Der kapitalistische Aufholprozeß in Südkorea und Taiwan - Bilanz und Analyse

von Michael Pröbsting


Vorwort der Redaktion: Im Folgenden veröffentlichen wir ein Essay von Michael Pröbsting über die Entwicklung des Kapitalismus in Südkorea und Taiwan. Die Arbeit wurde im 1996 im Journal „Revolutionärer Marxismus“ Nr.20 – dem deutsch-sprachigen Organ der Liga für eine revolutionär-kommunistische Internationale (LRKI/LFI) – veröffentlicht. Genosse Pröbsting war seit 1989 führendes Mitglied der LRKI/LFI und wurde mit einer Gruppe Gleichgesinnter im April 2011 aus der LFI ausgeschlossen, als sie sich der zunehmenden zentristischen Degeneration der LFI widersetzten. Gemeinsam mit Genossinnen und Genossen in Pakistan, Sri Lanka, USA und Österreich bauten sie eine neue internationale Organisation auf – die Revolutionär-Kommunistische Internationale Tendenz (RCIT). Genosse Pröbsting ist Internationaler Sekretär der RCIT.

 

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I. Einleitung

 

Für Marxisten stellt die politische und ökonomische Entwicklung in Ost- und Südostasien zweifelsohne eine zentrale Herausforderung dar. Einerseits weil das sogenannte "asiatische Modell" von immer mehr Seiten selbst innerhalb der Arbeiterbewegung stille und weniger stille Bewunderer findet. Andererseits und vor allem deswegen, weil der Marxismus als wissenschaftlicher Sozialismus verpflichtet ist, alle wichtigen Entwicklungen und Veränderungen der gesellschaftlichen Realität auf dem Gebiet der Politik und Wirtschaft sorgfältig zu analysieren und die sich daraus ableitenden Bedingungen und Perspektiven für den proletarischen Klassenkampf zu definieren.

 

Auf den ersten Blick nicht verwunderlich jubeln die Apologeten der freien Markwirtschaft über den Erfolg des Kapitalismus in dieser Region. [1] Nach dem angeblichen Beweis für die Unmöglichkeit des Sozialismus in Form des Zusammenbruchs des Stalinismus glauben sie nun, einen zweiten, positiven Beweis für die Überlegenheit des Kapitalismus gefunden zu haben. Neben einer Unzahl von akademischen und journalistischen Büchern und Artikeln hat auch das Think Tank der Weltbank eine umfassende Studie "The East Asian Miracle" herausgegeben. [2] Die bürgerlichen Ökonomen behaupten in Ostasien endlich den Beweis gefunden zu haben, daß im Grunde genommen alle sogenannten Entwicklungsländer innerhalb einiger Jahrzehnte ihre Rückständigkeit überwinden können - vorausgesetzt sie betreiben die richtige pro-Marktwirtschaftspolitik. Die Konsequenz daraus ist, daß die III.Welt-Länder eigentlich selber an ihrem Schicksal schuld seien. Ohne den Funken eines Selbstzweifels glauben sie, die rapide Industrialisierung Ostasien als ideologische Waffe gegen den Marxismus verwenden zu können.

"The Asian NICs are delivering a second Shock to Marxism...." [3]

 

Nicht nur die Vordenker der Bourgeoisie blicken bewundernd nach Osten, immer größere Teile der sozialdemokratischen Bürokratie preisen öffentlich die Länder Ostasiens als zukunftsweisendes Beispiel eines schlanken Wohlfahrtsstaates. Das jahrzehntelang innerhalb der reformistischen ArbeiterInnenbewegung vorherrschende Model der regulierten Marktwirtschaft, in der der Staat von oben nach unten umverteilt und die soziale Wohlfahrt ausbaut, scheint ausgedient zu haben. Und schließlich mehren sich auch die Freunde Asiens in den Reihen der kritischen Intelligenz.

 

Doch das Hauptmotiv für eine marxistische Analyse des "Wirtschaftswunders" in Ostasien liegt nicht so sehr in der notwendigen Antwort auf die intelligenten und weniger intelligenten Attacken auf die Marx'sche Politische Ökonomie. In erster Linie geht es umfassende Erklärung der rasanten Entwicklung des ostasiatischen Kapitalismus in den vergangenen Jahrzehnten, einer konkreten Einschätzung des politischen und ökonomischen Charakters dieser Staaten, ihrer Zukunftsaussichten sowie einer Bilanz und Perspektiven der Arbeiterklasse in dieser Region. Schließlich geht es auch um eine Einordnung der Entwicklung Ostasiens - das in den letzten Jahrzehnten die intensivste Wachstumsperiode der ganzen kapitalistischen Epoche durchlebten - in die Lenin'sche Imperialismustheorie.

