Die widersprüchliche Entwicklung des griechischen Kapitalismus, seine gescheiterten Versuche zu einer imperialistischen Regionalmacht zu werden, und seine gegenwärtige Situation als entwickeltes halbkoloniales Land mit einigen spezifischen Merkmalen
Von Michael Pröbsting, Revolutionär-Kommunistische Internationale Tendenz (RCIT), November 2015, www.thecommunists.net
Anmerkung der Redaktion: Die Graphiken in diesem Buch können nur in der unten als Download zur Verfügung stehenden pdf Version eingesehen werden.
Inhalt
Vorwort
Einleitung
I . Theoretische Betrachtungen
I.1 Was sind die charakteristischen Kennzeichen eines imperialistischen bzw. halbkolonialen Staats?
I.2 Ist eine Entwicklung von einem Staatstyp zum anderen möglich?
I.3 Ist die Kategorie “sub-imperialistisch” sinnvoll?
II. Kurzer historischer Überblick über die Entwicklung des griechischen Kapitalismus
II.1 Das Erscheinen der griechischen Bourgeoisie im Osmanischen Reich und der Kampf um nationale Unabhängigkeit
II.2 Griechenland von der Zeit des Unabhängigkeitskrieges (1821-29) bis 1922
II.3 Exkurs: Griechischer Chauvinismus und die Frage Mazedoniens
II.4 Griechenland als rückständiges kapitalistisches Land zwischen den beiden Weltkriegen
II.5 Der widersprüchliche Modernisierungsprozess nach dem Ende des Bürgerkriegs bis zum EU -Beitritt
II.6 Exkurs: die griechischen Schiffseigentümer – eine halbe Diaspora-Bourgeoisie
III. Griechenlands gescheiterter Versuch, eine imperialistische Regionalmacht zu werden
III.1 EU-Beitritt und die 1980er Jahre
III.2 Kapitalistische Restauration am Balkan nach 1989 und griechische Kapitalexpansion
III.3 Steigende Migration nach 1989
III.4 Scheitern bei der Überwindung der Rückständigkeit und die Steigerung der Schulden an die imperialistischen Mächte
IV. Die historische Krise des griechischen Kapitalismus 2008 bis heute
IV.1 Zerstörung der griechischen Ökonomie durch die imperialistischen Monopole und Großmächte
IV.2 Schuldenexplosion und die nahezu totale Abhängigkeit Griechenlands von den imperialistischen Mächten
IV.3 Die EU-Troika: Griechenland als De-Facto-Kolonie des EU-Imperialismus
IV.4 Exkurs: Die KKE und der Klassencharakter Griechenlands
V. Programmatische Schlussfolgerungen
V.1 Die taktische Losung des Austritt Griechenlands aus der EU
V.2 Das Programm für die völlige Gleichberechtigung der MigrantInnen?
V.3 Der Kampf gegen den griechischen Chauvinismus: Die mazedonische Frage
VI. Zusammenfassende Thesen
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Vorwort der Redaktion: Im Folgenden veröffentlichen wir das von Michael Pröbsting verfasste Buch „Griechenland: Eine moderne Halbkolonie“. Das Buch erschien ursprünglich in englischer Sprache im November 2015 als E-Book bzw. als Ausgabe 43 und 44 des englischsprachigen internationalen Journals der Revolutionär-Kommunistische Internationale Tendenz (RCIT). Wir haben es für die deutsche Übersetzung an ein paar Stellen aktualisiert. [1]
Michael Pröbsting ist der Internationale Sekretär der RCIT. Alle Publikationen der RCIT können über unsere Kontaktadresse bezogen werden. Wir bedanken uns für die Übersetzung des Buches bei Gerlinde K. und Marek Hangler (Kapitel VI).
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Einleitung
Die Frage des Klassencharakters Griechenlands ist von ausschlaggebender Bedeutung sowohl für die griechische wie auch für die internationale ArbeiterInnenbewegung: ist es ein imperialistischer Staat, ein halbkoloniales Land oder etwas anderes und was sind seine speziellen Kennzeichen?
Die Wichtigkeit dieser Frage ergibt sich aus der Intensität des Klassenkampfs in Griechenland der letzten Jahre. Es ist wohl kaum eine Übertreibung zu sagen, dass das, was die Arabische Revolution für die Welt war, Griechenland für Europa ist. Während erstere die Region mit dem entwickeltsten Klassenkampf weltweit seit 2010 war, so spielt Griechenland diese Rolle für den europäischen Klassenkampf.
Die griechische ArbeiterInnenbewegung und die Linke sind zur Frage des Klassencharakters des Landes geteilter Meinung. Manche meinen, dass Griechenland eine kleine imperialistische Macht ist, während andere sagen, dass es ein abhängiges oder halbkoloniales Land ist. Es gibt auch Standpunkte, laut denen Griechenland ein sub-imperialistischer Staat sei.
Analysen werden oft dazu verwendet, bestimmte Taktiken zu rechtfertigen. Diverse ReformistInnen und ZentristInnen, die Griechenland als unabhängig betrachten, nutzen die Rückständigkeit des Landes als Entschuldigung für ihren Opportunismus hinsichtlich des griechischen Nationalismus und ihre Anpassung an die griechische Bourgeoisie. Andere, die Griechenland als imperialistischen oder sub-imperialistischen Staat betrachten, nutzen ihre Analysen, um sektiererische Taktiken zu rechtfertigen.
Die RCIT hat die Analyse erarbeitet, dass Griechenland ein entwickeltes halbkoloniales Land mit besonderen Kennzeichen ist. [2] Wir bestätigen die historische Charakterisierung Griechenlands der trotzkistischen Vierten Internationale, die 1945 festhielt: “Griechenland gehört zweifelsohne zu den rückständigsten und ärmsten Ländern Europas. Seit über einem Jahrhundert ist es zum Status einer Halbkolonie der größeren europäischen Mächte verurteilt.” [3]
Eine derart abhängige Position behielt es auch in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Wir erkennen an, dass das griechische Kapital in den 1990er Jahren und in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts ernsthafte Bemühungen vollzogen hat, um zu einer imperialistischen Regionalmacht zu werden. Doch letztlich scheiterte es darin, seinen rückständigen Charakter zu überwinden und bleibt ein abhängiges, den europäischen imperialistischen Mächten untergeordnetes, Land.
Wir unterstützen die Losung zu Griechenlands Austritt aus der EU und der Eurozone und kombinieren sie mit einem Übergangsprogramm für eine sozialistische Revolution. Die europäische ArbeiterInnenbewegung muss gegen die Kolonisierung Griechenlands durch die EU-Troika mobilisieren und den griechischen Widerstand unterstützen. Gleichzeitig müssen sich RevolutionärInnen dem griechischen Chauvinismus in all seinen Formen entgegenstellen. Das schließt die Notwendigkeit der Unterstützung der Rechte der in Griechenland lebenden MigrantInnen und der nationalen Minderheiten genauso ein wie die Opposition gegen die Expansion des griechischen Kapitals in die Balkanländer. [4]
Die folgende Studie wird eine detailliertere Analyse der widersprüchlichen Entwicklung des griechischen Kapitalismus, seiner gescheiterten Versuche eine kleine imperialistische Macht zu werden und seiner gegenwärtigen Situation als entwickeltes halbkoloniales Land mit besonderen Kennzeichen präsentieren. Zum Schluss werden wir die wichtigsten programmatischen Schlussfolgerungen dieser Analyse diskutieren.
Wir hoffen, dass die vorliegende Publikation einen sinnvollen Beitrag zur Diskussion unter RevolutionärInnen in Griechenland zur Klärung des Klassencharakters Griechenlands und der daraus folgenden Aufgaben darstellt. Wir freuen uns über Rückmeldungen und Kritik von unseren griechischen KampfgenossInnen.
I. Theoretische Betrachtungen
Bevor wir eine konkrete Analyse des griechischen Kapitalismus und seines besonderen Klassencharakters vorlegen, müssen wir mit einer Zusammenfassung der theoretischen Herangehensweise von MarxistInnen zu dieser Frage beginnen: Wie lautet die korrekte Definition eines imperialistischen bzw. halbkolonialen Staats? Unser methodologisches Verständnis des Imperialismus basiert auf Lenins Theorie, die seit dem frühen 20. Jahrhundert die Basis für den revolutionären Marxismus bildet. [5]
I.1 Was sind die charakteristischen Kennzeichen eines imperialistischen bzw. halbkolonialen Staats?
Lenin beschrieb als die wesentlichen Kennzeichen des Imperialismus die Bildung von Monopolen, die die Wirtschaft dominieren. Im Zusammenhang damit betonte er die Fusion von Bank- und Industriekapital in Finanzkapital, die Zunahme von Kapitalexport gemeinsam neben dem Warenexport und den Kampf um Einflusssphären, v.a. Kolonien. [6]
Die Bildung von Monopolen und Großmächten führte zunehmend zur Aufteilung der ganzen Welt unter die rivalisierenden imperialistischen Staaten in verschiedene Einflussgebiete und zur Unterwerfung der meisten Länder unter diese wenigen Großmächte. Daraus folgt ein besonderes Kennzeichen von Lenins (und Trotzkis) Imperialismus-Analyse: die Charakterisierung des Verhältnisses zwischen den imperialistischen Nationen und der großen Mehrheit der Völker, die in weniger kapitalistisch entwickelten Ländern lebt, als Unterdrückungsverhältnis. Tatsächlich kam Lenin, und ihm folgend auch Trotzki, zu dem Schluss, dass diese Aufteilung der Länder der Welt in unterdrückende und unterdrückte Nationen eines der wichtigsten Merkmale der imperialistischen Epoche ist:
„Der Imperialismus ist die fortschreitende Unterdrückung der Nationen der Welt durch eine Handvoll Großmächte (…) Eben deshalb muß die Einteilung der Nationen in unterdrückende und unterdrückte den Zentralpunkt in den sozialdemokratischen Programmen bilden, da diese Einteilung das Wesen des Imperialismus ausmacht und von den Sozialpatrioten, Kautsky inbegriffen, verlogenerweise umgangen wird. Diese Einteilung ist nicht wesentlich vom Standpunkt des bürgerlichen Pazifismus oder der kleinbürgerlichen Utopie der friedlichen Konkurrenz der unabhängigen Nationen unter dem Kapitalismus, aber sie ist eben das Wesentlichste vom Standpunkt des revolutionären Kampfes gegen den Imperialismus.“ [7]
Daraus schloss Lenin, dass die Aufteilung in unterdrückte und unterdrückende Nationen ein zentraler Bestandteil des marxistischen Programms sein muss:
“Als Gegengewicht zu dieser spießbürgerlichen opportunistischen Utopie muß das Programm der Sozialdemokratie (so nannten sich MarxistInnen zu dieser Zeit, Anm. d. Red.) als das Grundlegende, Wesentliche und Unvermeidliche beim Imperialismus die Einteilung der Nationen in unterdrückte und unterdrückende hervorheben.” [8]
Das Verhältnis zwischen Staaten muss in der Gesamtheit seiner wirtschaftlichen, politischen und militärischen Belange gesehen werden – “die ganze Totalität der mannigfaltigen Beziehungen dieses Dinges zu den anderen“ (Lenin). [9] Der jeweilige Staat darf nicht nur als eigenständige Einheit gesehen werden, sondern vor allem in seinen Beziehungen zu anderen Staaten und Nationen. Nebenbei bemerkt können auch Klassen nur im Verhältnis zueinander verstanden werden. Ein imperialistischer Staat stellt üblicherweise ein unterdrückerisches Verhältnis zu anderen Staaten und Nationen her, die er auf die eine oder andere Weise überausbeutet – d.h. er eignet sich einen Anteil des produzierten kapitalistischen Werts an. Aber auch das muss in seiner Gesamtheit betrachtet werden, d.h. wenn ein Staat Profite aus seinen Auslandsinvestitionen gewinnt, aber selbst noch viel mehr an andere Länder aufgrund von deren Auslandsinvestitionen oder Darlehen etc. zahlen muss, kann dieser Staat meist nicht als imperialistisch bezeichnet werden.
