu bearbeiten. Wir sprechen dabei schon gar nicht davon, dass all die vielen Millionen der werktätigen Bauernschaft, der Hausarbeiter, der kleinen Handwerker usw. stets die Rede eines einigermaßen geschickt auftretenden Sozialdemokraten begierig anhören würden. Aber kann auch nur eine Klasse der Bevölkerung genannt werden, in der es nicht Personen, Gruppen und Kreise gäbe, die mit der Rechtlosigkeit und Willkür unzufrieden und daher für die Agitation des Sozialdemokraten, als des Wortführers der dringendsten allgemein demokratischen Forderungen, zugänglich sind? ” (W. I. Lenin: Was tun? (1902), in: LW Bd. 5, S. 430)

[21] W. I. Lenin: Was tun? (1902), in: LW Bd. 5, S. 432

[22] W.I. Lenin: Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den “Imperialistischen Ökonomismus” (1916); in: LW 23, S. 34 (Hervorhebung im Original)

[23] W. I. Lenin: Ursprünglicher Entwurf der Thesen zur Agrarfrage. Für den Zweiten Kongress der Kommunistischen Internationale (1920), in: LW Bd. 31, S. 141ff. Siehe dazu auch die Vorbereitungsarbeiten zu Lenins Thesen vom polnischen Kommunisten Julian Marchlewski, den Lenin in seinen Theses lobte: Julian Marchlewski: Die Agrarfrage und die Welt Revolution, in: Die Kommunistische Internationale, No. 12 (1920), S. 89-97

[24] Siehe Theses on the Agrarian Question, verabschiedet am Zweiten Kongress der Komintern (1920); Communist International: The Agrarian Action Programme, verabschiedet am Vierten Kongress der Komintern: Directives on the Application of the Agrarian Theses passed by the Second Congress (1922), beide Dokuments sind neu erschienen in: Jane Degras: The Communist International 1919-1943. Documents, Vol. I 1919-1922, S. 155-161 bzw. S. 394-398

[25] Ein nützlicher Überblick über die Entwicklung von Lenins Gedanken zu Agrarfrage findet sich in: Esther Kingston-Mann: Lenin and the problem of Marxist Peasant Revolution, Oxford University Press, 1983

[26] Leon Trotsky: A Program of Action for France (1934), in: Writings of Leon Trotsky 1934-35, Pathfinder Press, New York, 1974, S. 25

[27] Das heißt natürlich nicht, dass diese Schichten völlig irrelevant geworden sind. Siehe z.B. die periodisch aufflammenden Proteste der französischen Bauernschaft.