 

II. Ein paar Kleinigkeiten "vergessen":

Eine erste Antwort auf die Kritiker des Marxismus

 

Die unkritische Hochjubelei der Entwicklung des ostasiatischen Kapitalismus ist bereits fragwürdig genug. Die verallgemeindernden Schlußfolgerungen der Marktschreier des Kapitalismus über die prosperierenden Wirtschaftsaussichten der Halbkolonien [4] und die angebliche Widerlegung des Marxismus lassen sich jedoch nur als vorsetzliche Lüge und unüberbietbare Ignoranz charakterisieren. Während wir über die genaue Einordnung der Entwicklung Ostasiens in die marxistische Imperialismustheorie später in einem eigenen Kapitel eingehen werden, seien die bürgerlichen Kritiker hier kurz an ein paar "Kleinigkeiten" erinnert.

 

Die von den Bürgerlichen als die vier "Tiger" oder auch "Newly Industrialized Countries" (NIC's) [5] bezeichneten Länder - Südkorea, Taiwan, Hongkong und Singapur - haben zwar tatsächlich seit Jahrzehnten ein fast ununterbrochen massives Wirtschaftswachstum erlebt. Aber zur gleichen Zeit prägten schwache Wachstumszahlen oder gar Stagnation den "Rest" - also die große Mehrheit der halbkolonialen Staaten Lateinamerikas, Afrikas und Asiens. Diese vier "Tiger" machen in Wirklichkeit nur 2% der gesamten Bevölkerung der III.Welt aus. Aufgrund spezifischer Bedingungen - die wir unten darlegen werden - gelang es ihnen jedoch, heute für 7% des Brutto-Inlandsproduktes (BIP), 20% des Welthandels und 60% der Industrieexporte der III.Welt verantwortlich zu sein. Dies unterstreicht den Ausnahmecharakter Ostasiens, der eben alles andere als stellvertretend für die halbkoloniale Welt ist.

 

Eine jüngst veröffentlichte Studie (eines für die Weltbank tätigen Ökonomen) berechnete die weltweite Entwicklung des BIP pro Kopf in Kaufkraftparitäten [6]. Der Autor bringt das traurige Ergebnis auf den Punkt:

"Vergessen sie Konvergenz - das überwältigende Kennzeichen moderner Wirtschaftsgeschichte ist eine massive Divergenz der Pro-Kopf-Einkommen zwischen den reichen und den armen Ländern, eine Lücke, die heute unvermindert zunimmt." [7] (Hervorhebung durch d.A.)

In der überwiegenden Mehrzahl der kapitalistischen Halbkolonien lag in der jüngeren Vergangenheit das Wachstum unter dem der reichen, imperialistischen Staaten - wenn sie überhaupt wuchsen. So schrumpfte in mehr als der Hälfte der sogenannten Entwicklungsländer zwischen 1980 und 1993 das BIP pro Kopf! Fast 2/3 aller Halbkolonie erlebte in den letzten 35 Jahren zumindest einmal eine Katastrophe in dem Ausmaß wie Frankreich während der großen Weltwirtschaftskrise 1929-33. Diese Entwicklungen bekräftigen in Wirklichkeit also unsere grundlegende Charakterisierung des Imperialismus als eines weltweiten Systems der wachsender Ausbeutung und Ungleichheit auf Kosten der großen Mehrheit der Weltbevölkerung einmal mehr - anstatt sie ins Wanken zu bringen.

 

Sogenannte moderne Sozialdemokraten wie der britische Labourvorsitzende Tony Blair oder auch das österreichische SPÖ-Organ "Zukunft", die sich bewundernd vor dem "dritten Weg" Ostasiens verneigen, seien an folgendes errinnert: Dieses "Wirtschaftswunder" baut auf einer extremen Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiterklasse auf - der Klasse, die die Sozialdemokratie angeblich vertreten will. Die Lohnabhängigen Südkorea z.B. haben eine der längsten Wochenarbeitszeiten der Welt und schuften gleichzeitig unter fürchterlichen Arbeitsbedingungen. Noch 1990 starben 2.336 Menschen bei Arbeitsunfällen, 132.893 wurde schwer verletzt. [8] Südkorea hat weltweit die meisten in Haft sitzender Aktivisten der Arbeiterbewegung und Singapur kommt vermutlich dem Orwell'schen 1984 viel näher als irgendeinem Ideal, für das die europäische Arbeiterbewegung in den letzten hundert Jahren gekämpft hat. Dieser neuerliche Rechtsschwenk der sozialdemokratischen Bürokratie unterstreicht nur einmal mehr ihren zutiefst bürgerlichen Charakter.