Die wirtschaftliche Basis des Verhältnisses zwischen imperialistischen und halbkolonialen Ländern ist es, was Lenin die Überausbeutung dieser unterdrückten Nationen durch die imperialistischen Monopole nannte. Wegen dieser Überausbeutung kann das Monopolkapital – zusätzlich zur durchschnittlichen Profitrate – einen Extraprofit lukrieren. Diese Extraprofite sind wichtige Zuschläge zu den Profiten, die das Monopolkapital bereits aus den ArbeiterInnen in den reichen Ländern herausholt. Sie sind außerdem eine wichtige Quelle zur Bestechung der höheren, aristokratischen Teile der ArbeiterInnenklasse und v.a. der Arbeiterbürokratie in den imperialistischen Ländern, was der Stärkung der Herrschaft des Monopolkapitals dient.
In unserem Buch Der große Raub des Südens werden vier verschiedene grundlegende Formen der Überausbeutung, mit denen das Monopolkapital Extraprofite aus kolonialen und halbkolonialen Ländern gewinnt, herausgearbeitet: [10]
i) Kapitalexport als produktive Investition
ii) Kapitalexport als Geldkapital (Darlehen, Währungsreserven, Spekulation usw.)
iii) Werttransfer über ungleichen Austausch
iv) Werttransfer über Migration (basierend auf der Überausbeutung der MigrantInnen als einer national unterdrückten Schicht der ArbeiterInnenklasse)
Zuletzt wollen wir die Notwendigkeit betonen, die Gesamtheit der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Position eines Staats in der globalen Staatshierarchie zu betrachten. So können wir einen bestimmten Staat als imperialistisch sehen, auch wenn er wirtschaftlich schwächer ist, aber eine relative starke politische und militärische Position innehat (wie Russland vor 1917 und – wieder – Anfang des 21. Jahrhunderts). Solch eine starke politische und militärische Position kann dazu genutzt werden, andere Länder und Nationen zu unterdrücken und von ihnen kapitalistischen Wert abzuziehen.
Natürlich ist es nicht genug, Länder in die Kategorien imperialistisch und halbkolonial einzuteilen. Es gibt viele verschiedene Abstufungen. Das beginnt bereits bei den Unterschieden zwischen den Großmächten. Es gibt Großmächte wie die stärkste, die USA, doch auch andere, die wirtschaftlich stark sind, aber in den letzten Jahrzehnten militärisch viel schwächer waren (wie Japan oder Deutschland). Dann müssen wir differenzieren zwischen Großmächten und kleineren imperialistischen Ländern (wie Australien, Belgien, die Schweiz, die Niederlande, Österreich, die skandinavischen Länder etc.). Offensichtlich sind sie den Großmächten nicht ebenbürtig, sondern ihnen vielmehr untergeordnet. Diese kleineren imperialistischen Länder sind politisch und militärisch von einer oder mehreren Großmächten zu abhängig, um in der globalen imperialistischen Ordnung mitspielen zu können. Sie sichern ihre privilegierte Position durch wirtschaftliche, politische und militärische Bündnisse mit Großmächten wie EU, OECD, IWF, Weltbank, WTO, NATO und diverse “Partnerschaften”. Diese kleineren imperialistischen Länder werden jedenfalls nicht von den Großmächten überausgebeutet, sondern beteiligen sich vielmehr noch an der Überausbeutung der halbkolonialen Welt, indem sie sich einen beträchtlichen Teil des Werts aus den Halbkolonien aneignen.
Kurz, wir definieren einen imperialistischen Staat wie folgt: Ein imperialistischer Staat ist ein kapitalistischer Staat, dessen Monopole und Staatsapparat eine Position in der Weltordnung aufweisen, von der aus sie in erster Linie andere Staaten und Nationen dominieren. Als Ergebnis lukrieren sie Extraprofite und andere wirtschaftliche, politische und/oder militärische Vorteile aus einem solchen auf Überausbeutung und Unterdrückung basierenden Verhältnis. [11]
Ebenso muss auch zwischen verschiedenen Typen von Halbkolonien differenziert werden. Offensichtlich gibt es heute riesige Unterschiede zwischen Peru und Argentinien oder Brasilien, dem Kongo und Ägypten, Pakistan und der Türkei, Nepal und Thailand, Kasachstan und Polen. Einige Länder sind mehr industrialisiert als andere, manche haben eine gewisse politische Größe erreicht und andere nicht. Wir können also zwischen entwickelten oder industrialisierten Halbkolonien wie etwa Argentinien, Brasilien, Ägypten, der Türkei, Griechenland, dem Iran, Polen oder Thailand einerseits und ärmeren oder halbindustrialisierten Halbkolonien wie Bolivien, Peru, den Subsahara-Ländern Afrikas (außer Südafrika), Pakistan, Afghanistan, Indonesien etc. unterscheiden.
Nichtsdestotrotz darf nicht vergessen werden, dass diese verschiedenen Arten von Halbkolonien viel mehr Gemeinsames als Trennendes haben, wie schon Trotzki betont:
“Die kolonialen und halbkolonialen, also rückständigen Länder, welche die bei weitem größere Hälfte der Menschheit ausmachen, unterscheiden sich außerordentlich stark voneinander nach dem Grad der Rückständigkeit und bilden eine historische Stufenleiter, die von der Nomadenexistenz oder sogar vom Kannibalismus bis zur modernsten industriellen Kultur reicht. Die Kombination dieser Extreme charakterisiert in der einen oder anderen Form jedes dieser rückständigen Länder. Doch ist die Hierarchie der Rückständigkeit, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist, durch das spezifische Gewicht der Elemente von Barbarei und Kultur im Leben jedes dieser kolonialen Länder bestimmt. Äquatorialafrika bleibt weit hinter Algerien zurück, Paraguay hinter Mexiko, Abessinien hinter Indien oder China. Vor dem Hintergrund ihrer allgemeinen wirtschaftlichen Abhängigkeit von den Metropolen des Imperialismus hat die politische Abhängigkeit in manchen Fällen den Charakter einer offenen kolonialen Sklaverei, in anderen Fällen wird sie durch die Fiktion einer staatlichen Selbständigkeit verdeckt (China, Lateinamerika).“ [12]
Wir fassen unsere Definition der Halbkolonien in folgender Formel zusammen: Ein halbkoloniales Land ist ein kapitalistischer Staat, dessen Wirtschaft und Staatsapparat eine Position in der Weltordnung innehaben, in der sie in erster Linie von anderen Staaten und Nationen dominiert werden. Als Ergebnis erzeugen sie Extraprofite und ermöglichen aufgrund ihres auf Überausbeutung und Unterdrückung basierenden Verhältnisses den imperialistischen Monopolen und Staaten auch andere wirtschaftliche, politische und/oder militärische Vorteile.
I.2 Ist eine Entwicklung von einem Staatstyp zum anderen möglich?
Die Analyse und Aufteilung von Ländern in verschiedene Typen darf nicht dogmatisch, mechanistisch verstanden werden, sondern vielmehr auf marxistische, d.h. dialektische Weise. Lenin betonte bereits, dass Definitionen keine abstrakten Dogmen sind, sondern als elastische Kategorien betrachtet werden müssen: „…ohne zu vergessen, daß alle Definitionen überhaupt nur bedingte und relative Bedeutung haben, da eine Definition niemals die allseitigen Zusammenhänge einer Erscheinung in ihrer vollen Entfaltung umfassen kann …“. [13]
Es wäre also falsch, sich die beiden Kategorien der imperialistischen und halbkolonialen Staaten als wie durch eine undurchdringliche Wand wie die Chinesische Mauer voneinander getrennt vorzustellen. Wie bei anderer Gelegenheit schon dargestellt, gibt es einige Beispiele für abhängige Länder, die sich unter besonderen Umständen zu einem imperialistischen Land entwickeln konnten ebenso wie umgekehrt. Der Hauptgrund dafür ist das Gesetz der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung, das die verschiedenen Entwicklungsgeschwindigkeiten der Produktivkräfte in den verschiedenen Nationen und ihre Interaktion, die wiederum zu Instabilität, Zusammenbrüchen, Kriegen und Transformationen bestehender politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse führt, erklärt. [14] Daher ist es nur logisch, dass solche Entwicklungen neue kapitalistische Mächte ebenso wie den Niedergang alter Mächte hervorbringen können. [15]
Lenin selbst hat die Möglichkeit, dass rückständige halbkoloniale Länder ihren Klassencharakter verändern können, explizit hervorgehoben:
“Am schnellsten wächst der Kapitalismus in den Kolonien und den überseeischen Ländern. Unter diesen Ländern entstehen neue imperialistische Mächte (Japan).” [16]
Wie bereits an anderer Stelle betont gibt es verschiedene historische Beispiele für solche Transformationen. So gibt es das Beispiel der Tschechoslowakei - einst Kolonie des Habsburger Reichs, nach dessen Zusammenbruch 1918 eine kleinere imperialistische Macht. Ähnlich wurden Südkorea und Israel in den 1990ern zu imperialistischen Staaten, ebenso Russland und China im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. [17] Andererseits konnte Portugal in den letzten vier Jahrzehnten seinen imperialistischen Status seit dem Verlust seiner Kolonien 1974 wahrscheinlich nicht halten.
I.3 Ist die Kategorie “sub-imperialistisch” sinnvoll?
Eine Reihe fortschrittlicher TheoretikerInnen unterstützt die Konzeption eines “Übergangs-” oder “sub-imperialistischen” Staatstypus als dritte, zusätzliche Länderkategorie zu den Begriffen imperialistisch und halbkolonial. Wir haben unsere Kritik der Theorie des Sub-Imperialismus in Der große Raub des Südens dargelegt und bringen hier nur kurz einige Schlussfolgerungen. [18]
Wenn ein Staat einen Transformationsprozess von einem imperialistischen in ein halbkoloniales Land oder umgekehrt durchläuft, befindet er sich natürlich “im Übergang” und in diesem Sinn kann eine Begrifflichkeit nützlich sein, um einen vorübergehenden Prozess zu beschreiben. Die UnterstützerInnen der Theorie des Sub-Imperialismus verstehen diese Kategorie aber nicht als Beschreibung des Übergangsprozesses, sondern sehen sie als separate, unabhängige Kategorie. Und hier liegt das fundamentale Problem.
Der Kapitalismus vereint alle Nationen der Welt über die ökonomische und politische Ausdehnung und die Bildung eines Weltmarkts. Dieser Prozess findet seit dem Beginn der kapitalistischen Produktionsweise statt und hat sich in der Epoche des Imperialismus massiv beschleunigt. Unter diesen Bedingungen entkommt keine Nation dem Eingehen immer engerer wirtschaftlicher und politischer Bindungen mit den dominanten imperialistischen Mächten. Solch enge Beziehungen schaffen, verändern und reproduzieren automatisch Ausbeutungsmechanismen und Überausbeutung. Mit anderen Worten, im Kapitalismus – und noch mehr im Imperialismus – werden alle Nationen in den Prozess der Überausbeutung aufgesogen. Entweder sind sie stark genug und werden Teil der unterdrückenden Nationen oder sie werden ins Lager der Mehrheit der Menschheit – die unterdrückten Nationen – gedrängt. Es gibt kein “drittes Lager” dazwischen.