 

Doch auch wenn die allgemeinen Schlußfolgerungen bürgerlicher Vordenker und Politiker leicht zu widerlegen sind, so können wir uns nicht damit zufrieden geben. Wir brauchen eine positive marxistische Analyse.

 

III. Kapitalismus in Ost- und Südostasien:

Einleitende Bemerkungen

 

Oft wird seitens bürgerlicher Journalisten oberflächlich vom "aufstrebenden Asien" gesprochen. Tatsächlich jedoch ist eine Differenzierung notwendig. Eine erste Unterscheidung muß zwischen China und den kapitalistischen Ländern des östlichen Asiens getroffen werden - abgesehen davon, daß zwischen den prosperierenden südöstlichen und den stagnierenden nördlichen und westlichen Regionen Chinas selbst differenziert werden muß. Auch wenn die kapitalistischen Elemente immer tiefer in die Ökonomie Chinas eindringen und in den "Sonderwirtschaftszonen" bereits dominant sind, so überwiegt in den Kernbereichen der gesamten Wirtschaft nach wie vor die bürokratische Planung. Wir sprechen daher von China als einem degenerierten, von einer bürokratischen Diktatur beherrschten Arbeiterstaat. Mit der Ausnahme Vietnams und Laos handelt es sich bei den anderen Staaten der Region um kapitalistische, halbkoloniale Staaten (abgesehen natürlich von Japan)

 

Zweitens muß innerhalb der kapitalistischen Staaten selbst zwischen den sogenannten vier NIC's und den anderen Staaten Südostasiens unterschieden werden. Letztere sind Mitglieder der ASEAN - einem politischen und wirtschaftlichen Bündnis - und umfassen Thailand, Malaysia, Indonesien, Brunei, Singapur und die Philippinen. [9] Während die NIC's eine rapide Industrialisierung seit Jahrzehnten erleben, setzte ein beschleunigter Wachstumsprozeß in einigen Staaten des ASEAN-Bündnis erst in den 1980er Jahren ein. Darüberhinaus gehört Singapur auch zu den vier NIC's und sollte vom wirtschaftlichen Entwicklungsgrad nicht mit den anderen ASEAN-Staaten in einen Topf geworfen werden. Aber auch die anderen ASEAN-Staaten haben unterschiedlichen Charakter. Brunei ist ein islamisches Sultanat, daß ohne seine riesigen Erdölreichtum bedeutungslos wäre. Und die Phillipinen sollten aufgrund ihres schwachen Wirtschaftswachstum eher als lahme Ente denn als neuer Tiger bezeichnet werden.

 

Schließlich sollte auch innerhalb der sogenannten NICs differenziert werden - auch wenn es einige Ähnlichkeiten gibt. Singapur ist ein kleiner Stadtstaat und Hongkong eine koloniale Enklave des britischen Imperialismus (und wohl bald Chinas). Beide haben sehr kleine Einwohnerzahlen von knapp 3 bzw. 6 Millionen. Beide dienten aufgrund historischer Umstände als zentrale Handelsumschlagplätze und Finanzzentren des britischen Empires. Das Kapital dieser beiden Staaten befindet sich weitgehend in britischer bzw. sonstiger imperialistischer Hand und somit großer und direkter Abhängigkeit.

 

Südkorea und Taiwan dagegen verdanken ihre Entwicklung zwar auch außergewöhnlichen historischen Entwicklungen, sie sind aber größere Staaten mit einer entwickelten Industrie und einem vergleichsweise eigenständigen Kapital. Auf die notwendige Unterscheidung zwischen Taiwan und Südkorea werden wir weiter unten noch ausführlich eingehen.