Natürlich gibt es wesentliche Unterschiede in der Entwicklung der Produktivkräfte zwischen den imperialistischen Staaten genauso wie zwischen den halbkolonialen Ländern. Das ist nur logisch angesichts der ungleichen Entwicklungsdynamik zwischen den Nationen. Es stimmt auch, dass es größere und kleinere imperialistische Länder gibt. Z.B. sind die USA und Kanada sicher nicht gleich, aber sie beuten einander nicht systematisch aus. Dasselbe gilt für Deutschland und Österreich oder Frankreich und Belgien, Luxemburg oder die Schweiz. Und doch sind sie alle imperialistische Nationen. Warum? Weil sie bedeutendes Monopolkapital und Finanzkapital geschaffen haben, das dazu verwendet wird, den Süden systematisch auszubeuten und Werte zu transferieren und sie Teil einer internationalen imperialistischen Ordnung sind, von der sie profitieren und die sie mit verschiedenen Mitteln verteidigen. Ebenso gibt es fortgeschrittene Halbkolonien, die einen gewissen regionalen Einfluss haben (z.B. Brasilien, Indien, Griechenland) und andere, die keinen haben; einige sind stärker, andere schwächer. Doch als MarxistInnen müssen wir das Wertgesetz im Blick behalten und den Werttransfer zwischen den Ländern und die politische Ordnung, die damit verknüpft ist. Und hier ist es offensichtlich, dass die industrialisierten Halbkolonien ebenso von den imperialistischen Monopolen dominiert und überausgebeutet werden. Aus diesem Grund sehen wir keine Nützlichkeit in der Kategorie des “Sub-Imperialismus” als Teil eines marxistischen Analyseapparats.
II. Kurzer historischer Überblick über die Entwicklung des griechischen Kapitalismus
Es geht über den Rahmen dieser Schrift hinaus, eine umfassende Analyse der Geschichte Griechenlands seit seiner Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich Anfang des 19. Jahrhunderts zu geben.[19] Stattdessen soll der Fokus auf der Entwicklung des griechischen Kapitalismus liegen, sodass dessen besondere Kennzeichen herausgearbeitet werden können.
II.1 Das Erscheinen der griechischen Bourgeoisie im Osmanischen Reich und der Kampf um nationale Unabhängigkeit
Angesichts der jahrhundertlangen Besetzung durch das Osmanische Reich begannen die Balkanvölker ihre nationale und moderne Entwicklung viel später als die meisten westeuropäischen Länder. Unter den Balkanvölkern waren Griechenland und Serbien die ersten, die den Befreiungskampf gegen die osmanische Herrschaft im frühen 19. Jahrhundert aufnahmen.
In diesem Bestreben hatte Griechenland gewisse Vorteile, die dazu beitrugen, die Unabhängigkeit früher als die meisten Balkanvölker zu erlangen. Der Handel im Osmanischen Reich, dessen Ökonomie durch das charakterisiert war, was Marx die “Asiatische Produktionsweise” genannt hatte, wurde vom nicht-muslimischen Volk dominiert.[20] Dieser Prozess begann bereits im 15. und 16. Jahrhundert. Allmählich konnten die Griechen (und in geringerem Ausmaß die JüdInnen und die ArmenierInnen) Kontrolle über den größten Teil ihres Innen- und Außenhandels erlangen und viele MitarbeiterInnen der Osmanischen Staatsverwaltung und des diplomatischen Korps stellen (diese einflussreichen und wohlhabenden griechischen Familien wurden als “Phanariotes” bekannt).[21]
Diese Entwicklung zeigt sich in der Tatsache, dass 1912 von 112 Bankiers und BankdirektorInnen im Osmanischen Reich nur einer ein muslimischer Türke war. Bezüglich der Industrie wird geschätzt, dass nur 15% des Kapitals TürkInnen gehörte. Gemäß dem sowjetischen Wissenschaftler O.G. Indzhikyan war die ethnische Zusammensetzung der Geschäftswelt wie folgt (s. Tabelle 1):
Tabelle 1: Ethnische Zusammensetzung der Geschäftswelt im Osmanischen Reich in Prozent (1912) [22]
Türken Griechen Armenier Andere
Innenhandel 15 43 23 19
Industrie u. Handwerk 12 49 30 10
Akademiker 14 44 22 20
Es kam also zur “Bildung einer unternehmerischen und weit verstreuten Handelsklasse im Verlauf des 18. Jahrhunderts, deren Aktivitäten innerhalb wie außerhalb des Osmanischen Gebiets angesiedelt waren.”[23] Als Ergebnis wurde Griechisch zur Lingua Franca des Balkanhandels. Diese Handelsbourgeoisie errichtete Gemeinden in der griechischen Diaspora in Kairo, Alexandria und Istanbul wie auch in größeren Handelszentren des Russischen Reichs, in Triest, Neapel, Marseille, Amsterdam, Antwerpen, London, Liverpool und Paris. In der Österreichisch-Ungarischen Monarchie z.B. lebten über 80.000 griechische Familien.[24]
Der Aufstieg der griechischen Händler wurde von der Tatsache, dass während der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege 1792-1815 Britannien und Frankreich wechselseitig ihre Handelsmarinen im Mittelmeer zerstörten, unterstützt. Die griechischen SeeHändler füllten dieses Vakuum und erreichten so eine Monopolposition.
Als Folge dessen spielte diese griechische Handelsbourgeoisie eine Führungsrolle darin, gemeinsam mit Intellektuellen und im Ausland ausgebildeten Akademiker ein nationales Bewusstsein – kombiniert mit westlicher Kultur – im griechischen Volk zu schaffen und zu verbreiten. 1814 gründeten griechische Händler in Odessa die geheime revolutionäre Organisation Philike Hetairia (Gesellschaft der Freunde). Sie liehen dem Volksaufstand gegen die osmanische Vorherrschaft, der zum griechischen Unabhängigkeitskrieg 1821-1829 führte, materielle Unterstützung. Es war diese neue Handelsklasse, die – gemeinsam mit der verarmten Bauernschaft, die von ihren Kleinstgütern lebte [25] –, die die entscheidende Kraft im nationalen Befreiungskampf war. Für die traditionelle griechische Elite, d.h. den Hochklerus und die Großgrundbesitzenden, stand im bestehenden System mehr auf dem Spiel und sie war daher gegenüber der Revolution viel zurückhaltender. Die Mehrheit davon schloss sich dem Kampf erst an, als sie erkannte, dass die nationalistische Bewegung unumkehrbar war. [26]
Der griechische Unabhängigkeitskrieg rief große Begeisterung hervor und gewann die vorbehaltlose Unterstützung von RevolutionärInnen und Liberalen in ganz Europa – der englische Dichter Lord Byron wurde zu einer Symbolfigur dafür. Die europäischen Großmächte hingegen hatten eine ambivalente Haltung zum Volksaufstand. Einerseits hatten sie Interesse an einem geschwächten Osmanischen Reich. Andererseits hatten sie auch Interesse an der Aufrechterhaltung der Stabilität auf der Balkanhalbinsel. Als Folge dessen intervenierten England, Frankreich und Russland (wie auch Mehmet Ali von Ägypten) auf verschiedenen Seiten des Konflikts. Letztlich übten sie Druck aus, den Befreiungskrieg zu beenden und 1829 zu einer Vereinbarung mit dem Sultan zu gelangen. [27] Diese Vereinbarung anerkannte ein kleines unabhängiges Griechenland. Dieses umfasste nur einen Teil des heutigen Griechenland – mit einer Bevölkerung von nicht mehr als 800.000 Menschen waren das weniger als ein Drittel der 2,5 Millionen Griechen des Osmanischen Reichs.
II.2 Griechenland von der Zeit des Unabhängigkeitskrieges (1821-29) bis 1922
Die Großmächte stellten von Beginn an sicher, dass Griechenland nur formell unabhängig wurde, während es de facto ein abhängiges Land, d.h. eine Halbkolonie, blieb. Die Großmächte zwangen den neuen Staat, eine Monarchie zu werden, mit dem 17-jährigen bayrischen Prinzen (!) Otto von Wittelsbach an der Spitze. Nach diversen Aufständen wurde er schließlich 1862 entthront und ein Jahr später von Prinz Wilhelm von Dänemark, ebenfalls 17-jährig bei seiner Thronbesteigung, ersetzt.
Griechenlands völlige Unterwerfung unter die Großmächte zeigte sich auch im Vertrag von 1864, der ausdrücklich festhielt, dass jede der drei Signatarstaaten (England, Frankreich und Russland) mit Einverständnis der beiden anderen Truppen auf griechisches Territorium schicken konnte, wohingegen die Zustimmung Griechenlands selbst nicht nötig war.
Außerdem wurden die Ionischen Inseln an der Westküste Griechenlands, Heimat vieler großer Schiffseigner, zu einem “souveränen Staat unter dem Schutz der britischen Krone”, bis London sie Griechenland 1864 formell übereignete. [28]
Griechenlands finanzielle Lage war von Beginn an verzweifelt. Der lange Krieg mit den Türken hinterließ den Griechen enorme Schulden bei den britischen Banken. Griechenland musste um weitere Darlehen ansuchen, die es 1833 erhielt. Diese Schulden steigerten noch den Druck auf den Staat, der Bauernschaft, die zu großen Teilen ins Hügelland floh, schwere Steuern aufzuerlegen. Das Räuberunwesen, das auf dem Balkan eine lange Geschichte hat, nahm wieder einmal überhand. Angesichts der Schwäche der heimischen Bourgeoisie und des Fehlens von Auslandsinvestitionen suchte der griechische Staat sein Heil vor allem bei Fremdkapital – meist in Form von Darlehen – zur Finanzierung der grundlegenden Infrastruktur (Häfen, Straßen, Bahnnetz). Allein zwischen 1879-1893 importierte Griechenland etwa 750 Millionen Goldfrancs in Form von Auslandsdarlehen und Investition. [29]
Natürlich verschärfte das Griechenlands Schuldenlage und die Zahlungsunfähigkeit des Landes führte zu wachsenden jährlichen Budgetdefiziten und letztlich zu einer offiziellen Bankrotterklärung des Staats im Jahr 1893.
Gemäß dem griechischen Historiker Giannes Koliopoulos explodierten die Staatsschulden: “Zwischen 1876 und 1884 verdoppelten sich die nationalen Schulden. Drei Jahre später waren sie vervierfacht und 1893 lagen sie siebenfach über dem Betrag von vor 17 Jahren.”[30]
Nachdem Griechenland seinen Krieg mit der Türkei verloren hatte, der durch einem nationalen Aufstand der griechischen Bevölkerung auf Kreta 1896 ausgelöst worden war, musste es extreme hohe Entschädigungen zahlen. Folglich wurde das Land 1898 unter Kontrolle der sogenannten “Internationalen Kontrollkommission” gestellt (der Name wurde später auf Internationale Finanzkommission geändert). Griechenland wurde seine souveräne Macht durch die “Schutzmächte” genommen. Die Internationale Finanzkommission übernahm faktisch die Kontrolle über die griechischen Finanzen und garantierte die Rückzahlung der Staatsschulden. Kreta, dessen nationale Revolution zum griechisch-türkischen Krieg geführt hatte, wurde unter internationale Kontrolle gestellt und die Insel in britische, französische, russische und italienische Sektoren geteilt.
Griechenlands Abhängigkeit vom britischen Empire wurde durch den besonderen Charakter der griechischen Bourgeoisie noch verstärkt. Wie schon erwähnt waren die griechischen Kapitalisten hauptsächlich Händler, unter denen die Schiffseigner die wichtigsten waren. Sie waren somit nicht daran interessiert, ihr Kapital in den Aufbau einer einheimischen Industrie zu investieren, was dazu führte, dass der Prozess der Kapitalakkumulation in Griechenland sehr langsam vor sich ging und hauptsächlich vom Auslandskapital dominiert wurde. Viele der griechischen Kapitalisten wohnten nicht in Griechenland, sondern im Ausland in Europa, Russland oder dem Nahen Osten. Damit war das griechische Volk von der Unterstützung der Großmächte extrem abhängig.
Die trotzkistische Vierte Internationale meinte zur Geschichte Griechenlands nach Erlangung seiner Unabhängigkeit richtigerweise: “In Wahrheit war seine Unabhängigkeit größtenteils Fiktion. In Wahrheit war es eine Halbkolonie Britanniens, Frankreichs und Russlands, gezwungen, die Herrschaft eines ausländischen Prinzen zu dulden, der von seinen “Befreiern” oder wie sie sich selbst in jenen Tagen nannten, den “Schutzmächten”, eingesetzt wurde. Die Geschichte Griechenlands versinnbildlicht das Schicksal aller Balkanvölker wie auch aller kleinen Nationen – die Unmöglichkeit für Kleinstaaten, unter dem Kapitalismus echte Unabhängigkeit – im Gegensatz zu einer bloß formell politischen Unabhängigkeit – zu erlangen.”[31]
Diese Abhängigkeit von Fremdmächten ging Hand in Hand mit der fortwährenden Rückständigkeit der griechischen Wirtschaft, wofür eine Reihe wesentlicher Aspekte verantwortlich waren. Erstens investierten, wie gerade beschrieben, griechische Händler kaum ins Inland, sodass um 1920 nur relativ wenige Industrieunternehmen im Land existierten. 1917 gab es hier nur 35.500 IndustriearbeiterInnen. [32]
Aufgrund dieses Fehlens einer breiten Industrialisierung blieb die griechische Wirtschaft bis zum Zweiten Weltkrieg weitestgehend agrarisch dominiert. 1907 beispielsweise betrug der Anteil der ländlichen Bevölkerung 77%.
In großen Teilen Griechenlands war der kleine Grundbesitz in der Landwirtschaft vorherrschend. Die einzigen Ausnahmen gab es in den Provinzen Thessalien, Mazedonien und Thrakien. Verglichen mit anderen Ländern war die landbesitzende Klasse Griechenlands nicht groß. Nichtsdestotrotz befanden sich zu Beginn des Ersten Weltkriegs 35% allen ackerbaren Lands immer noch in Händen von Großgrundbesitzern. [33]
Gleichzeitig war die Agrarproduktion stark auf den Auslandsmarkt hin orientiert. So zeigte sie einen hohen Spezialisierungsgrad und war de facto fast eine Monokultur mit Rosinen und Tabak als Hauptexportprodukte.
Produziert wurde, auch auf den kleinen Gütern, vor allem für den Überseemarkt. Das führte zu einer relativ raschen Monetarisierung der Wirtschaft, besonders nachdem die Barzahlung von Steuern eingeführt worden war.
Griechenlands wichtiger Handelssektor war eng an die Landwirtschaft gebunden. Diese beiden Wirtschaftszweige hingen voneinander ab, denn Agrarprodukte waren die einzigen Waren, mit denen gehandelt werden konnte und die Bauernschaft brauchte die Händler, um ihre Produkte zu verkaufen.
So blieb Griechenland ein abhängiges kapitalistisches Land und wurde zu einem der rückständigsten Europas. Wie in Tabelle 2 ersichtlich war sein Industrialisierungsniveau – gemeinsam als Bulgarien – das niedrigste in Europa.
Tabelle 2: Relatives BIP pro Kopf (Spalte A) und relatives Industrialisierungsniveau (Spalte B) im Jahre 1913 [34]
Land A B Land A B
Britannien 100 100 Irland 60 —
Belgien 83 77 Italien 52 23
Frankreich 81 51 Spanien 48 19
Schweiz 81 75 Finnland 46 18
Dänemark 80 29 Ungarn 41 —
Deutschland 77 74 Griechenland 38 9
Niederlande 75 23 Portugal 35 12
Schweden 71 58 Bulgarien 32 9
Norwegen 68 26 Russland 29 17
Österreich 62 29
Nicos Mouzelis, ein fortschrittlicher griechischer Soziologe und Historiker, betont, dass sowohl Landwirtschaft als auch Industrie kaum über Großbetriebe verfügten: “Im 19. Jahrhundert war Griechenland trotz der vollständigen Integration des Landes ins Weltmarktsystem immer noch eine vorkapitalistische Gesellschaft. Sowohl in der Landwirtschaft wie auch in der Industrie waren kapitalistische Betriebe – d.h. Wirtschaftseinheiten, die eine relative hohe Zahl von Lohnarbeitskräften beschäftigten – faktisch nicht existent.”[35]
Während eine kleine Gruppe oligarchischer Familien (die sogenannten Tzakia) und Kapitalisten sich trotz der wirtschaftlichen Rückständigkeit des Landes bereichern konnte, lebte die Masse der Bevölkerung in finsterer Armut. Gemäß offiziellen Statistiken wurden 72% der Gesamtpopulation als “Besitzlose” klassifiziert, d.h. sie besaßen weder Land noch Unternehmen. Angesichts der Tatsache, dass LohnarbeiterInnen nur eine kleine Minderheit der arbeitenden Bevölkerung darstellten, wird offensichtlich, dass ländliche Armut weit verbreitet war.
Es ist daher kaum überraschend, dass viele Griechen ins Ausland gingen – v.a. in die Vereinigten Staaten. Es wird geschätzt, dass in der Zeit von 1890-1914 fast ein Sechstel der griechischen Bevölkerung auswanderte. [36]
Eine weitere Facette von Griechenlands Rückständigkeit war die Tatsache, dass die Mehrheit der Bevölkerung in Dörfern lebte – etwas, das sich nur langsam veränderte. Laut der ersten Volkszählung (durchgeführt 1861) waren 74% der erwachsenen Männer Landwirte, die ihren Unterhalt durch Bodenbearbeitung verdienten. Um 1920 war diese Zahl nahezu unverändert (70%). Und auch im Jahr 1920 lebten noch fast 52% der Gesamtbevölkerung in Dörfern mit weniger als 1.000 Seelen. [37]
Im selben Jahr lebten 17,6% der griechischen Bevölkerung in Städten mit 20.000 und 12,6% in solchen mit 100.000 oder mehr Einwohnern. (Die Zahlen für die Stadtbevölkerung in Chile im gleichen Zeitraum lag bei 32,7% und 27,1%; in Argentinien lebten 1920 27,1% in Städten mit 100.000 Einwohnern) [38]
Ungeachtet des langsamen städtischen Wachstums wuchs Athen zu einer Riesenstadt mit 453.000 Einwohnern (1920) und wurde sogar noch größer, als 1,5 Millionen Flüchtlinge aus Kleinasien 1922 nach Griechenland kamen.
Ein weiteres wichtiges Kennzeichen eines unabhängigen kapitalistischen Griechenland ist die enorme Rolle, die der Staatsapparat spielte. Während der 1870er Jahre lag die Anzahl der Beamten pro 10.000 Einwohnern fast siebenmal höher als in Großbritannien! [39] Solch ein monströser administrativer Apparat war nötig, um diese rückständige Gesellschaft zusammenzuhalten, eine Armee für Griechenlands Expansionspläne zu führen und auch um die Aktivierung von Ressourcen für die Modernisierung zu ermöglichen. Weiters konnte der Staatsapparat Arbeit für viele bereitstellen, die vom Land in die Stadt kamen und angesichts der kaum vorhandenen Industrie nicht auf andere Weise beschäftigt werden konnten. Natürlich gewährte ein solch aufgeblasener Staatsapparat dem politischen Überbau im Vergleich zur wirtschaftlichen Basis eine relative Autonomie.
Nichtsdestotrotz war Griechenland keine stagnierende Gesellschaft und seine Integration in den Weltmarkt stellte sicher, dass der Kapitalismus im Land voranschritt. Langsam verstärkten die kapitalistische Klasse und die neu entstehende Mittelschicht ihren Einfluss. In den Nachwehen der revolutionären Ereignisse in der Türkei durch das Türkische Komitee der Einheit und des Fortschritts (die Bewegung der Jungtürken) wurde 1909 unter der Androhung durch einen Militärputsch eine konstitutionelle Regierung in Griechenland errichtet. Das brachte Eleftherios Venizelos, einen griechischen liberalen Nationalisten aus Kreta, an die Macht. Er gründete die Liberale Partei, eine authentische Partei des griechischen Kapitalismus und beherrschte die griechische Politik für die nächsten zwei Jahrzehnte.
Venizelos initiierte eine Reihe von Reformen, die zu einer gewissen Modernisierung des Landes führten. Das schloss die Rationalisierung der Staatsverwaltung ein, die Entwicklung von Finanzinstitutionen und die Abschaffung der letzten feudalen Reste in Thessalien. Ausbildung wurde kostenlos, verpflichtend und allgemein. Ein neues Arbeitsprogramm zum Straßen- und Schienenbau wurde begonnen. Außerdem initiierte Venizelos die Modernisierung der Armee und der Marine mit Hilfe der britischen und französischen Imperialisten.
Die Jahrzehnte, in denen Venizelos regierte, repräsentierten einen Wandel in der Klassenbasis des politischen Systems, denn sowohl die alte Oligarchie als auch die Krone wurden geschwächt, während eine gestärkte kapitalistische Klasse wie auch eine neue Mittelschicht zu zentralen Akteuren in Griechenlands Politiksystem wurden. In diesem Sinn kann Nicos Mouzelis Charakterisierung einer “langen Übergangsperiode vom Vorkapitalismus zum Kapitalismus (1880-1920)” und des “bürgerlichen Übergangs der griechischen Gesellschaft” in dieser Periode zugestimmt werden. [40]
Venizelos wollte auch die sogenannte Megáli Idéa (“Große Idee”) verwirklichen – das Projekt der territorialen Ausdehnung, um alle Griechen in einem Staat zu vereinigen (was auch die Besatzung und Unterdrückung nicht-griechischer Völker einschloss) und das Land als regionale imperialistische Macht zu etablieren. Er war darin für einige Zeit recht erfolgreich, denn er vergrößerte den griechischen Staat in zwei siegreichen Balkankriegen 1912/13, sodass es danach 5 Millionen Menschen hatte, mehr als sechsmal so viel wie die ursprüngliche Bevölkerung. Griechenland umschloss nun auch Kreta, den Großteil der Ägäischen Inseln, Thessalien und sogar Teile Mazedoniens (s. Karte 1)
Karte 1: Gebietsvergrößerungen Griechenlands im Zeitverlauf [41]
Doch Griechenlands Expansionspläne endeten 1922/23 in einem Desaster, nachdem Venizelos zugestimmt hatte, die Armee – als Söldner für den britischen Imperialismus – sowohl gegen die Sowjetunion als auch nach Kleinasien gegen den neuen türkischen Staat unter Kemal Atatürk zu entsenden. Griechenland verlor diesen Krieg und musste einem reaktionären Vertrag zustimmen, der einen Bevölkerungsaustausch beinhaltete (rund 1,5 anatolische Griechen und 500.000 Muslime in Griechenland). Am Ende von Venizelos’ Abenteuer war Griechenland erschöpft und erniedrigt und tiefer verschuldet denn zuvor. Die Megáli Idéa hatte ein erbärmliches Ende erreicht.
Die Vierte Internationale fasste den Zustand Griechenlands zu dieser Zeit ganz gut zusammen: “Griechenland war zugrunde gerichtet. Das Land war zehn Jahre lang fast ununterbrochen im Krieg gewesen. Es war hoffnungslos bankrott. Die nationalen Schulden hatten fantastische Ausmaße angenommen. Die Drachme war wertlos. Das in Armut verstrickte Land von 6 Millionen Menschen wurde plötzlich überflutet mit eineinhalb Millionen heimatlosen hungernden Flüchtlingen. So endete das große “Abenteuer” der griechischen Kapitalisten.”[42]
Wir können das erste Jahrhundert des Bestehens Griechenlands als unabhängiger Staat wie folgt zusammenfassen: der griechische Kampf um nationale Unabhängigkeit war grundlegend fortschrittlich. Doch er endete mit einer halben Unabhängigkeit für einen kleinen Teil des griechischen Volks. Von Beginn an war der neugeborene griechische Staat sowohl politisch wie auch wirtschaftlich massiv abhängig von den Großmächten – Britannien, Frankreich und Russland. Die Großmächte errichteten für das griechische Volk eine Monarchie, geführt von ausländischen Königen. Die hohen Schulden des Landes führten zum Staatsbankrott und eine Internationale Finanzkommission übernahm die Führung der griechischen Finanzen.