 

Wie wir im folgenden zeigen werden, stellen Hongkong und Singapur privilegierte, koloniale (Hongkong) bzw. halbkoloniale (Singapur) Enklaven des Imperialismus dar. Taiwan dagegen charakterisieren wir als einen fortgeschrittenen halbkolonialen Staat. Südkorea entwickelte sich im Grunde genommen ähnlich wie Taiwan und trug daher auch in den letzten Jahrzehnten die Merkmale einer fortgeschrittenen Halbkolonie. Aufgrund spezifischer Entwicklungen, auf die wir unten eingehen werden, befindet sich das Land gegenwärtig - im Unterschied zu Taiwan - in einem Übergangstadium von einem sehr fortgeschrittenen halbkolonialen zu einem imperialistischen Staat. Unsere Untersuchung konzentriert sich daher neben einem allgemeinen Überblick über die Entwicklung und den Charakter der Staaten in Ost- und Südostasien vor allem auf die vier NICs und hier wiederum auf Taiwan und insbesondere Südkorea. Wir haben Südkorea deswegen ausgewählt, da es sowohl auf der Ebene der kapitalistischen Entwicklung als auch des Klassenkampfes das entwickelste Land der Region ist und ermöglicht dadurch ein Studium des kapitalistischen Aufholprozesses in seiner entwickelsten und reinsten Form.

 

Tabelle einfügen über allgemeine Wirtschaftswachstumsdaten der letzten Jahrzehnte.

 

In den nächsten Kapiteln werden die spezifischen Vorbedingungen und Charakteristika der Entwicklung des Kapitalismus in den NIC's darlegen. Dabei gilt es folgendes zu beachten: Es ist keineswegs so, daß jeder einzelne der folgenden Faktoren einzigartig für die Staaten Ostasiens ist. Der eine oder andere ist auch in anderen Halbkolonien der Welt anzutreffen. Was jedoch tatsächlich den Ausnahmecharakter dieser Staaten ausmacht, ist die spezifische Kombination und Bündelung all dieser Faktoren. Diese Kombination erklärt das sogenannte Wirtschaftswunder und holt es aus dem Reich der Mythen - von den "asiatischen Werten" bis zur "brillianten Befolgung marktwirtschaftlicher Grundätze" - auf den Boden der Realität zurück.

 

IV. Das Modell der Kapitalakkumulation

in den fortgeschrittenen Halbkolonien Ostasiens:

Zentrale Vorbedingungen

 

Im wesentlichen spielten zwei historische Vorbedingungen eine bedeutende Rolle für die rapide Industrialisierung der fortgeschrittenen Halbkolonien Ostasiens: die Folgen des Kolonialismus sowie die Landreformen Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre.

 

IV.1. Die Folgewirkungen des Kolonialismus

 

Südkorea und Taiwan waren seit der Jahrhundertwende Kolonien des japanischen Imperialismus [10], Hongkong und Singapur traditionelle Stützpunkte des britischen Kolonialreiches. So wie der Drang nach Profit das Kapital in der Geschichte gezwungen hat, seine gegnerische Klasse - das Proletariat - unablässig zu vergrößern und seine Bildung und Qualifikation zu heben, so zwingt der Drang nach Profit den Imperialismus, seine Kolonien und Halbkolonien in bestimmten Situationen zumindest teilweise wirtschaftlich zu entwickeln.

 

IV.1. Korea und Taiwan:

Die Folgen des japanischen Kolonialismus

 

Die Unterwerfung dieser beiden Länder durch den japanischen Kolonialismus mit den Methoden äußester Brutalität [11] führte zu einem massiven Einschnitt in die sozialen und ökonomischen Strukturen. Nach dem Motto "Landwirtschaftliches Taiwan, industrielles Japan" wurden diese Kolonien völlig auf die Bedürfnisse der Kolonialmacht zugeschnitten.

 

Entsprechend diesem Motto konzentrierte Japan in der ersten Phase seine Anstrengungen darauf, die beiden Kolonien zu produktiven Agrarlieferanten umzustrukturieren. Mit Erfolg: Korea und Taiwan hatten neben British Malaysia den höchsten Außenhandelsanteil in der Region. So gingen 95% der Zuckerproduktion Taiwans und 52% der Reisproduktion Koreas nach Japan. [12] Insgesamt erreicht die wirtschaftliche Integration eine so hohe Intensität, daß Taiwan zwischen 1911 und 1940 85% seiner Exporte nach Japan lieferte und 74% der Importe wurden von dort bezogen. [13]

 

Die Folgen dieser kolonialen Politik waren mehrfach. Erstens zwang die japanische Agrarpolitik viele Bauern, von der Subsistenzproduktion abzugehen und für den kapitalistischen Markt zu produzieren. Viele wurden in eine Pachtabhängigkeit geschleudert [14], viele suchten Arbeit in der Stadt und der Reiskonsum wurde zwischen 1912 und 1936 halbiert(!). Ähnlich der Entwicklung in Westeuropa wurde auf diese brutale Weise die Landwirtschaft in den kapitalistischen Markt integriert. Die spezifische Kolonialpolitik der Japaner brachte eine massive Schwächung der einheimischen Landaristorkratie mit sich [15], denn die Japaner rissen einen Gutteil des Bodens an sich. In Korea z.B. besaßen sie 1942 80% des Waldes und 25% des kultivierten Landes. [16] Drittens machte das Ziel der japanischen Agrarpolitik - die Steigerung der agrarischen Produktivität - eine Reihe von Investitionen in die ländliche Infratsruktur notwendig. Dies führte z.B. dazu, daß Anfang der 1950er Jahre bereits 33% aller Haushalte Taiwans Elektrizität hatten. [17]. Dies sollte sich nach dem Ende der japanischen Herrschaft als vorteilhafte Voraussetzung für die Entwicklung einer modernen Landwirtschaft erweisen.

 

Die konzentrierten Kriegsanstrengungen der herrschenden Klasse Japans führte ab den 1930er Jahren in einer zweiten Phase zu einem Aufbau einer Industrie in Korea und Taiwan (v.a. Nahrungsmittel sowie Ölverarbeitung, Machinen, Schiffsbau). Zu Kriegsbeginn betrug der Industrieanteil Taiwans 18% des GDP, in Korea gar 43%. Noch stärker als die Landwirtschaft dominierte hier das japanische Kapital. 1938 lag in Korea der Anteil des einheimischen Kapitals bei bloß 11% des gesamten Industriekapitals und sank bis 1943 auf nur 3%. Einige wenige japanische Konzerne - 1.2% aller Betriebe - produzierten 60% des gesamten Fabrik-Outputs. [18]

 

Die Folgen dieser Industrialisierung lagen darin, daß Südkorea und Tawian nach der Niederlage des japanischen Imperialismus 1945 einerseits eine relativ entwickelte Industrie vorfand, die noch dazu aufgrund der Flucht der japanischen Eigentümer herrenlos waren und so problemlos von der einheimischen Staatsbürokratie übernommen werden konnten. Andererseits machte die Industrialisierung auch eine gewisse Qualifikation der Arbeitskräfte notwendig. So hatte Taiwan Anfang der 1950er Jahre eine vergleichsweise hohe Alphabetisierungsrate (60%). [19]

 

Zusammengefaßt hatten also die Ziele der japanischen Kolonialherrschaft - produktive Agrar- und Industrieexporteure zu schaffen - sowie die Vertreibung der Japaner nach dem Krieg den von diesen ungewollten Effekt, daß Südkorea und Taiwan Anfang der 1950er Jahre eine relativ entwickelte Landwirtschaft und Industrie vorfanden, die sie noch dazu problemlos übernehmen konnten, da die alten Eigentümer geflüchtet waren. Darüberhinaus brachte diese Modernisierung eine relative Qualifizierung der Arbeitskräfte mit sich.

 

IV.2. Kapitalistische Landreform

 

Eine weitere wesentliche Vorbedingung für die rasche Industrialisierung Südkoreas und Taiwans war die kapitalistische Landreform, die in den beiden Staaten Ende der 1940er und in den 1950er Jahren stattfand. [20] Aus der Geschichte der kolonialen und halbkolonialen Staaten wissen wir, daß es in der Regel nicht zu solchen Landreformen kam, bei denen ein Gutteil der Großgrundbesitzer enteignet und das Land zumindest an einen Teil der Bauern übergeben wurde. Normalerweise verband sich die alte, noch aus feudalen Zeiten stammende Großgrundbesitzerklasse mit der neu aufstrebenden Bourgeoisie und dem Imperialismus und perpetuierte so die extreme Landkonzentration in wenigen Händen. Die führte und führt zu einer massenhaften Verarmung der Bauern, oftmals ohne Land und in Abhängigkeit als Halb- oder Vollpächter, mangelnder Nutzung des kultivierbaren Bodens und somit einer niedrigen agraischen Produktivität. Dies hat die relativ geringe Herausbildung eines nationalen Binnenmarktes und der dementsprechenden Abhängigkeit von Import und Export mit dem imperialistischen Zentren zur Folge. Daher auch die besondere Bedeutung der potentiell explosiven Agrarfrage als eine der ungelösten bürgerlich-demokratischen Aufgaben für die Perspektive der permanenten Revolution in der halbkolonialen Welt.