Außerdem wurde die griechische Bourgeoisie vom Handel dominiert und hatte kein Augenmerk auf die Entwicklung einer heimischen Industrie. So blieb das Land rückständig: seine Wirtschaft war gekennzeichnet von kleinbäuerlicher Produktion und Handel und beherrscht von ein paar oligarchischen Familien, die eng mit den Großmächten verbunden waren; sein politisches System zeichnete sich durch einen monströsen Staatsapparat mit einer brüchigen Monarchie an der Spitze aus.
Die Periode Venizelos gewährte einen gewissen Grad an Modernisierung, sowohl politisch wie auch wirtschaftlich und auch hinsichtlich einer allmählichen territorialen Expansion Griechenlands. Doch Griechenland blieb in seiner Abhängigkeit von den Großmächten und dem Auslandskapital verhaftet. Und Venizelos Abenteuer, seine Armee als Fußsoldaten für den britischen Imperialismus gegen Sowjetrussland und die Türkei marschieren zu lassen, führte in eine nationale Katastrophe. Die Niederlage gegen die Türkei verursachte den Zustrom von etwa eineinhalb Millionen griechischer Flüchtlinge und der Staat war tiefer verschuldet denn zuvor.
Nicos Mouzelis beschreibt die strukturelle Schwäche der griechischen Bourgeoisie zutreffend:
“Historisch begann der griechische Kapitalismus seine Existenz vor Erlangung der Unabhängigkeit. Sie wurde nicht unter der kolonialen Vormundschaft der westlichen Mächte geschaffen. Wenngleich im internationalen Vergleich relativ klein, konnte die Bourgeoisie der griechischen Diaspora durch Ausnutzung inner-imperialistischer Rivalitäten und durch Einnahme einer vermittelnden Rolle zwischen den Zentren der Metropolen und der Kolonien beachtliche Finanzressourcen lukrieren, von denen einige ins Mutterland Griechenland flossen. Doch angesichts ihres kosmopolitischen und merkantilen Charakters wie auch aufgrund der Schwäche der heimischen Bourgeoisie trugen diese Ressourcen zur Bildung eines kopflastigen Staats und eines parasitären tertiären, mit dem Handels- und Finanzkapital verzahnten Sektors bei anstatt Industrie und Landwirtschaft zu entwickeln. Sowohl die autochthone wie die Diasporabourgeoisie konnten angesichts ihrer Position in der internationalen Arbeitsteilung ihren merkantilen Charakter nicht abschütteln. So konnten sie keinen wirksamen Beitrag zur Industrialisierung Griechenlands leisten.”[43]
II.3 Exkurs: Griechischer Chauvinismus und die Frage Mazedoniens
Die Eroberung des Ägäischen Mazedoniens ist besonders wichtig, denn es war kein Gebiet mit überwiegend griechischer Bevölkerung (siehe Karte 2).
Karte 2: Das historische Mazedonien und die heutigen Staatsgrenzen [44]
Während die genauen Zahlen zur ethnischen Zusammensetzung des Ägäischen Mazedonien vor der Annexion durch Griechenland höchst umstritten sind, ist es unzweifelhaft, dass die Region eine gemischte, multinationale und multireligiöse Bevölkerung hatte. Ebenso kann auch problemlos gezeigt werden, dass große Teile des südlichen Mazedoniens, d.h. der Region, die Griechenland 1913 annektierte, nicht vorwiegend von Griechen bewohnt war (siehe Karten 3 und 4 im Vergleich zu den geografischen Gebieten des in Karte 2 gezeigten Ägäischen Mazedonien)
Karte 3: Ethnische Zusammensetzung am Südbalkan [45]
Karte 4: Ethnische Zusammensetzung am
Südbalkan
[46]
Gemäß einer osmanischen Volkszählung Gesamtmazedoniens von 1906 lebten in der Provinz 1.150.000 Muslime, 627.000 Bulgarisch Orthodoxe und 623.000 Griechisch Orthodoxe. Auch wenn alle Griechisch Orthodoxen Griechen gewesen wären, was unwahrscheinlich ist, wären sie eine klare Minderheit gewesen. Andererseits waren Muslimen nicht nur Türken, denn ein hoher Anteil waren muslimische Slawen. [47]
Eine andere detaillierte Quelle zeigt folgende Zahlen für die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung im Ägäischen Mazedonien vor den Balkankriegen: 326.426 Mazedonier, 40.921 muslimische Mazedonier (Pomaken), 289.973 Türken, 4240 christliche Türken, 240.019 Griechen, 13.753 muslimische Griechen, 5.584 muslimische Albaner, 3.291 christliche Albaner, 45.457 Walachen, 3500 muslimische Walachen, 59.560 Juden, 29.803 Roma, 2112 Tscherkessen und 8.100 andere. [48]
Human Rights Watch liefert folgenden Bericht: “Vor dem Ersten Weltkrieg waren die Mazedonier die größte ethnische Gruppe im Ägäischen Mazedonien, doch zwischen 1913 und 1926 veränderten größere Verschiebungen in der Bevölkerung das demografische Bild der Region. Nach der Einverleibung der Region in den griechischen Staat 1913 zogen viele griechische Beamte, Lehrpersonen und Militärangehörige nach Norden und ließen sich dort nieder. Während der Zeit nach den Balkankriegen verließen tausende Mazedonier und SerbInnen freiwillig das griechische Mazedonien nach Bulgarien; die Minderheitenrechtegruppe schätzt die Zahl auf etwa 15.000. Nach dem griechisch-bulgarischen Übereinkommen vom November 1919 verließen zwischen 52.000 und 72.000 weitere Slawen das Land in Richtung Bulgarien. Parallel dazu ließen sich hunderttausende Griechen aus der Türkei, aus Bulgarien und Vardar-Mazedonien in Nordgriechenland nieder, die Schätzungen reichen von 500.000 bis 618.000. So veränderte sich der ethnische Charakter des Ägäischen Mazedoniens enorm; Mazedonier wurden zu einer nummerischen Minderheit und die Zahl der Menschen im Ägäischen Mazedonien, die eine eher griechische als eine mazedonische Nationalidentität hatten, nahm bedeutend zu.”[49]
Sogar die griechischen Historiker Koliopoulos und Veremis müssen berichten, dass von 160.000 in Thessaloniki, der Hauptstadt des Ägäischen Mazedonien, lebenden Personen “50.000 Balkanchristen (vorwiegend Griechen), 61.500 Juden und 45.000 Muslims (waren), während der Rest Westeuropäer waren sowie Personen aus verschiedenen anderen Nationalitäten.”[50] Mit anderen Worten, während die griechischen Autoren (verdächtigerweise) behaupten, dass die meisten “Balkanchristen” Griechen waren, müssen sie dennoch zugeben, dass sie nur 31% der Bevölkerung Thessalonikis bildeten.
Sofort nach der Besatzung begann die griechische Regierung, die Mazedonier systematisch zu vertreiben. Zur selben Zeit siedelten sie ethnische Griechen in dieser Region an, um die ethnische Zusammensetzung zu ihren Gunsten zu verändern.
Koliopoulos und Veremis berichten: “Zwischen dem Ende der Balkankriege und dem Beginn des Ersten Weltkriegs siedelten etwa 130.000 Griechen in Mazedonien, 20.000 auf den Ägäischen Inseln und 30.000 am griechischen Festland. In der gleichen Periode nahm die Türkei etwa 122.665 muslimische Flüchtlinge auf.”[51]
Die Griechen “brannten Kukus, das Zentrum der bulgarischen Politik und Kultur, nieder, ebenso Serres und Drama. Bulgarisch (einschließlich der mazedonischen Dialekte) war verboten und sein heimlicher Gebrauch wurde, sobald entdeckt, lächerlich gemacht oder bestraft.”[52]
Teil dieser “Hellenisierungspropaganda” ist die Politik, eine spezifisch (slawisch) mazedonische Identität zu verleugnen. (Dasselbe gilt übrigens für serbische und bulgarische Chauvinisten). Mazedonier wurden üblicherweise als “Bulgaren” bezeichne. Bis heute leugnet die griechische Regierung die Existenz einer mazedonischen Minderheit in Nordgriechenland und zeigt eine Politik erzwungener Assimilation gegen die slawisch-sprachigen Einwohnern des griechischen Mazedoniens. Nach 1913 wurden alle slawischen Personen- und Ortsnamen hellenisiert und jeder Hinweis auf slawische Bildung wurde zerstört.
Eine mazedonische Nation tauchte im späteren 19. Jahrhundert auf und kämpfte viele Jahrzehnte um Unabhängigkeit – am bekanntesten im Ilinden-Aufstand von 1903. Die Avantgardeorganisation des mazedonischen nationalen Befreiungskampfs war die kleinbürgerliche nationalistische Vatreshna Makedonska Revolyutsionna Organizatsiya (VMRO, Heimatliche Mazedonische Revolutionäre Organisation), die für ein autonomes Mazedonien als Teil einer Balkanföderation kämpfte. Die VRMO spaltete sich in den 1920ern und ein Flügel nahm enge Verbindungen mit der Kommunistischen Internationale auf.
Kurz, die griechische Regierung unternahm einen massiven und brutalen Feldzug, um das Ägäische Mazedonien so weit wie möglich ethnisch von allen nicht-griechischen Völkern zu säubern und es durch Ansiedlung griechischer Flüchtlinge in dieser Region zu “hellenisieren”. Zehntausende flohen nach der Annexion des Ägäischen Mazedonien durch Griechenland 1913 nach Bulgarien. Nach dem Ersten Weltkrieg flüchteten weitere 220.000 aus dem Ägäischen Mazedonien und Thrakien nach Bulgarien. In den 1920ern weitere 66.000 MazedonierInnen. Trotz dieses Feldzugs der ethnischen Säuberung lebten nach offiziellen griechischen Zahlen 1925 noch 162.500 Mazedonier im Ägäischen Mazedonien. [53]
In den 1920ern setzte die Regierung ihre Politik der “Hellenisierung” des Ägäischen Mazedonien fort und vertrieb weitere Mazedonier. “Mitte der 1920er vertrieb Griechenland etwa 53.000 Bulgaren aus dem griechischen Thrakien und Mazedonien, um Platz für 638.000 griechische Flüchtlinge von den Ufern Kleinasiens schaffen. Von nun an bestanden 89% der Bevölkerung des griechischen Mazedoniens aus Griechen, während das griechische Thrakien tatsächlich von Bulgaren gesäubert war.”[54]
Wir sehen also, dass die griechische herrschende Klasse allmählich in ihrem chauvinistischen Programm der Vertreibung der ursprünglichen slawischen Bevölkerung Erfolg hatte. In den 1920ern vertrieb sie auch die muslimischen griechischen Vallahaden aus dem westlichen Teil des Ägäischen Mazedonien. Folglich lebt heute der Großteil der heimischen muslimischen Minderheit Griechenlands (d.h. ohne die kürzlich angekommenen muslimischen Migranten) in der griechischen Region Thrakiens. Seit den 1920er Jahren wurden etwa 250.000 Muslime gezwungen, Westthrakien zu verlassen. [55] Etwa die Hälfte der verbleibenden 110.000 der einheimischen muslimischen Minderheit sind ethnisch türkischen Ursprungs, davon 35% Pomaken und 15% Roma.
Schließlich vertrieb die griechische herrschende Klasse in einer weiteren Welle Mazedonier im Gefolge der konterrevolutionären Niederlage der griechischen KommunistInnen im Bürgerkrieg von 1946-49. Koliopoulos und Veremis berichten, dass 1947 zwischen 200.000 und 300.000 Menschen aus dem Land flohen und schließlich 1949 über 700.000 Griechenland verlassen hatten. Das waren fast 10% der Bevölkerung Griechenlands. Darunter waren viele Mazedoniern, wegen ihrer überdurchschnittlich großen Unterstützung für den kommunistischen Aufstand. [56]
Die brutale Unterdrückung und die Politik der erzwungenen Assimilation der Mazedonier dauert bis heute an. Der griechische Staat erkennt sie nicht als offizielle Minderheit an. Mazedonische AktivistInnen wie auch solche aus der extremeren Linken, die die mazedonische Frage erheben, sind wiederholt verfolgt und inhaftiert worden.