 

Nur vor dem Hintergrund außergewöhnlicher Ereignisse ist in den halbkolonialen Ländern eine zumindest teilweise Lösung der Agrarfrage möglich. Solche außergewöhnliche Ereignisse war z.B. die Revolution 1911-17 in Mexiko und der damit verbundenen Herausbildung von Landkooperativen. In Südkorea und Taiwan kamen nach dem 2.Weltkrieg mehrere Faktoren zusammen. Erstens verschwand durch den Zusammenbruch der japanischen Kolonialherrschaft ein bedeutender Teil der Großgrundbesitzerklasse (siehe oben). Zweitens übte die revolutionäre Welle von Arbeiter- und Bauernkämpfen v.a. in Korea bzw. die Bürgerkriegssituation in Taiwan einen massiven Druck zur Durchführung von Landreformen auf die herrschende Klasse aus. Dieser Druck wurde vom US-Imperialismus verstärkt, der durch eine Lösung der explosiven Agrarfrage der "kommunistischen Gefahr" begegnen wollten.

 

Die aus diesen Gründen zwischen 1949 und 1953 durchgeführte Agrarreform hatte weitreichende Konsequenzen. Sie schuf auf diese Weise eine breite kleinbürgerlichen Bauernklasse, die zu einem stabilen politischen Faktor für die bürgerlichen, bonapartistischen Regimes wurden. In Taiwan stieg der Anteil der Grundbesitzer an der landwirtschaftlichen Bevölkerung von 38% (1952) auf 67% (1965). [21]

 

Ähnlich die Bedeutung in Südkorea. An diesem Beispiel zeigt sich gerade der klare Klassenunterschied zwischen einer bürgerlichen Landreform und einer proletarischen. Per Gesetz wurde 1949 das Pachtsystem abgeschafft. Die betroffenen Großgrundbesitzer wurden jedoch nicht enteignet, sondern ihnen wurden Bonds gegeben, mittels derer sie Anteile an industriellen Unternehmen erwerben konnten. Auf diese Weise wurden ca. 40% des Landes umverteilt. 1974 waren 70% aller Haushalte Grundbesitzer. [22] Anderen Angaben zufolge liegt der Anteil der landbesitzenden Bauern sogar noch höher. [23]

 

Die USA - der Schutzherr der bürgerlichen Militärregimes in den beiden Ländern - förderte auf verschiedene Weise die kapitalistische Agrarindustrie. Einerseits unterstützten sie massiv die Agrarinvestitionen: Laut Hamilton wurde 59% der agrarischen Netto-Kapitalakkumulation Taiwans wurde durch US-Gelder finanziert. [24] Andererseits zwangen die USA die "vier Tiger" seit den 1950er Jahren mittels des sogenannten PL-480 Programmes, zu einer Umstellung der Agrarproduktion auf Exportprodukte und gleichzeitig zum Import von Agrarprodukten aus den USA. So wurde z.B. durch den systematischen Import von US-amerikanischen Reis die südkoreanische Reisproduktion untergraben und die Eigenversorgungsrate bei Reis von 93% (1962) auf 69% (1973) verringert. [25] Das Resultat war der Ruin vieler einheimischer Agrarproduzenten; Südkorea wurde zum drittgrößten Importeur von US-Agrargütern. [26]

 

Die bürgerliche Landreform brachte aber entscheidende Konsequenzen für die Entwicklungsdynamik des Kapitalismus. Taiwan (und Südkorea in etwas abgemilderteren Form) erlebte in den 1950er Jahren einen enormen Anstieg der agrarischen Arbeitsproduktivität. Diese wuchs in Taiwan zwischen 1955 und 1964 um jährlich 3.7%, in Südkorea um 2.4%. [27] In Taiwan verdoppelte sich die landwirtschaftliche Produktion zwischen 1951-63. Darüber hinaus führte die Kapitalakkumulation im Agrarsektor zu hohen Sparquoten, die wiederum in den industriellen Sektor kanalisiert wurden und somit zur Industrialisierung beitrugen.