Wegen ihrer Unterdrückung hat die Zahl der Mazedonier drastisch abgenommen. Es gibt stark unterschiedliche Berichte über die aktuelle Zahl der Mazedonier in Nordgriechenland. Die griechischen Behörden erteilen keine Auskunft. Laut US-Außenministerium gibt es zwischen 20.000 und 50.000 mazedonisch-sprechende Menschen in Nordgriechenland. Die von der Republik Mazedonien angegebenen Zahlen liegen zwischen 230.000 und 270.000 für das Jahr 1993. [57]
Der reaktionäre Charakter des griechischen Chauvinismus ging sogar so weit, dass sich Athen weigerte, den Namen der Republik Mazedonien, die nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens 1991 entstanden ist, anzuerkennen. Unter der erznationalistischen Losung “Mazedonien ist griechisch” mobilisierten fast alle politischen Parteien, die Medien, die orthodoxe Kirche usw. zwei Kampagnen 1992 und 1994 mit hunderttausenden Teilnehmern. [58] Weiters verweigert Athen der Mazedonischen Republik die Verwendung des Sterns von Vergina in ihrer offiziellen Flagge (und die mazedonische Regierung musste tatsächlich nachgeben und ihre offizielle Flagge 1995 verändern). Griechenland errichtete Mitte der 1990er sogar ein Embargo gegen die Republik Mazedonien.
Als Ergebnis kämpfen mazedonische Organisationen weiterhin gegen die Unterdrückung. “Mazedonische Menschenrechtsgruppen wollen von der griechischen Regierung die Anerkennung der Existenz einer mazedonischen Minderheit in Griechenland. Sie arbeiten daran, die Diskriminierung der Mazedonier in Griechenland auf den Gebieten des Bildungswesens und der Beschäftigung wie auch im gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben zu beseitigen. Sie wollen, dass Mazedonier in Griechenland das Recht haben, Gottesdienste auf Mazedonisch zu zelebrieren, ihre Bildung in der Primar- und Sekundarstufe mazedonisch zu absolvieren, Zeitungen auf Mazedonisch zu veröffentlichen und Radio und Fernsehsendungen auf Mazedonisch auszustrahlen. Sie wollen auch das Recht auf mazedonische Kulturorganisationen wie das Zentrum für mazedonische Kultur, das 1984 in Florina gegründet wurde. Vier Entscheidungen des griechischen Gerichts haben die Gewährung der gesetzlichen Anerkennung des Zentrums für mazedonische Kultur verweigert mit der Begründung, dass dessen Absicht darin liegt, den Gedanken der Existenz einer mazedonischen Minderheit in Griechenland zu verbreiten, was den nationalen Interessen Griechenlands entgegensteht und daher illegal ist.”[59]
II.4 Griechenland als rückständiges kapitalistisches Land zwischen den beiden Weltkriegen
Die Periode zwischen den beiden Weltkriegen brachte einige wichtige Veränderungen für den griechischen Kapitalismus. Der Zustrom von 1,5 Millionen griechischen Flüchtlingen – in ein Land, das davor eine Gesamtbevölkerung von 5,5 Millionen hatte – hatte gewaltige Auswirkungen. Er verschaffte den griechischen Kapitalisten eine neue Quelle billiger Arbeit. Viele dieser Flüchtlinge waren gut ausgebildet, waren in Kleinasien und Ostthrakien, ihrer früheren Heimat, Akademiker, Händler, Industriearbeiter usw. gewesen.
Außerdem kamen viele Menschen vom Land in die Städte. Großathen (unter Einschluss der nahen Hafenstadt Piräus) wuchs von 453.000 (1920) auf 1.123.109 (1940) Einwohner. In derselben Zeit wuchs die Bevölkerung Thessalonikis von 174.390 auf 278.145 Einwohner.
Das Angebot billiger, ausgebildeter Arbeitskräfte und der Niedergang des traditionellen Handels regte die erste bedeutsame Kapitalakkumulation in der Produktion an. Investitionen in arbeitsintensive Bereiche wurden getätigt: Textil, Leder, Lebensmittelverarbeitung, Schiffsreparaturen, Druck. Gleichzeitig machte der Staat die ersten systematischen Versuche, die Produktion über Einführung protektionistischer Maßnahmen zu fördern (z.B. Einführung von Zollgebühren, Kontrolle der Handelstransaktionen). Folglich entstand ein kleines Industrieproletariat. 1928 waren 15% der Arbeitskräfte im Industriebereich beschäftigt. Alles in allem wuchs die industrielle Arbeiterklasse von 35.500 (1917) auf 140.000 (1938).
Die Regierung erstellte auch ein Programm der Agrarreform, das zu einer Neuverteilung von 35% des fruchtbaren Landes auf 305.000 Familien führte. Große Landbesitzer wurden enteignet und ihr Land aufgeteilt. Diese Großgrundbesitzer wurden vollständig entschädigt und dank dieser Zahlungen oftmals zu Kapitalisten. Ihre Entschädigung wurde zu 1/3 vom Staat und zu 2/3 von den Bauern, die dieses Land erhielten, bezahlt. Letztere mussten ihre Schulden den früheren Landbesitzenden binnen 30 Jahren abbezahlen – eine Summe, die ihre bereits vorhandenen hohen Schulden noch mehr erhöhten. Da ihre Grundstücke so klein waren, fristeten diese Bauernfamilien ein ärmliches Leben.
Trotz dieser Entwicklungen blieb Griechenland im Vergleich mit anderen europäischen kapitalistischen Ländern ein rückständiges Land. Landwirtschaft blieb der bei Weitem dominante Sektor hinsichtlich Ertrag, Beschäftigung und Export. 1928 waren immer noch 68% der Beschäftigten in der Landwirtschaft. Industriebetriebe waren meist klein, d.h. Handwerk und Kunstgewerbe. [60] 1930 beschäftigten 93,2% der Produktionsbetriebe weniger als fünf Personen. [61]
Griechenland war nicht im Stande, den Status eines vorwiegend abhängigen halbkolonialen Landes zu überwinden. Fremdkapital dominierte die griechische Ökonomie nicht nur über Darlehen, sondern auch direkt. 1929 waren von 131 Versicherungsgesellschaften nur 15 in griechischer Hand! 75-80% des griechischen Tabakhandels, eines der wichtigsten Exportgüter des Landes, wurden von ausländischen Kapitalisten kontrolliert. [62]
Das Land steckte in einer permanenten wirtschaftlichen Krise. Jahr um Jahr betrug das Handelsdefizit mindestens 50%. Ein Viertel des nationalen Einkommens wurde jährlich zur Begleichung dieser Schulden ausgegeben; weitere 20% gingen an das Militär und 14% wurden für die Aufrechterhaltung der Regierungsbürokratie verwendet. Die bereits hohen Steuern wurden massiv erhöht. Die Lebenshaltungskosten stiegen sprunghaft. Die Kapitalisten luden die volle Last von Militärdesastern, Auslandsdarlehen und die Erhaltung des riesigen Militärapparates auf die Schultern der bereits überlasteten und verarmten Massen. [63]
Die Massen blieben arm und die Arbeitslosigkeit sehr hoch. Wenig überraschend setzte sich die griechische Migration fort und mit Ende 1932 betrug die Gesamtzahl der Migranten aus Griechenland in die USA 445.122. [64] Die griechischen Behörden begünstigten Emigration als Mittel dafür, die Zahlungsbilanz der heimischen Ökonomie durch Überweisungen in die Heimat zu verbessern.
Das Wachstum eines Industrieproletariats, die Diskreditierung des Regimes nach der Niederlage in Kleinasien und das Beispiel der Sowjetunion führten zu einer Verschärfung des Klassenkampfs, zum Wachstum der Gewerkschaften und der Verbreitung kommunistischer Ideen. Etwa ein Viertel der ArbeiterInnen war Mitglied der Gewerkschaften und etwa 4/5 in solchen unter dem direkten Einfluss der Kommunistischen Partei.
Mit dem Bankrott der Megáli Idéa und der erreichten Vereinigung aller Griechen in einem einzigen Staat verlor der griechische Nationalismus jeden fortschrittlichen Gehalt. Im Licht der Annexion von Gebieten mit nicht-griechischen Minderheiten (hauptsächlich slawische Mazedonier und muslimische Türken) wurde Griechenland ein Land, das seine nationalen Minderheiten unterdrückte.
Das Ergebnis dieser wirtschaftlichen und politischen Widersprüche war ein fortwährender Status der politischen Krise. Zwischen 1920 und dem Metaxas-Regime 1936 löste ein politisches Regime das nächste ab. Die bürgerlichen Parteien waren unfähig, ihre Unterstützung in den Massen in bedeutsamem Ausmaß zu festigen. Als Ergebnis trat nun die griechische Armee als Regulator des politischen Lebens auf. Kaum ein Jahr verging ohne tatsächlichen oder drohenden Putsch.
Diese Periode endete mit den schwarzen Jahren der Diktatur Metaxa und der Besatzung durch den deutschen Imperialismus. Diese Jahre verursachten verheerende Zerstörungen für Griechenland, den Raub seines Vermögens durch die Nazis und den Verlust vieler Leben. (Etwa 550.000 Personen, 8% der griechischen Bevölkerung, starben in den Jahren der Besatzung zwischen 1940 und 1944). Die Industrieproduktion fiel auf 1/3 des Niveaus vor dem Krieg und die meisten Straßen und Schienenstrecken wurden zerstört. Am Ende der deutschen Besatzung waren die Reallöhne auf geschätzte 6% ihres Vorkriegswerts gefallen. [65]
Die Jahre des Bürgerkriegs von 1946-49, als die griechischen ArbeiterInnen und armen BäuerInnen der britischen Besatzung und dem Machtaufstieg der diskreditierten reaktionären Monarchie und der Militärkamarilla Widerstand leisteten, allerdings wegen des Verrats der stalinistischen Führung verloren, erschöpften das Land noch mehr. (Der Bürgerkrieg forderte weitere 158.000 Leben.)
Die Vierte Internationale fasste den Zustand Griechenlands genau zusammen: “Griechenland gehört zweifelsohne zu den rückständigsten und ärmsten Ländern Europas. Seit über einem Jahrhundert ist es zum Status einer Halbkolonie der europäischen Großmächte verdammt. Ausländische Könige wurden dem griechischen Volk auferlegt und sie haben ihre unterdrückerische Herrschaft zu Gunsten der ausländischen Banken und der kleinen Clique griechischer Kapitalisten und Landbesitzenden ausgeübt. Das griechische Volk wurde in schreckliche Armut getrieben. Das durchschnittliche griechische Pro-Kopf-Einkommen beträgt 17% des durchschnittlichen britischen Einkommens. Der Reichtum des Landes wurde von westlichen Banken und den griechischen Kapitalisten abgeschöpft. Für die Massen blieb wenig über.”[66]
II.5 Der widersprüchliche Modernisierungsprozess nach dem Ende des Bürgerkriegs bis zum EU-Beitritt
Nach dem Ende des Bürgerkriegs war Griechenland nach fast einem Jahrzehnt Besatzung, Krieg und Herrschaft durch eine reaktionäre Clique korrupter Politiker um den diskreditierten König erschöpft. Das Land blieb vom westlichen Imperialismus massiv abhängig, obwohl jetzt die USA Britannien als dominante Macht abgelöst hatten. Das Land wurde zu einem Außenposten gegen den Sowjetblock und in die NATO integriert.
Angesichts der konterrevolutionären Übereinkunft durch das Abkommen des westlichen Imperialismus und der Sowjetbürokratie (das sogenannte Yalta-Abkommen), das die revolutionären Entwicklungen von 1943-48 befriedete und liquidierte, erfuhr der Weltkapitalismus eine lange Boomperiode, die bis in die späten 1960er und frühen 1970er Jahre anhielt. Vor diesem Hintergrund des globalen Wachstums der Produktivkräfte durchliefen fast alle Länder einen Industrialisierungs- und Modernisierungsprozess. So auch Griechenland.