 

Die Landreform hatte aber noch einen anderen wesentlichen Effekt. In vielen halbkolonialen Länder, in denen noch keine wesentliche Bodenreform stattgefunden hat, werden durch die rückständigen kapitalistischen, oft noch mit halb-feudalen Elementen behaftete, Agrarverhältnisse viele Arbeitskräfte an diesen Sektor gebunden. In Südkorea und Taiwan dagegen wurde die Veränderungen der Eigentumsverhältnisse eine industrielle Reservearmee geschaffen, die zu niedrigen Löhnen in der Industrie und dem Dienstleistungssektor ausgebeutet wurden. [28] Damit wurde eine weitere wesentliche Voraussetzung für die dynamische Entwicklung des ostasiatischen Kapitalismus geschaffen: die zur Verfügung Stellung des menschlichen Kapitals, der Ware Arbeitskraft.

 

Zusammengefaßt erwies sich die kapitalistische Landreform als für die Bourgeoisie vorteilhaft wegen der Linderung der explosiven Gegensätze am Land, der Schaffung einer breiten kleinbürgerlichen und konservativen Bauernklasse, der Freisetzung einer industriellen Reservearmee für die Industrialisierung sowie die Kapitalakkumulation, die ebenfalls für die wirtschaftliche Modernisierung genutzt werden konnte.

 

Hiermit haben wir die Analyse der beiden Vorbedingungen des hohen und lang anhaltenden kapitalistischen Wachstum - die Erbschaft des japanischen Kolonialismus und Landreform - abgeschlossen und wenden uns nun den Charakteristika des in der bürgerlichen Terminologie bezeichneten "asiatischen Models" oder besser gesagt des Aufschwungs des südkoreanischen und taiwanesischen Kapitalismus seit den 1950er Jahren zu.

 

V. Das Modell der Kapitalakkumulation

in den fortgeschrittenen Halbkolonien Ostasiens:

Spezifische Merkmale

 

Bevor wir hier näher auf die einzelnen Merkmale dieses kapitalistischen Modells eingehen, wollen wir noch einmal folgendes unterstreichen: Was den Kapitalismus in diesen Ländern auszeichnet, spezifisch macht, ist nicht bloß das eine oder andere Merkmal. Das eine oder andere davon kommt auch bei anderen halbkolonialen Kapitalismen vor. Die außergewöhnliche Dynamik des ostasiatischen Kapitalismus kann nur durch das Zusammentreffen, die Kombination sowohl der Vorbedingungen (siehe Kapitel IV) als auch der in diesem Kapitel behandelten Merkmale verstanden werden.

 

V.1. Die Ausbeutung der Arbeiterklasse

 

Wir haben wiederholt von der Kombination mehrerer Faktoren gesprochen, um den kapitalistischen Aufschwung in Ostasien zu verstehen. Die in diesem Kapitel genannten Aspekte sind alle von wesentlicher Bedeutung. Aber für Marxisten besteht kein Zweifel darin, daß ein Faktor besonders hervorsticht: die Ausbeutung der Arbeiterklasse. Die jahrzehntelange enorme Ausbeutung eines ohne Unterbrechung wachsenden Proletariats muß als der Motor des kapitalistischen Wirtschaftswunders bezeichnet werden. Dies müssen verklausuliert auch bürgerliche Ökonomen zugestehen. In einer akademischen Studie für die Weltbank schreibt der neoliberale Ökonom Ranis:

"Sowohl Korea als auch Taiwan konnten auf billige und unqualifizierte, aber leistungsfähige und gebildete Arbeitskräfte zählen, wichtige Bestandteile jeder wettbewerbsfähigen, export-orientierten Entwicklungsdynamik." [29]

 

Ein anderer Weltbank-Ökonom drückt den Zusammenhang von bonapartistischer Diktatur und Ausbeutung der Arbeiterklasse am Beispiel des Mindestlohns aus - natürlich in der diplomatisch-verbrähmten Sprache der Neoliberalen:

"Die Regierungen dieser Länder standen den Forderungen organisierter Arbeitnehmer nach einem gesetzlichen Mindestlohn generell weniger nachgiebig gegenüber als die Regierungen in anderen Entwicklungsländern." [30]

 

Grundlage dieser jahrzehntelangen Ausbe