Der Imperialismus hatte ein besonderes Interesse daran, das griechische Regime in dieser Periode zu stabilisieren, denn hier war einer seiner Außenposten im Kalten Krieg. Griechenland erhielt also riesige Summen aus den USA, die dem Regime erlaubten, seine Herrschaft zu stabilisieren. Laut dem griechischen Historiker Giannes Koliopoulos “betrug die amerikanische Hilfe zwischen 1947 und 1957 etwa die Hälfte der staatlichen Investitionsausgaben.”[67]
Die Fülle des US-Kapitals und die relative Stabilität des von einem pro-amerikanischen Regime geführten Griechenlands schufen die Vorbedingungen für einen Anstieg bei den Auslandsinvestitionen und in Verbindung damit für weitere Industrialisierung.
Griechenland erlebte daher in den 1950ern und 1960er Jahren eine Periode raschen Wachstums. Die durchschnittliche Wachstumsrate 1950-73 (6,21%) lag über der durchschnittlichen Rate für Westeuropa (4,08%), wie in Tabelle 7 ersichtlich ist.
Die Rolle der Industrie wuchs und so stellten 1961 die Industriearbeiter 17% der Beschäftigten.
Doch diese Industrieinvestitionen hatten ein paar besondere Merkmale. Erstens gab es lange Zeit relativ wenige Investition in den Kernbereich der kapitalistischen Wertschöpfung – die Produktion. Der griechische Soziologe Valia Aranitou schreibt:
“Das Hauptbereich der erweiterten Reproduktion des Kleinbürgertums war ursprünglich der Baubereich. Bezeichnend dafür ist die Tatsache, dass der Großteil der Investitionen – phasenweise von bis zu 35% (v.a. in den 1950-60er Jahren) – in den Baubereich ging, während in derselben Zeit der Produktionsbereich nur 2,1% erreichte. Das ‘Wirtschaftswunder’ des Nachkriegsgriechenland fand hier statt.”[68]
Während die Investitionen in die Produktion später anstiegen – Mitte der 1960er ging fast ein Drittel der industriellen Neuinvestitionen in den Halbfertigprodukten- und Investitionsgütersektoren –, entwickelte sich anders als in anderen Teilen Südeuropas keine maschinelle Metallindustrie zur Vorantreibung der Vollindustrialisierung.
Zweitens führte Industrieinvestition nur in geringem Ausmaß zur Modernisierung des Rests der Wirtschaft. Große Industrieunternehmen blieben das, was Nicos Mouzelis damals “kapitalintensive Enklaven” in einem klassisch unterentwickelten Land nannte.
Drittens blieb die Gesamtproduktion kapitalistischer Wertschöpfung weiter stark abhängig vom ausländischen imperialistischen Kapital, wenngleich sich eine neue industrielle griechische Bourgeoisie bildete. Ausländische Kapitalinvestitionen waren der entscheidende Faktor des Wirtschaftswachstums im Boom der 1960er und frühen 1970er. Laut Nicos Poulantzas, einem griechischen eurokommunistischen Theoretiker, waren die griechischen Ableger der imperialistischen multinationalen Konzerne für etwa 45% des Wachstums in der Industrieproduktion verantwortlich. Seine Beschreibung dieses Prozesses als “abhängige Industrialisierung” ist daher ziemlich zutreffend. [69]
Bis 1966 machten Auslandsinvestitionen fast 50% der gesamten Industrieinvestition aus. Laut Efharis Skrevelis “repräsentierten 1978 Unternehmen unter ausschließlich ausländischer Führung oder mit einem überwiegenden Anteil ausländischen Kapitals weniger als 1% der Gesamtzahl der Unternehmen mit mehr als 25 MitarbeiterInnen. Doch sie repräsentierten 39,5% des Gesamtinvestitionsvolumens in diesen Branchen (Chemie, Petrochemie, Metall, Schiffsbau und Elektroartikel; Red.)”[70]
Es blieben trotz dieses Industrialisierungsprozesses große Bereiche der griechischen Wirtschaft rückständig und dominiert von kleinbürgerlicher oder klein-kapitalistischer Produktionsweise. Der zuvor erwähnte Wert für 1930 (93,2% der Produktionsbetriebe beschäftigten weniger als fünf Personen) hatte sich 1958 nur wenig verändert (84,9%). [71] 1980 waren die meisten als “Industriebetrieb” registrierten Unternehmen immer noch Familienbetriebe, oft Handwerksbetriebe, in denen Besitzer und Familienmitglieder selbstständig arbeiteten. Von 128.000 Unternehmen beschäftigten 109.000 bis zu vier Personen (85,2%) und weitere 10.500 beschäftigen bis zu zehn Personen (d.h. 93,4% aller Industrieunternehmen beschäftigten bis zu zehn Personen). [72] 1976 gab es nur 80 Unternehmen, die mehr als 500 Beschäftigte hatten.
Viele dieser Industriebetriebe waren eigentlich nicht “industriell” im engeren Sinne, sondern eher Handwerksbetriebe. 1963 nutzten nur 41,7% der Industriebetriebe Maschinen in irgendeiner Form! [73]
Analog waren 1961 85,5% aller Agrareinheiten kleiner als 10 Hektar (dieser Wert enthüllt nebenbei den extrem langsamen Prozess der Kapitalkonzentration in Griechenlands Landwirtschaft - 1929 waren 95,4% aller Agrareinheiten kleiner als 10 Hektar). [74] 1961 waren immer noch 56% aller Arbeitskräfte insgesamt in der Landwirtschaft beschäftigt. Alles in allem hatte Griechenland die ausgeprägteste Landaufsplitterung in kleine Güter in ganz Europa. [75]
Ein weiteres Anzeichen für die Rückständigkeit des Landes, nun auf gesellschaftlicher Ebene, war das Fortbestehen des Analphabetismus. 1971 konnten 14,8% der Bevölkerung über 10 Jahren nicht lesen und schreiben. [76]
Seit Mitte der 1970er spielten Industrieinvestitionen keine dynamische Rolle mehr in der griechischen Wirtschaft und durchliefen sogar einen ständigen und fortschreitenden Abstieg.
Griechenlands chronische Rückständigkeit wie auch die politische Unterdrückung nach der Niederschlagung der Kommunisten im Bürgerkrieg (1945-49) sowie die Periode der Militärdiktatur (1967-74) setzten eine neue massive Migrationswelle in Gang. Diese Welle dauerte fast zwanzig Jahre lang, mit Beginn in den 1950er Jahren bis in die Mitte der 1970er Jahre. Schätzungsweise 1,2 Millionen verließen Griechenland und gingen nach Nordamerika, Australien und Westeuropa. Laut offiziellen Statistiken migrierten zwischen 1955 und 1973 603.000 Griechen nach Deutschland, 170.700 nach Australien, 124.000 in die Vereinigten Staaten und 80.200 nach Kanada. [77]
Die folgende Beobachtung des sozialistischen Theoretikers James Petras kann daher nur bestätigt werden: “Wenn sich die Form der griechischen Wirtschaft und Gesellschaft nichtsdestotrotz dennoch in den späten 1950ern und 1960ern zu ändern begann, so kam der Anstoß dazu in überwältigendem Ausmaß aus den industriellen Kernländern Westeuropas. Einerseits stellten Dörfer und Städte mit ihren Arbeitslosen und Unterbeschäftigten bis zu einem Zehntel der Bevölkerung – und beträchtlich mehr unter jenen im Erwerbsalter -, sodass sich viele Griechen den Türken und Jugoslawen im Migrationszug nach München und darüber hinaus anschlossen und mit ihren Überweisungen dazu beitrug, in Griechenland selbst Nachfrage nach den Exportprodukten vom Fließband im Norden zu schaffen. Andererseits initiierte das Auslandskapital eine bedeutsame Verlagerung weg von der traditionellen Industrie hin zum kapitalintensiven Chemie- und Metallsektor herbei.” [78]
Der aufgeblasene Staatsapparat spielte weiterhin eine zentrale Rolle für den griechischen Kapitalismus der Nachkriegszeit. In den Jahren 1954-63 wurden 33,4% der Bruttokapitalinvestitionen vom Staat geleistet. [79] Außerdem spielte der Staat eine vorherrschende Rolle im Bankensektor. Auch steigerte sich der Anteil der Investitionen durch öffentliche Betriebe an der Bruttoanlagekapitalbildung von 27,7% (1975) auf 42,6% (1985).
Ein weiterer Grund für die Aufblähung des Staatsapparats war die Notwendigkeit der herrschenden Klasse, eine große stehende Armee von 160.000 Mann aufrechtzuerhalten, sowohl um die heimische ArbeiterInnenklasse unter Kontrolle zu halten wie auch Griechenlands Verpflichtungen als NATO-Mitglied zu erfüllen.
Das Ergebnis dieser Entwicklungen war, dass nach Nicos Mouzelis “eine sehr enge Kollaboration zwischen dem griechischen Staat und dem Auslandskapital (bestand, Red.), eine Partnerschaft, in der das Auslandskapital die dominante Position einnahm.”[80]
In diesem Zusammenhang ist es wichtig daran zu erinnern, dass in dieser Periode wichtige Veränderungen innerhalb des imperialistischen Lagers stattgefunden haben. Während die USA die hegemoniale imperialistische Macht blieb, sank ihr Einfluss, während jener der westeuropäischen imperialistischen Mächte entsprechend wuchs und sich dem der USA im Lauf der Bildung dessen, was später die Europäische Union genannt werden sollte, annäherte. Das brachte die griechische Regierung dazu, die Mitgliedschaft in der EG/EU anzustreben, ein Prozess, der 1981 abgeschlossen wurde.
Alles in allem war Griechenland auch in dieser Periode nicht im Stande, seine grundlegenden strukturellen Schwächen zu überwinden und blieb eine abhängige entwickelte Halbkolonie. Nicos Mouzelis streicht die Ähnlichkeiten zwischen der Entwicklung des griechischen Kapitalismus und den entwickelten Halbkolonien in Lateinamerika (wie Argentinien oder Chile) pointiert heraus. Er fasst dies folgenderweise zusammen:
“Trotz seiner beeindruckenden Wachstumsraten während der 1960er und 1970er Jahre ähnelt das griechische Modell der Kapitalakkumulation sehr dem der lateinamerikanischen Länder, die zur selben Zeit eine auslandskapitalgesteuerte Form der Industrialisierung erlebten. In dieser Hinsicht sollen folgende Punkte festgehalten werden.
1) Griechenland erlebte in den 1960er Jahren hauptsächlich aufgrund von Auslandskapital (das sich auf Schlüsselbereiche der Wirtschaft wie Metallurgie und Chemie orientierte) ein beachtliches Industriewachstum. Das zeigte sich nicht nur durch die rasche Ausweitung des Produktionssektors, sondern auch durch eine eindeutige Verlagerung von der Produktion leichter Verbrauchsgüter hin zu Kapitalgütern und Gebrauchsgütern sowie einen deutlichen Anstieg der Industrieexporte.
2) Wie in vielen anderen Ländern an den kapitalistischen Randgebieten interagierte diese ‘späte’, auslandskapitalgesteuerte Industrialisierung mit dem Rest der Wirtschaft in der Art, dass ernsthafte Störungen und Engpässe entstanden. Sowohl in Industrie wie in der Landwirtschaft setzt sich die Kleinwarenproduktion in bedeutenden Bereichen durch, deren Verbindungen mit dem ‘modernen’ Industriesektor eindeutig negativ sind. Eines der offensichtlichsten Merkmale der griechischen Industrie ist das Bestehen der kleinen, wenig produktiven Einheiten, Seite an Seite mit großen kapitalistischen Firmen, die den Markt dominieren. Diese kleinen Einheiten bleiben im Ganzen gesehen unspezialisiert, höchst ineffizient und ständig an der Grenze zwischen nacktem Überleben und Bankrott.”[81]
Zusammenfassend erfuhr Griechenland in den Nachkriegsjahren bis in die 1970er Jahre einen Prozess der Modernisierung und Industrialisierung. Zum ersten Mal entstand eine beachtliche heimische Industrie. Griechische Schiffsmagnaten, eine kosmopolitische Schicht, die oft im Ausland lebt und nur bis zu einem bestimmten Grad Teil der nationalen herrschenden Klasse ist, lenkten einiges an Investitionen in die griechische Industrie. Doch Griechenland blieb wirtschaftlich und politisch vom westlichen Imperialismus abhängig. Seine Wirtschaft wurde weiterhin von kleinen Unternehmen dominiert, unter den Großbetrieben spielten ausländische Gesellschaften eine entscheidende Rolle und ein beträchtlicher Teil der öffentlichen Ausgaben wurde durch Auslandsdarlehen finanziert. Griechenland war von Anfang an NATO-Mitglied und seine Regime, v.a. seine Armee, war de facto Kuli des US-Imperialismus.
II.6 Exkurs: die griechischen Schiffseigentümer – eine halbe Diaspora-Bourgeoisie
In diesem Abschnitt soll die Auseinandersetzung mit den besonderen Merkmalen eines Schlüsselbereichs der griechischen Bourgeoisie erfolgen, den Schiffsmagnaten. Ihre bedeutsame Rolle in der griechischen Bourgeoisie wird durch die Tatsache unterstrichen, dass die Schifffahrt heute 7% zum griechischen BIP beiträgt. [82]
Wie bereits oben erwähnt begann die griechische Bourgeoisie als handel-betreibende kapitalistische Klasse und blieb das für lange Zeit. Diese Händlerklasse lebte in großem Ausmaß außerhalb des griechischen Staats. Das bedeutete nicht, dass sie von Griechenland abgetrennt war oder dass sie nicht bedeutenden Einfluss gehabt hätte. Wie Nicos Mouzelis schreibt:
“Natürlich stimmt es, dass im 19. Jahrhundert die autochthone Handelsklasse recht schwach war. Doch ihr Äquivalent im Ausland, die griechischen Händler und Schiffseigentümer in der Diaspora, mit ihrer beachtlichen Finanzkraft, beeinflusste die Bildung der meisten Institutionen im Griechenland des 19. Jahrhunderts. Tatsächlich ist es keine Übertreibung zu sagen, dass das Wesen und die Entwicklung der griechischen Gesellschaft nicht zu verstehen sind ohne die Handelsgemeinden, die sowohl in den Kolonialzentren (Alexandria, Kairo, Khartum etc.), in den größeren Hauptstädten des Europas des 19. Jahrhunderts wie auch in Konstantinopel und Kleinasien blühten. Zum Beispiel kann das ‘aufgeblasene’ Bildungssystem Griechenlands nicht verstanden werden (Griechenland hat im Verhältnis zu seiner Bevölkerung eine der höchsten Akademikerraten weltweit) ohne Bezug auf die Bourgeoisie in der Diaspora.”[83]
In vergangenen Jahrhunderten spielten die griechischen Schiffseigentümer eine zentrale Rolle im internationalen Seefahrtswesen. Während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden sie zur dominanten Kraft in dieser globalen Branche und haben ihre Position bis heute gehalten. Ihr Anteil weltweit, der 1947 bei kaum 1% lag, explodiert bis 1970 auf 12% und stieg 2000 auf 17,4% an. [84] Der Aufstieg der griechischen Schiffseigentümer kann auch in Abbildung 1 gesehen werden, die zeigt, wie sie im Vergleich zu ihren Hauptkonkurrenten Japan, Britannien und Norwegen an die Spitze gelangten.
Abbildung 1: Wachstum der größten Flotten, 1949–93 [85]
Wie erwähnt sind die griechischen Schiffseigentümer ein wichtiger, aber eigentümlicher Sektor der griechischen Bourgeoisie. Historisch waren sie eine kosmopolitische Schicht, die oft im Ausland lebte – im 20. Jahrhundert meist in New York und London. Sie waren Händler, investierten aber kaum in die Produktion. Wie es der griechische sozialistische Ökonom Mihalis Malios treffend formulierte: “Griechische Magnaten sind als große Reeder bekannt, nicht als große Industrielle.”
Folglich sind die Hauptquartiere der griechischen Schifffahrtsunternehmen – v.a. der größeren Konzerne – oft nicht in Griechenland beheimatet, sondern in diesen Städten im Ausland. In Tabelle 3 ist ersichtlich, dass 1914 62% der griechischen Reedereien ihren Standort in Griechenland (Piräus) hatten und der Rest im Ausland lag. Während der griechische Anteil 1938 auf 96% stieg, fiel er 1958 auf nur 18%. Zu dieser Zeit waren 45% der Hauptstandorte in London und weitere 73% in New York. 1975 befanden sich nur noch 34% der Standorte in Piräus, doch 1990 wuchs ihr Anteil auf 66%.
Tabelle 3: Hauptstandorte griechischer Reedereien 1914-90 (Prozentsatz der Schiffstonnage) [86]
Hauptstandorte 1914 1938 1958 1975 1990
Piräus 62% 96% 18% 34% 66%
London 9% 1% 45% 39% 22%
Konstantinopel 14% – – – –
NewYork – – 37% 18% 7%
Andere 15% 3% – 9% 5%
Es war und ist typisch für griechische Schiffseigentümer, einen großen Anteil ihrer Schiffe unter billiger Flagge, d.h. unter ausländischer Flagge, fahren zu lassen. Während der zweiten Hälfte der 1940er und 1950er Jahre wurden 80-90% der liberischen Flotte und 45% der panamaischen Flotte von Griechen geführt. Auch heute fährt die große Mehrheit der griechischen Schiffe weiterhin unter ausländischer Flagge (siehe Abbildungen 2 und 3)
Abbildung 2: Griechische Schiffsflotte unter griechischer und nicht-griechischer Flagge, 1972-2000 (in Bruttotonnage [Millionen]) [87]
Abbildung 3: Griechische Schiffsflotte unter griechischer und nicht-griechischer Flagge, 1996-2006 [88]
Im griechischen Schifffahrtswesen hat es einige Veränderungen gegeben, als eine Reihe der Reeder des Landes seit den 1970ern aufgrund des in diesem Jahrzehnt einsetzenden Abflauens der Weltwirtschaft wichtige Bereiche ihres Geschäfts nach Griechenland verlagerten. Der griechische sozialistische Akademiker Michalis Spourdalakis schrieb: “Das griechische Reedereikapital, das in der Nachkriegszeit eine herausragende Position in der weltweiten Seetransportindustrie genoss, erreichte seine Grenzen, sowohl wegen des entstehenden Protektionismus wie auch wegen der Weltwirtschaftsrezession. Daher lag eine Politik, die eine stärker wettbewerbs- und exportorientierte Ressourcen- und Produktionsindustrie in Griechenland förderte, in seinem Interesse. Eine derartige Wirtschaftsausrichtung würde zumindest eine Basis für die Kompensation der im Ausland verlorenen Märkte hervorbringen wie auch neue Gelegenheiten für die Anhäufung der Gewinne eröffnen.” [89]
Doch bestimmte grundlegende Züge der griechischen Reedereien als Kernbereich der Bourgeoisie sind gleich geblieben.
Erstens lebten wie erwähnt viele griechische Reedereifamilien im Ausland. Zu einem gewissen Grad hat sich das verändert. Ioannis Theotokas und Gelina Harlaftis berichten in einer Studie, die sie über griechische Reedereifamilien geführt haben:
“Wenn in der ersten Periode das Unternehmertum der griechischen Schiffseigentümer im internationalen Umfeld der Faktor für den griechischen Erfolg war, so ist in der letzten Periode das Umfeld, das sich in Piräus für die Reederei entwickelt hat, der Antrieb für Erneuerung und Aufstieg. Wo in den ersten drei Jahrzehnten nach dem Krieg die ‘traditionellen’ Reedereifamilien wegzogen und im Ausland lebten, sammelte sich in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts das griechische Business in Piräus und das maritime Unternehmertum wurde erneuert und expandiert, die Standorte sind nun fest in Griechenland verankert.”
Nichtsdestotrotz bleiben die Schiffseigentümer zu einem hohen Grad ein Sektor der Bourgeoisie, dessen Verbindungen mit der nationalen griechischen Wirtschaft begrenzt sind: “Griechische Schiffseigentümer sind bis heute ein Beispiel für die Kontinuität der griechischen unternehmerischen Diaspora, die abhängig von den Notwendigkeiten des Seehandels und der Schifffahrt operierte. Viele Familien lebten nie in Griechenland. Und doch halten sie nach zwei oder drei Generationen, die sie in London oder New York lebten, an ihrer griechischen Identität fest und betrachten ihren Wohnort als temporär, stets bereit fortzugehen und sich im nächsten Wirtschaftszentrum anzusiedeln, wenn der Familienbetrieb es erfordert.” [90]
So bleiben die griechischen Schiffseigentümer eine halbe Diaspora-Bourgeoisie und sind nur bis zu einem bestimmten Grad (oder auf besondere Weise) Teil der nationalen herrschenden Klasse.
Zweitens, wie bereits erwähnt, sind die griechischen Schiffseigentümer eine handelnde und keine produzierende Klasse. Griechenland hat lange Zeit keine bedeutsame Rolle im Schiffsbau gespielt und nahezu keine Schiffe im letzten Jahrzehnt produziert.
Der heutige Schiffsbaumarkt wird völlig von China, Südkorea und Japan dominiert. Bei der Untersuchung der Statistiken zum weltweiten Schiffsbau in den Jahren 2003-2014 erweist sich Griechenlands Anteil in allen relevanten Kategorien (“Neubestellungen”, “Fertigstellungen” und “Auftragsbuch am Jahresende”) als buchstäblich bei 0% liegend![91]
Es ist nur logisch, dass George Gratsos, Präsident der Hellenischen Reedereikammer, über den Mangel im Schiffsbau in Griechenland klagt. Kürzlich meinte er: “Der Schiffsbau ist heute sehr eingeschränkt. Nur kleine Betriebsstätten bauen für lokale Zwecke. Frachtschiffe können in Griechenland nicht ökonomisch hergestellt werden. (…) Griechenland muss wieder in den Schiffsbau und die Schiffsreparatur mit einem neuen, wettbewerbsfähigen gesetzlichen und betriebswirtschaftlichen Rahmenwerk einsteigen.” [92]
Drittens zeigt sich Griechenlands Schwäche als kapitalistisches Land wie auch der kosmopolitische Semi-Diaspora-Charakter bedeutender Teile der griechischen Bourgeoisie in der traditionellen Abhängigkeit der Reedereien von Auslandsdarlehen. In der gesamten Geschichte des modernen griechischen Reedereiwesens war das so. Zu den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg berichten Ioannis Theotokas und Gelina Harlaftis:
“Die amerikanische Regierung unterstützte mittels ihrer Finanzinstitutionen explizit die steigende Verwendung der Billigflaggen in der unmittelbaren Nachkriegszeit; die meisten griechischen Reedereien, die Schiffe auf Kredit von amerikanischen Banken kauften, wurden ‘gedrängt’, unter Billigflagge zu fahren (…) Die ökonomischen und politischen Strukturen Griechenlands bedeuteten, dass die Regierungen nach 1951 die Macht der griechischen Seefahrergewerkschaften schwächen, aber keine finanzielle Unterstützung für die stetig wachsende Handelsflotte bereitstellen konnten. Auf diese Weise wurde der Gebrauch der Billigflagge durch griechische Handelsflotten sichergestellt.” [93]
Heute ist das griechische Kapital noch immer nicht in der Lage, die von den Reedereien benötigten Mittel bereit zu stellen. 2005 konnten griechische Banken nur etwa 1/5 der Darlehen für die griechische Schiffereiindustrie finanzieren, während 4/5 von ausländischen Banken kamen (s. Abbildung 4)
Abbildung 4: Bankdarlehen für griechische Reedereien 2001-05